Steht die deutsche Sahel-Politik am Wendepunkt?
Eine strategische Umorientierung der Außen- und Entwicklungspolitik ist überfällig. Aber "regierungsferne" Unterstützung in Putschländern bedeutet noch keine "Dekolonisierung" im Sinne von Autonomie.
In diesen Wochen im Sommer 2024 sind sich staatliche deutsche Akteure und Kommentatoren einig, dass sich die Sahelpolitik, mindestens aber die Entwicklungspolitik an einem „Wendepunkt“ befindet. Die Militärputsche in Mali, Burkina Faso und Niger haben die Geschäftsgrundlage verändert, und die normale zwischenstaatliche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) funktioniert nicht mehr. Die Wahrheit ist: die Außen- und Entwicklungspolitik ist schon lange vorher an diesem Wendepunkt angekommen. Der Staatszerfall hatte angesichts der terroristischen Bedrohung lange vor den Staatsstreichen ein Ausmaß angenommen, das eine strategische Umorientierung längst erfordert hätte, wie der Sahel-Ausschuss der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland VAD seit Anfang 2020 fordert – nämlich eine Umkehr der Akteursperspektive.
Deswegen sind interministerielle Streitereien in Berlin, wieviel offizielle Anerkennung man den Militärregimen geben will, herzlich sekundär. Natürlich muss man mit diesen Regimen einen Modus Vivendi finden, wenn man in der Region – worüber sich auch fast alle einig sind – weiter kooperieren will. Das Problem liegt tiefer.
Fokus Sahel, der Zusammenschluss in der Region tätiger deutscher NRO, zu dem auch die Welthungerhilfe gehört, hat im Juli eine Fachtagung in Berlin abgehalten, die sich unter Beteiligung einer großen Zahl von TeilnehmerInnen aus der Region dem Thema „Dekolonisierung“ der EZ im Sahel widmete – mit seinem Zwillingsbegriff, der sogenannten „Lokalisierung“, im Sinne des Einlassens auf lokale Verhältnisse. Misereor etwa unterhält seit Jahren einen hausinternen Diskussionsprozess zur Dekolonisierung der Hilfe.
Die Sache ist mehrschichtig. Zum einen gibt es seit Jahren eine globale Debatte, die sich der Localisation of Aid und ihren Modalitäten widmet – angesichts der kritischen Wahrnehmung, dass EZ-Prozesse und -Prioritäten immer noch im globalen Norden oder Westen bestimmt werden. Ausgerechnet der "Economist" hatte diese Debatte im vergangenen Jahr prägnant zusammengefasst. Wie dort treffend festgestellt wurde, ist der Zug zur Localisation auch der Pendelausschlag gegen den vorherigen Trend, die Kontrolle über Entwicklungsprojekte mit immer strikterer Evaluierung sicherzustellen.
Es geht – in Kürze – also um das Loslassen (können). So verstanden, ist Dekolonisierung von Hilfe also kein linksradikaler Kampfbegriff, ebenso wenig wie Dekolonisierung internationaler Wirtschaftsbeziehungen, sondern ein politisches Desideratum mit einem harten praktischen Kern. Weit gediehen ist die EZ-Reform in diesem Sinn in der Praxis nicht.
Zum anderen erfordert die besondere Lage im Sahel – und hier vor allem das krachende Scheitern des postkolonial ausgelegten Agierens der Vormacht Frankreich – spezifische Anstrengungen, Zusammenarbeit grundsätzlich anders aufzustellen – eben zu „dekolonisieren“. Das betrifft zuvorderst das Verhältnis zum Staat bzw. zu dem, was von staatlichen Strukturen gerade im ländlichen Raum noch übrig ist. Unterstützung für eine wie auch immer geartete „Rückkehr des Staates“ ist viel zu unpräzise, oder direkt kontraproduktiv. Es gibt genug empirische Evidenz, dass Bevölkerungen auf dem Land diesen Staat postkolonialer Prägung gar nicht zurückhaben wollen, sondern einen anderen, bürgernahen. Programme zur Stärkung lokaler Regierungsführung müssen dem Rechnung tragen.
Förderung der Dezentralisierung war jahrzehntelang ein Flaggschiff deutscher technischer Zusammenarbeit in Burkina Faso und Mali, mit ingeniösen Ansätzen und fantastischen lokalen Führern wie Antoine Sawadogo (Burkina) oder Ousmane Sy (Mali). Es ist Teil der großen Tragödie im Sahel, dass diese Ansätze von den alten zivilen Regierungen immer dann sabotiert worden sind, wenn sie auf reelle, lokale Finanz- und Personal-Autonomie hinausgelaufen wären und sich somit der zentralistischen Kontrolle nach dem Muster der 5. Französischen Republik entzogen hätten. Denn die hat bei der Gründung der westafrikanischen Staaten weitherum Pate gestanden. Eine Wiederauflage von Dezentralisierungsförderung darf nicht ausgerechnet die Rückkehr des alten, unitären Zentralstaates unterstützen, der multiethnischen Gesellschaften a priori entgegensteht.
