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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 04/2023
  • Daisy Sibun

Kann ein Leopard seine Flecken ändern? Oder die Weltbank sich häuten?

Die Entwicklungsbank setzt beim sozialen Schutz auf armutsorientierte Programme und verkauft das als "progressiven Universalismus". Das ist irreführend – und geht zulasten von rechtebasierten universellen Lösungen.

Eine Frau erhält Unterstützung in der Stadt Betafo in Madagaskar. Mit Hilfe der Weltbank verteilt die Regierung Cash Transfers an 80.000 bedürftige Haushalte. © Mohammad Al-Arief/The World Bank

Die sich häufenden Wirtschaftskrisen verschärfen weltweit die Ernährungs- und Einkommensunsicherheit, während mindestens vier Milliarden Menschen weiter der Zugang zu Sozialleistungen verwehrt bleibt. Vor diesem Hintergrund ist die Agenda für universellen Sozialschutz dringlicher denn je. Obwohl einflussreiche Entwicklungsakteure – namentlich die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) seit der Unterzeichnung ihrer Partnerschaft USP2030 im Jahr 2015 – auf höchster Ebene einen Konsens zu dessen Förderung erzielt haben, verfolgen diese wichtigen Institutionen in der Praxis nach wie vor radikal unterschiedliche Ansätze.

Dieser Artikel erläutert, wie die Weltbank sich mit dem Konzept des "progressiven Universalismus" zu einem universellen Sozialschutz als "Vision" zwar bekennt, in der Praxis aber weiterhin einen schmalspurigen, auf Armut abzielenden Ansatz empfiehlt und finanziert. Es wird begründet, warum diese konzeptionelle Irreführung für politische Entscheidungsträger im Bereich der sozialen Sicherung von Bedeutung ist, und er fasst die Ergebnisse eines ausführlicheren Berichts zusammen, der gemeinsam von den Organisationen Development Pathways,  Act Church of Sweden und Action Against Hunger erstellt wurde.

Universeller Schutz als "Vision" – Praxis hält nicht mit

Für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) stand der universelle Sozialschutz stets im Mittelpunkt ihres Mandats, und sie hat Normen wie die Empfehlung Nr. 202 (R202) über die soziale Grundsicherung entwickelt, um Ländern bei der Erreichung dieses Ziels Orientierung zu geben. Die Weltbank hingegen verfolgte in der Vergangenheit eine andere Herangehensweise: Sie vergab vielfach Kredite an Länder für Programme, die sich nur gezielt an die "Ärmsten" der Gesellschaft richten – und bei denen in den intendierten Zielgruppen zugleich hohe Ausschlussquoten zu beklagen sind.

Wohl hat die Bank sich seit 2015 im Rahmen ihrer USP2030-Partnerschaft öffentlich für den universellen Sozialschutz ausgesprochen, sie fördert aber nach wie vor ausschließlich ein für Regierungen eng zugeschnittenes Modell der Programmgestaltung. Oft wird dieses Modell zulasten von alternativen Lösungen sogar vorangetrieben. Der Konsens innerhalb der Bank, die Armutsorientierung zu bevorzugen, ist so stark, dass er sogar darauf hinauslief, universelle Systeme, die Regierungen einführen oder ausbauen wollten, (mit anderen internationalen Finanzinstitutionen) aktiv zu untergraben.

Eine schwangere Textilarbeiterin auf den Philippinen. Zu einer wirksamen sozialen Sicherung gehört auch eine Krankenversicherung oder Mutterschutz. © E. Tuyay / ILO

So wurde beispielsweise der Mongolei von der Weltbank und dem IWF gedroht, es würden Kredite zurückgehalten, wenn ihr populäres universelles Kindergeld, das Child Money Programme (CMP), nicht gezielt eingeführt würde. Die Regierung gab schließlich nach und schuf 2016 ein Programm für 60 Prozent der Kinder. Nach einer kurzen siebenmonatigen Phase der Rückkehr zur universellen Anwendung 2017 richtet sich das Kindergeldprogramm nun an 80 Prozent der Kinder und ist im wesentlichen einkommensabhängig. Weitere Beispiele für die Aushöhlung universeller Programme in Kenia, Kirgisistan, Lesotho, Nepal, Mauritius, Marokko, Mosambik, Namibia und Thailand sind auf S. 47-49 im vollständigen Bericht zu finden.

"Progressiver Universalismus" als vermeintliche Brücke

Die Weltbank versucht, diese Kluft zwischen ihrer Billigung von universellen Programmen und ihrem tatsächlichen Ansatz zu überwinden, indem sie neue Definitionen von Schlüsselbegriffen eingeführt hat. Ein solches ist der "progressive Universalismus", der auf der Idee der "progressiven Verwirklichung" aufbaut, einem Menschenrechtsprinzip, wonach die Länder ihre Systeme im Laufe der Zeit schrittweise aufbauen und erweitern sollten, und zwar in Übereinstimmung mit ihren finanzpolitischen Zwängen, aber unter Einsatz der maximal möglichen Ressourcen.

