Brasilien und seine soziale Sicherung: Alte Probleme und neue Herausforderungen
Das soziale Sicherungssystem ist anfällig für politische und finanzielle Volatilität – und weist chronische Lücken auf. Ein Blick in die Geschichte zeigt: strukturelle Probleme setzen sich fort.
Auch nach Jahren politischer Instabilität, Demontage und Einschränkungen im Gesundheits- und Sozialwesen kämpfen Teile der brasilianischen Gesellschaft und Politik weiterhin für inklusivere und gerechtere Sozialschutzsysteme. Sie dienen dazu, alle Bürger*innen des Landes vor individuellen Lebenskrisen und ihren wirtschaftlichen Folgen zu schützen. Diese Schutzmechanismen sind als staatliche Sozialprogramme und Versicherungen oder als informelle familiäre oder gemeinschaftliche Netzwerke der Unterstützung organisiert. Ein Blick in die Geschichte der sozialen Sicherungssysteme Brasiliens verdeutlicht jedoch die Ursprünge seiner Exklusionspraktiken. Die gegenwärtige Situation ist also kein neues Phänomen, sondern eine Fortsetzung struktureller Probleme.
Wohlfahrt und Populismus
Zwischen 1889 und 1945 erlebte Brasilien eine Zeit großer sozialer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen, als die Agrarexportwirtschaft durch die städtisch-industrielle Ökonomie allmählich ersetzt wurde. Einige der Maßnahmen, wie die Institutionalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die heute markante Bestandteile der brasilianischen Sozialschutzsysteme sind, gehen auf paternalistische und populistische Maßnahmen des Staates zurück. Andere Dienste wurden hingegen von religiösen Wohlfahrtsaktionen entwickelt, wie die Einrichtungen der „Santa Casas“ mit ihren Krankenhäusern und Sozialzentren in Großstädten. In dieser Zeit bis zum Ende der Militärdiktatur (1964-1985) blieben allerdings viele Arbeitnehmer*innen von den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen, wie zum Beispiel Landarbeiter*innen, Hausangestellte, schwangere Frauen, stillende Mütter und Selbstständige.
Bis in die 1970er Jahre war beispielsweise das Rentenversicherungssystem weitestgehend nur für formell Beschäftigte zugänglich und nicht für Arbeitslose oder Menschen, die außerhalb des formellen Arbeitsmarktes arbeiteten. Die Mechanismen des Sozialschutzes in der städtisch-industriellen Wirtschaft Brasiliens erfüllten kurzum zwei Funktionen: Sie sicherten einerseits den Prozess der Akkumulation von Produktionsfaktoren und boten andererseits Schutz für die formell Beschäftigten und ausgebeuteten Arbeiter*innen, um einen reibungslosen und möglichst konfliktfreien Industrialisierungsprozess („Zeit des Wirtschaftswunders“) zu gewährleisten.
Neue Verfassung und Träume einer inklusiveren Sozialpolitik
Erst durch den Mobilisierungsprozess der zivilgesellschaftlichen Akteure in den 1980er Jahren im Zuge der Re-Demokratisierung eröffneten sich neue Perspektiven. Mit der Verfassung von 1988 gab es erstmals ein umfassenderes Modell der sozialen Sicherheit. Mit ihr wurde versucht, die traditionellen klientilistischen und korporatistischen Grenzen zu überwinden, die das staatliche Handeln im sozialen Bereich seit jeher kennzeichneten.
Bereits mit der Gründung des Nationalen Instituts für Soziale Sicherheit (INSS) im Jahr 1990 und der Ausweitung der medizinischen Notversorgung auf die gesamte Bevölkerung (Art. 196-200 der Verfassung) sowie der Erweiterung der Grundbildung (Art. 205) wurden erste universalisierende Tendenzen erkennbar. Zusätzlich wurden die Gleichwertigkeit der Leistungen und Dienste zugunsten der städtischen und ländlichen Bevölkerung im Verfassungstext verankert sowie die Vielfalt der Finanzierungsformen und die Einführung demokratischer Verwaltungsmechanismen.