Auch auf Sektorebene sollten die artikulierten Bedürfnisse lokaler nichtstaatlicher Akteure Priorität bekommen, selbst wenn sie „uns“ nicht unbedingt gefallen. In den riesigen vom islamistischen Terror erfassten Gebieten müssen diese autonom bestimmen können, mit welchen bewaffneten Gruppen verhandelt werden darf. Lokale Friedensgespräche erscheinen nicht als politisches Allheilmittel, aber als die aussichtsreichste Form, gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherzustellen. Subtext: auch wenn dies dem noch von Paris verhängten Dialogverbot mit Islamisten zuwiderliefe, das die Militärregime paradoxerweise weiterführen.
"Regierungsfern" ist weit von Lokalisierung entfernt
Da der Staatszerfall im Sahel einigermaßen offenkundig ist, haben sich auch deutsche politische Akteure, in Sonderheit das BMZ, die Forderung zu eigen gemacht, vermehrt auf „regierungsferne“ Akteure zu setzen. Das kling gut und geht natürlich in die richtige Richtung, ist aber bei genauer Betrachtung nur mehr vom Selben und noch weit von reeller „Lokalisierung“ entfernt. Eine Autonomie der Zielsetzungen und Praktiken vor Ort, unterfüttert durch (die in der globalen Debatte geforderte) Autonomie der Mittelverwendung und des Personaleinsatzes, ist noch lange nicht gegeben. Mittelzuweisungen erfolgen immer über staatliche oder nichtstaatliche Einrichtungen der Geber, die in der Region präsent sind und die Kontrolle über die Gelder behalten. Vergabeverfahren sind auf allen Ebenen diejenigen der Geber. Organisationen wie das Kinderhilfswerk UNICEF oder das Ernährungsprogramm WFP freundlich als „Partner vor Ort“ auszuflaggen, ist Augenwischerei.
Lokale "offene Fonds" sind hiesigen Wissens noch niemandem im Sahel angeboten worden. Offene Fonds sind naturgemäß auch von Korruption bedroht, aber als eine Form von Unconditional Cash Transfers – dann auf Gruppenebene – nicht grundsätzlich mehr gefährdet als diese verbreitete Bargeldhilfe an Familien.
In guten Momenten wird vom BMZ zugegeben oder, besser gesagt, postuliert, dass das deutsche Haushaltsrecht weitergehenden autonomen Lösungen entgegenstehe. Das ist eine erstaunliche Feststellung angesichts der Milliarden-Summen, die in der internationalen bi- und multilateralen Hilfe zu zweifelhafter oder gar nicht auffindbarer Verwendung geführt wurden. Das Haushaltsrecht wird hier zu einem höheren Wesen hypostasiert, gegen das schwer anzugehen ist. Es ist wie mit der GGO – der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung – zu der dem Autor schon bei seinem Antrittsbesuch im BMZ 1985 mit wissendem Augenaufschlag erklärt wurde, sie stünde nun einmal striktem interministeriellen Politikabgleich entgegen – heute etwa zur Afrika- oder konkret zur Sahelpolitik relevant.
Auffällige Zurückhaltung
Nun sind afrikanische Organisationen oder Intellektuelle an derlei Denkverbote nicht gebunden. So hätte eine zivilgesellschaftliche Fokus-Sahel-Tagung im Juni in Berlin die Plattform sein können, um die Dekolonisierung der Sahelpolitik rigoros einzufordern. Tatsächlich lieferte sie auf fachlichen Teilgebieten, gerade in der Landwirtschaft des Sahel, wo der Regenfeldbau sich in offener Existenzkrise befindet, einen großen Reichtum an Anregungen. Dass die TeilnehmerInnen aus der Region, viele davon zugeschaltet aus ihren Hauptstädten Bamako, Niamey, Ouagadougou und N‘Djamena, zudem mit Kritik an ihren eigenen Militär-Regierungen meist zurückhaltend waren, ist angesichts der Verhältnisse mehr als verständlich. Wobei durchaus Kontroversen aufschienen, wieviel politischer Kredit besonders dem Militärregime in Mali zu geben wäre.
Aber diese freundliche Zurückhaltung hätte gegenüber der deutschen bzw. westlichen Seite nicht gelten müssen. Wenn man die Abschlussdiskussion als pars pro toto nimmt, dann stand dort im Hause deutscher NRO ein veritabler Elefant im Raum, größer als die ganz wenigen, die es überhaupt noch im Sahel gibt. Die ausnehmende Höflichkeit der angereisten Teilnehmer gebot, das Mantra vom guten Ruf und der Verlässlichkeit der Deutschen zu wiederholen. Das mag noch hingehen. Doch dass die vermeintliche Zeitenwende in der Sahelpolitik keineswegs zu radikaler Anpassung an die staatsfernen lokalen Realitäten geführt hat – und insofern die angedachte Dekolonisierung stockt –, wurde nicht deutlich genug kritisiert. Die tatsächliche Schieflage einer vielfach beschworenen Partnerschaft „auf Augenhöhe“ stand nicht zur Debatte.