Das Verständnis der Bank von "progressivem Universalismus" liefert jedoch eine besondere Neuauslegung dieses Konzepts. Sie verwendet den Begriff, um eine Priorisierung auf die Ärmsten und Schwächsten zu vertreten, mit dem (vermeintlichen) Ziel, irgendwann eine universelle Deckung in der sozialen Sicherheit zu erreichen – allerdings ohne klare Strategie, wie die beiden radikal verschiedenen Ansätzen zu vereinbaren wären (World Bank, 2022: Abs. 88). In Wahrheit scheint das Konzept des "progressiven Universalismus" der Rechtfertigung zu dienen, so weiterzumachen wie bisher.

Wird jedoch die begriffliche Unterscheidung zwischen armutsorientierten und universellen Leistungen durch die Einführung neuer Definitionen von Schlüsselbegriffen derart verwischt, dann besteht die Gefahr, dass sowohl die Evidenz für die Unwirksamkeit der Armutsorientierung als auch die Grundprinzipien der universellen Agenda für sozialen Schutz in den Hintergrund geraten.

Weltbank fördert gescheiterten Ansatz

Es gibt vor allem vier entscheidende Gründe, warum der armutsbezogene Zielgruppenansatz zum Scheitern verurteilt ist.

Im Kern ist ein auf Arme ausgerichteter Ansatz von Natur aus exkludierend. Gemäß diesem Paradigma der "Armutslinderung" wird nur wenig Wert darauf gelegt oder kreativ darüber nachgedacht, wie inländische Ressourcen mobilisiert werden können, um größere Investitionen in den sozialen Schutz zu finanzieren. Dabei sind die Regierungen verpflichtet, sich an den Menschenrechtsgrundsatz des "Einsatzes der maximal verfügbaren Ressourcen" zu halten, um ihre Bemühungen zur Umsetzung des Rechts auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard so glaubwürdig wie möglich zu gestalten.

Tatsächlich hat die Bank selbst bereits im Weltentwicklungsbericht von 1990 erkannt, dass die politische Ökonomie der Zielgruppenorientierung zur Folge hat, dass armutsorientierte Programme im Laufe der Zeit kaum ausgeweitet werden und sogar mangels öffentlicher Akzeptanz aussterben können. Internationale Erfahrungen lassen darauf schließen, dass universelle und armutsbezogene Programme völlig unterschiedliche Verläufe in Qualität und Nachhaltigkeit nehmen.

Universelle Programme sind beliebt und die Regierungen folglich eher bereit, sie zu finanzieren. Wenn alle Bürger Anspruch haben, sobald sie sich in einer Krise wiederfinden, sind sie auch eher bereit, Steuern für universelle Modelle zu zahlen. Dagegen lassen auf Bedürftige zielende Programme die Mehrheit der Gesellschaft außen vor und lenken, wie Sen (1995) und Mkandawire (2005) argumentiert haben, die Mittel in die schwächsten Gruppen. Dementsprechend haben armutsorientierte Programme in der Regel keine starke politische Unterstützung.

Die Weltbank stützt dennoch ihren Glaubenssatz des "progressiven Universalismus" auf die Behauptung, die sie selbst widerlegt hat, nämlich dass Programme zugunsten der Armen die nötige politische Rückendeckung finden werden, um allmählich zum Universalprogramm zu avancieren. Die Verkennung dieser grundverschiedenen politisch-ökonomischen Charakteristika der beiden Zugänge untergräbt jedoch die Glaubwürdigkeit des gesamten "progressiven Universalismus" als Weg zum Ziel eines universellen Sozialschutzes.

Nichtsdestotrotz argumentiert die Weltbank, dass der "progressive Universalismus" ein geeigneter Kurs zum Aufbau universeller Sozialschutzsysteme ist und daher mit R202 im Einklang steht. In Wirklichkeit leisten armutsorientierte Programme zwar einen kleinen Beitrag zu universellen Systemen, aber sie taugen nicht dazu, allen Bürgern Zugang und das Recht auf sozialen Schutz zu gewährleisten. Dennoch forciert die Bank fast ausschließlich armutsbezogene Strategien.