Es wurde beispielsweise der Arbeitslosenfonds (FGTS) eingerichtet und umsatzabhängige Sozialabgaben bei Warenimporten (PIS/PASEP) und ein Sozialversicherungsbetrag (CONFINS) eingeführt, neben der Gewinnsozialabgabe (CSLL) bis heute die wichtigsten Finanzierungsquellen dieses Systems. Die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems war als ein Rundum-Sorglos-Paket gedacht, bei dem alle – Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der Staat – in einen Topf einzahlen sollten. Allerdings gibt es nach wie vor eine Reihe von Ausnahmen, die Unternehmen von der Zahlung von Sozialabgaben befreien. Das bisherige System der sozialen Sicherheit und Sozialhilfe in Brasilien hat daher nur eine begrenzt umverteilende Wirkung.
Haushaltssperre: Abschied von der Sozialpolitik?
Die Verfassung von 1988 betont in Art. 194 die Bedeutung der sozialen Sicherheit und definiert ihre drei Säulen. Art. 196 hebt als erste Säule die Gesundheit als universelles Recht hervor, unabhängig von der Höhe der eingezahlten Sozialbeiträge. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde neben anderen Maßnahmen das kostenfreie „Einheitliche Gesundheitssystem“ (SUS) gegründet.
Als zweite Säule soll die Sozialhilfe ergänzend die Grundbedürfnisse der Bürger*innen (Art. 203-204) abdecken. Sie wird ebenfalls unabhängig vom individuell entrichteten Beitrag zur sozialen Sicherheit gewährt. Das wichtigste und umfangreichste Instrument der Sozialhilfe ist das Sozialhilfeprogramm Bolsa Família. Es vereinigte 2003 die bestehenden Programme Bolsa Escola, Bolsa Alimentação, Cartão Alimentação und Auxílio Gás. Bolsa Família unterstützt heute rund 21 Millionen Familien mit einer durchschnittlichen Transferleistung von 120 Euro (670 Reais) im Monat. Ergänzend bekommen rund 4,5 Millionen Bürger*innen über 65 Jahre sowie Menschen mit Behinderungen, die vom Arbeitsmarkt teilweise ausgeschlossen sind, eine monatliche Unterstützung (Benefício de Prestação Continuada).
Die dritte Säule beinhaltet die Rentenversicherung (Art. 201-202), die auf Pflichtmitgliedschaft und -beiträgen beruht. Im November 2022 erhielten laut dem Statistischen Bulletin der Sozialversicherung insgesamt 37,5 Millionen Bürger*innen Renten, Pensionen und Beihilfen.
Die Umsetzung des Drei-Säulen-Modells ist nach wie vor geprägt von politischer Zersplitterung, Klientelismus und Korruption, die auch die Wirksamkeit der Sozialpolitik direkt beeinflussen. Die wirtschaftliche Stabilität in den Jahren 1995-2002 und später 2003-2013 basierte auf Austerität Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Einschneidende und verheerende Änderungen wie die desaströsen „Rentenreformen“ von 2003 oder 2019 widersprechen den oben beschriebenen Verfassungsvorgaben. Auch heute wird die Sozialpolitik immer noch den makroökonomischen Zielen untergeordnet. So verhindert die im Jahr 2017 vom Parlament beschlossene ungewöhnlich lange 20-jährige Haushaltssperre dringende Investitionen in Gesundheit, Soziales und Bildung.
Das Prinzip Hoffnung
Trotz anhaltender Rückschritte gibt es einen Konsens darüber, dass Programme zur Armutsbekämpfung wie Bolsa Família dringend notwendig sind. Das ist besonders wichtig, da sich die sozioökonomischen Probleme im Zuge des Pandemie-Managements und seiner unmittelbaren Auswirkungen weiter verschärft haben. In nur 20 Jahren hat das Programm in Höhe von 0,3-0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die extreme Armut und die Kindersterblichkeit reduziert, die Bildungschancen für Frauen verbessert und die regionalen Unterschiede im Land verringert. Zudem hat es mit flankierenden Maßnahmen, wie dem Pflichtkauf von Nahrungsmitteln aus bäuerlicher Familienproduktion (PAA), die Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit der ärmsten Bevölkerungsschichten signifikant verbessert.
Lösungen mit Grenzen
Die Bolsa Família ist weiterhin entscheidend für die Bekämpfung der extremen Armut, das Programm hat aber auch seine Grenzen. So wird kritisiert, dass die Ausrichtung der Leistungen auf Frauen dazu führt, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung und die damit verbundenen sozialen Rollen weiter verfestigt und Frauen mit Haus- und Betreuungsarbeit überlastet werden. Außerdem reichen die gewährten 120 Euro (670 Reais) pro Monat insbesondere zu Inflationszeiten nicht aus, um den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. Die Wartezeit für anspruchsberechtigte Familien zu verkürzen, bleibt zudem ein wichtiges Problem, das dringend angegangen werden muss.
