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  • Klima & Ressourcen
  • 04/2021
  • Henrique Miguel Pereira

Bis 2050 zu einem „Leben im Einklang mit der Natur“ zurückfinden

Die Weltgemeinschaft hat ihre Ziele zum Erhalt der biologischen Vielfalt verfehlt. Im Herbst wollen die Vertragsparteien einen neuen ehrgeizigen Rahmen verabschieden. Was muss hinein?

Die Kartoffel ist eine von nur etwa zwölf Pflanzenarten, die für 75 Prozent aller Nahrungsmittel verwendet werden. © Andreas Böhm via Pixabay

Die Regierungen dieser Welt haben einen großen Teil ihrer selbstgesetzten Ziele zum Erhalt der Biodiversität verfehlt. Um die Jahrtausendwende hatten sich die Unterzeichnerstaaten der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) zum Ziel gesetzt, „den Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 erheblich zu verlangsamen“. Zehn Jahre später ist deutlich, dass dies nicht gelungen ist. Vielmehr geht die Dynamik in die entgegengesetzte Richtung – viele der Ursachen für den Verlust an Biodiversität haben sich noch verstärkt.

Alarmiert setzten sich die Länder eine Reihe neuer Biodiversitätsziele für 2020, die sogenannten Aichi-Ziele, und die Vereinten Nationen erklärten 2010-2020 zum Jahrzehnt der Biodiversität. Es gab fünf strategische Ziele, darunter eine Bekämpfung der Belastungen für die Artenvielfalt, den Schutz der genetischen Vielfalt und die Nutzung von Ökosystemleistungen. Zwar gab es Fortschritte bei einigen der 20 Aichi-Ziele, aber keines wurde erreicht, bilanzierte der 5. Global Biodiversity Outlook der CBD im vergangenen Jahr. Die meisten Länder hatten keine wirksamen nationalen Ziele in Übereinstimmung mit den Aichi-Zielen und -Investitionen festgelegt. Infolgedessen hält der Verlust der biologischen Vielfalt unvermindert an.

Leider hat sich die Europäische Union nicht viel besser geschlagen als der Rest der Welt. Sie hat ihre Ziele zwei Jahrzehnte hintereinander nicht vollständig erreicht. Auch in Deutschland deuten neuere Studien auf einen Rückgang bei weit verbreiteten Pflanzenarten hin. Die Zahl von Insekten in Agrarlandschaften hat sich dramatisch verringert.

Krise der Biodiversität wird hingenommen

Warum können Länder die Krise der Artenvielfalt nicht bewältigen und lassen den Niedergang vieler Pflanzen- und Tierarten oder gar ihr Aussterben geschehen? Das Problem ist, dass diese Krise durch eine Reihe komplexer indirekter Faktoren verstärkt wird, darunter eine wachsende Bevölkerung und wachsender Konsum. Sie wirken zusätzlich zu den direkten Faktoren wie Intensivierung der Landwirtschaft, Entwaldung, Übernutzung, Umweltverschmutzung und das Vordringen invasiver Arten.

Der Klimawandel, die zweite große ökologische Krise, ist gleichfalls ein Verstärker des Artensterbens. Den Regierungen fällt es sehr schwer, beide Herausforderungen gleichzeitig anzugehen, da sie stark mit den sozioökonomischen Mustern unserer Entwicklung verwoben sind. Nötig wäre eine Kombination aus technologischer und gesellschaftlicher Transformation – wobei der Verlust der biologischen Vielfalt wohl die komplexere Aufgabe ist als der Klimawandel.

Dies ist die Ausgangslage für die 15. Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt. Sie ist für den Oktober 2021 (11.-24.10.) geplant und soll einen neuen ehrgeizigen Rahmen für die globale biologische Vielfalt nach 2020 verabschieden. Die Europäische Kommission ist mit der Verabschiedung der EU-Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt bis 2030 bereits in Vorlage gegangen. Das Hauptziel dieser Post-2020-Strategien besteht darin, unseren Planeten bis 2050 auf den Weg zu einem „Leben im Einklang mit der Natur“ zu bringen. Damit soll der Verlust der biologischen Vielfalt umgekehrt und eine positive Zukunft für Mensch und Natur gesichert werden. Die Dekade 2020-2030 wurde deshalb von den Vereinten Nationen zur Dekade der Wiederherstellung von Ökosystemen erklärt.