Kein Kurs auf universelle Deckung

Letztlich liegt das Scheitern des "progressiven Universalismus"-Modells der Weltbank schon darin, dass sie überhaupt unterschiedliche Ansätze priorisiert und in sie investiert, um bestenfalls Systeme für universellen Schutz zu entwickeln. Nach Ansicht der Weltbank ist der befürwortete armutsorientierte Ansatz ein Weg dahin und steht somit in Einklang mit R202. In Wirklichkeit können armutsorientierte Programme zwar eine bescheidene Rolle bei der Festigung universeller Systeme spielen, sie eignen sich jedoch nicht dazu, den Zugang zu und das Recht auf Sozialschutz für alle zu verwirklichen. (In Neuseeland können Menschen z.B. nach Bedürftigkeit ergänzend Wohngeld beantragen, wenn sie zu ihrem Anspruch auf universelle lebenslange Leistungen zusätzliche Unterstützung benötigen.)

Arbeiter trocknen Farbpigmente am Straßenrand in Myanmar. Tagelöhner sind ohne Schutz. © Marcel Crozet / ILO

Von armutsorientierten Programmen kann nicht glaubhaft erwartet werden, dass sie die Fundamente für ein wirksames universelles System liefern. Tatsächlich erreichen sie nicht einmal ihre vorgesehenen eng angelegten Zielgruppen. Trotzdem propagiert die Bank fast ausschließlich armutsorientierte Programme: Der Ansatz des "progressiven Universalismus" bevorzugt das armutsorientierte Konzept als Mittel zur Gestaltung eines Systems, statt es als kleine Ergänzung zu größeren Kernprogrammen für den gesamten Lebenszyklus zu sehen. Den Preis zahlen letztlich Regierungen, die für die Einführung oder Stärkung von Leuchtturmvorhaben für den vollen Lebenszyklus, die glaubwürdig zu einer universellen Grundsicherung führen können, keine Förderung bekommen.

Warum ist das wichtig?

So ermutigend es ist, dass der universelle Sozialschutz bei den einflussreichen internationalen Entwicklungsakteuren einen Konsens gefunden hat, so groß ist doch die Gefahr, dass er zu einem so weit gefassten Oberbegriff geworden ist – und dem Hauptzweck von R202 gar nicht mehr gerecht wird: nämlich als Standard und Orientierungshilfe für Regierungen, um das Recht der Bürger auf sozialen Schutz zu erfüllen. Es ist wichtig, Klarheit über die Unterschiede zwischen verfügbaren Optionen zu schaffen. Es mag kleinlich anmuten, sich auf Begrifflichkeiten zu fixieren, aber Gebrauch oder Missbrauch wichtiger rechtebasierter Terminologien kann entscheidende politische Konsequenzen haben.

Die 189 Mitgliedsländer unterstützen als Hauptanteilseigner der Bank auch ihren Ansatz eines eng auf Armut abzielenden Programmdesigns, obwohl es an überzeugenden Argumenten fehlt, wie dies glaubhaft mit einer umfassenderen universellen Sozialschutzagenda zusammengeht. Das legt nahe, dass die Mitglieder des Verwaltungsrats womöglich nicht verstanden haben, dass die Bank einen gescheiterten Ansatz fördert, der dem allgemeinen Sozialschutz gar nicht sinnvoll verpflichtet ist. Vielleicht verstehen sie auch nicht, dass es noch andere Wege gibt, Länder bei der Entwicklung von Sozialschutz zu unterstützen.

Wenn sie für die Zukunft wirksame nationale Sozialschutzsysteme aufbauen wollen, müssen internationale Organisationen wie die Weltbank – und die Regierungen der Geberländer mit dem meisten Einfluss als Hauptaktionäre – gewährleisten, dass sie sich über die Evidenz und die konzeptionellen Unterschiede der verfügbaren politischen Optionen im Klaren sind. Zwar können armutsorientierte Programme einen bescheidenen Beitrag zu universellen Systemen leisten, doch besteht die Gefahr, dass Konzepte wie der "progressive Universalismus" die Trennlinie zwischen einem armutsorientierten und einem rechtebasierten universellen Ansatz verwischen.

Letztendlich werden die Wahrung begrifflicher Klarheit und der Austausch von Erkenntnissen über Nutzen und Schwächen von Ansätzen (und die Bereitschaft, dafür offen zu sein) eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung eines universellen Sozialschutzes spielen, wenn die Akteure gemeinsam an einer so wichtigen und anspruchsvollen globalen Agenda arbeiten.

Quellen:

Mkandawire, T. (2005). Targeting and universalism in poverty reduction. Social Policy and Development, 23. Geneva, UNRISD.

Sen, A. (1995) The Political Economy of Targeting. In Public spending and the poor: theory and evidence by D. van de Walle & K. Nead (Eds.) World Bank, The John Hopkins University Press: Baltimore.

World Bank (1990). World Development Report, 1990: Poverty. Washington D. C., World Bank.

World Bank (2022) Draft IDA replenishment report.  Washington, D. C., World Bank.

Daisy Sibun Development Pathways, UK
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