Viele Brasilianer*innen müssen am Ende des Monats auf Kreditkarten zurückgreifen, um Lebensmittel zu kaufen. Die Zahl der zahlungsunfähigen Brasilianer*innen ist von rund 60 Millionen im Januar 2018 auf 70 Millionen im Januar 2023 gestiegen. Diese Probleme sind nicht dem Bolsa Família-Programm anzulasten, sondern verlangen nach anderen politischen Maßnahmen, um den Schulden- und Armutskreislauf vieler Menschen zu durchbrechen. Geldtransferprogramme allein reichen nicht aus, um die tief verwurzelte Ungleichheit in der brasilianischen Gesellschaft zu überwinden.
Eine für Mai geplante Anhebung des Mindestlohns auf monatlich 1.320 Reais (239 Euro) ist nur eine von vielen notwendigen Abhilfen. Auch die Art der Einkommensbesteuerung trägt zur sozialen Ungleichheit bei. Bereits 1996 wurde die Besteuerung von Gesellschaftern und Aktionären, die Gewinne und Dividenden von Unternehmen erhalten, in Brasilien eingestellt. Somit gehört das Land zu einer kleinen Gruppe von Ländern, die diese Einkünfte an Privatpersonen nicht besteuert. Eine seit der Verfassung von 1988 geplante Vermögenssteuer wurde nicht umgesetzt. Brasilien hat außerdem eine der niedrigsten Erbschaftssteuern weltweit – der Steuersatz variiert je nach Bundesstaat von ein bis acht Prozent des Nachlasswertes – und eine der umfangreichsten Listen von Steuerbefreiungen..
Im brasilianischen Steuersystem gibt es zudem eine bizarre Regel: Schon bei einem Monatseinkommen von 4.664 Reais (844 Euro) greift der Spitzensteuersatz von 27,5 Prozent. Das bedeutet, dass bei einem Monatseinkommen von etwa vier Mindestlöhnen (5.280 Reais) genauso viel Einkommensteuer zu zahlen ist wie von leitenden Angestellten, die mit 55.000 Reais ein Vielfaches mehr verdienen.
In der Praxis bleiben Millionen außen vor
Es ist paradox, dass Brasilien zwar sozialpolitische Maßnahmen verfassungsrechtlich garantiert, aktuelle Wirtschafts-, Steuer- und Konjunkturpolitik aber ihre Umsetzung beeinflussen. Wirtschaftskrisen und politische Instabilitäten stellen kontinuierlich soziale Rechte in Frage. Der vollwertige Zugang zum sozialen Sicherungssystem variiert je nach beruflicher Stellung und lässt in der Praxis viele Menschen im informellen Sektor – und das sind 39 Millionen – sowie Landarbeiter*innen außen vor.
Die Situation vieler Landarbeiter*innen (trabalhadores rurais) ist prekär. Aufgrund geografischer Isolation, einem niedrigen Bildungsstand und wirtschaftlicher Benachteiligung leiden viele von ihnen unter physischen und psychischen Problemen wie Angstzuständen und Depressionen. Die hohe produktive Belastung und Auswirkungen der extensiven und umweltschädigenden Agrarindustrie mit hohem Pestizideinsatz ohne angemessenen Schutz verschlechtern ihre Lage zusätzlich. Etwa 60 Prozent der Landarbeiter*innen arbeiten entweder ohne Steuerkarte oder in Scheinselbständigkeiten. Die ausbeuterische Praxis des Outsourcing auf dem Land bietet außerdem Raum für sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse. Allein im vergangenen Jahr wurden rund 2.000 sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse bei Landarbeiter*innen festgestellt, was einem Anstieg von 26,7 Prozent im Vergleich zu 2021 und rund 230 Prozent im Vergleich zu 2020 entspricht.
Dies zeigt, dass der brasilianische Staat bislang nicht in der Lage oder nicht gewillt war, die volle Verantwortung für den sozialen Schutz weiter Teile der Bevölkerung zu übernehmen. Entsolidarisierungstendenzen, politischer Extremismus und gesellschaftliche Gleichgültigkeit machen deutlich, dass die aufgezeigten Probleme als Folge individueller Unfähigkeiten und nicht als Folge des Organisationsmodells der Gesellschaft betrachtet werden. Die Hölle, das sind immer die anderen. Ob sich unter der neuen Regierung etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.