Dabei ist ein besonders gutes Prüfkriterium für die Wende in der deutschen Sahelpolitik das Verhältnis zu Frankreich. Frankreich hat im Sahel aufgrund eigener Arroganz in seinem militärischen und zivilen Agieren in der Region massiv Kredit und Vertrauen verspielt. Sich den massiven, jedoch diskret vorgetragenen Forderungen aus Paris weiterhin zu beugen, vor allem, was die Sanktionierung der Militärregime angeht, ist das Gegenteil einer Abkehr von postkolonialen Dispositiven. Und das wird in der Region auch so wahrgenommen. Bei allen unnötigen Verwerfungen im deutsch-französischen Verhältnis auf anderen Ebenen ist es unfassbar, dass in der Westafrika-Politik zwischen Berlin und Paris nach wie vor kein Blatt passt.
Lokalisierung in Krisenkontexten möglichUnd zum Schluss: Dass auch eine dezidiert werteorientierte Außen- und Entwicklungspolitik, wenn sie konditional gefasst und mit dem Universalitätsanspruch der Aufklärung vorgetragen wird, im globalen Süden als postkolonial aufgefasst werden kann, hat sich herumgesprochen (siehe Blog Bonschab/Kappel „Nach den Etatkürzungen“). Dabei ist eine Vereinbarkeit mit programmatischer Lokalisierung sogar in Krisenkontexten durchaus möglich. Nur ein einziges Beispiel: Von lokalen Initiativen, darunter Frauengruppen, geführte Dialogprozesse zur Wiederherstellung von Frieden zwischen Gemeinschaften können besonders erfolgreich sein und scheitern am Ende oft nur daran, dass politische Größen ihre Machtinteressen von der Hauptstadt aus durchsetzen, wie über Jahre im Ost-Kongo gezeigt.[1] Das kann für eine werte-orientierte, an Gender-Souveränität interessierte Politik doch der Anlass sein, speziell diese Prozesse zu unterstützen und andere weniger. Dann arbeitete die deutsche Werte-Orientierung entsprechend den lokalen Prioritäten, aber nicht andersherum.
Eine vom BMZ ausgerichtete Konferenz der in der Sahel-Allianz zusammengeschlossenen Geberstaaten Mitte Juli hat offenbar wenig besser gemacht. Es darf hinterfragt werden, ob die Impulse der geforderten Priorisierung des Lokalen entsprechen – sei es ein zentrales Bildungsprogramm der Weltbank, das auf die 11.000 geschlossenen Schulen in der Region reagieren soll, oder das Multigeber-Projekt Sahel Resilience Partnership, auch wenn es technisch an lokale Kulturtechniken anknüpfen soll, wie sie auf der zivilgesellschaftlichen Sahel-Tagung vorgestellt wurden. Jedenfalls ist das dort fraglich, wo herkömmliche EZ gar nicht mehr arbeiten kann.
Überhaupt ist die Sahel-Allianz nur kaum eine Instanz der „Koordination“ der EZ, wie immer wieder in Presseberichten und Verlautbarungen zu lesen ist – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne von Abstimmung einer Arbeitsteilung, wer was wann wo macht. Ein wichtiger Schritt ist jedoch die Einbeziehung nationaler und lokaler Zivilgesellschaftler und dezentraler Gebietskörperschaften durch die deutsche Präsidentschaft. Über alle Differenzen hinweg haben über 40 VertreterInnen aus fünf Ländern auf der Konferenz in Berlin gezeigt, dass sie als ernstzunehmende Partner bereitstehen und Legitimität durch ihre Arbeit für die ländliche Bevölkerung im Angesicht von Klimakrise, Unsicherheit und Konflikten zwischen Gemeinschaften und Generationen beziehen.
Die Zukunft wird zeigen, ob die Geber – von der schwierigen Gemengelage gezwungen – bereit und willens sind, die Zusammenarbeit vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne, wenn es im Gefolge der Generalversammlung gegen die etablierten Geber-Interessen gelänge, den Primat des Lokalen und die Notwendigkeit autonomer lokaler Friedensdialoge einem politischen Konsens näher zu bringen.
Fußnote
[1] Siehe dazu unter anderem Life and Peace Institute:Collaborative Learning from the Bottom-up:Identifying Lessons from a Decade of Peacebuilding in North and South Kivu through Bottom-up Evaluation (2009-2019) https://assets.ctfassets.net/jzxyrkiixcim/3M7VArysEEDnDhuLUkxn42/dd2370d5fea91fecd5a9a9021d428937/Evaluation_Report_DRC.pdf. Pole Institute: www.pole-institute.org