Gesamtversagen mit einigen Fortschritten

Die globale Biodiversitätsstrategie ab 2020 baut auf den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte auf. Auch wenn die früheren Ziele nicht erreicht wurden, gab es einige bedeutende Erfolge für die biologische Vielfalt. So wurden die geschützten Gebiete in der EU und weltweit in den letzten Jahrzehnten erweitert und umfassen heute mehr als 17 Prozent der Landfläche und 10 Prozent der Meeresgebiete.

Beim One Planet Summit for Biodiversity werden Milliarden für Aufforstung im Sahel versprochen. Im Video Bundeskanzlerin Angela Merkel, WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, FAO-Generaldirektor Qu Dongyu und EU-Ratspräsident Charles Michel im Januar 2021. © FAO

In Europa hat sich der Erhaltungszustand vieler Lebensräume und Vogelarten leicht verbessert. Weltweit wären die Wirbeltierarten ohne die Erhaltungsbemühungen der letzten Jahrzehnte viermal schneller verschwunden. Die Verbesserungen in Europa sind teilweise auf das Natura-2000-Schutzgebietsnetz und auf finanzielle Hilfen zum Schutz der biologischen Vielfalt in europäischen Landschaften zurückzuführen. Allerdings verfehlt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU mit nur 8,5 Prozent der Mittel für Artenvielfalt in landwirtschaftlichen Flächen und Landschaftserhalt weiterhin ihre Ziele.

Auch das sogenannte Rewilding hat sich als ein möglicher Weg für aufgegebenes Ackerland sowie für Wälder und Feuchtgebiete erwiesen. Mehrere fast ausgestorbene Arten der europäischen Megafauna haben auf diesem Weg ein bemerkenswertes Comeback erlebt. Das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der biologischen Vielfalt und ihre Bedrohung ist ebenfalls deutlich gewachsen. Bürgerwissenschaftler liefern weltweit über Websites wie iNaturalist und eBird (oder das ähnliche Ornitho in Deutschland) ihre Beobachtungen der biologischen Vielfalt an die Global Biodiversity Information Facility.

Die Aushandlung ehrgeiziger neuer globaler Ziele

Der Entwurf der globalen Biodiversitätsstrategie ab 2020, der derzeit von den Regierungen verhandelt wird, schlägt vier miteinander verknüpfte Ziele für 2050 vor. Damit verbunden sind Zwischenziele für 2030 und 20 Aktionsziele. Die Ziele sind:

Die quantitativen Meilensteine für jedes dieser Ziele für 2030 werden noch diskutiert. Besonders relevant für das Landschaftsmanagement sind die Aktionsziele, Schutzgebiete auf 30 Prozent der Landfläche zu erweitern und zusätzlich weitere Flächen degradierter Böden über Raumplanungskonzepte wieder in gesunden Zustand zu versetzen. Zudem werden ehrgeizige Ziele zur Reduzierung von übermäßigem Einsatz von Düngemitteln und Giftstoffen sowie von Plastikmüll beraten.

Klare Roadmaps und verbindliche Verpflichtungen

Wenn wir den Artenschwund bekämpfen wollen, sollten die Regierungen künftig einen klaren Fahrplan vorlegen, wie sie die Ziele der Biodiversitätskonvention in ihren Ländern erreichen und überwachen wollen, und wie sie mit Stakeholdern aus unterschiedlichen Sektoren zusammenarbeiten, um diese Ziele im Querschnitt zu etablieren und die jeweiligen Verantwortlichkeiten sicherzustellen.

Die Regierungen sollten auch dafür sorgen, dass die CBD-Ziele rechtsverbindlich werden, ähnlich wie das Pariser Klimaabkommen oder das Washingtoner Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten wildlebender Tiere und Pflanzen (CITES). Die finanziellen Mittel zur Förderung der biologischen Vielfalt müssen erheblich aufgestockt werden. Neue Instrumente wie Zahlungen für Ökosystemdienstleistungen und Steuern zur Förderung der biologischen Vielfalt sollten eingeführt werden. Darüber hinaus sollte die Konvention einen Mechanismus einrichten, der die Fortschritte und die Einhaltung ihrer Ziele durch die Mitgliedstaaten überprüft.

Die Länder müssen auch einen weiteren großen Widerspruch auflösen: Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belaufen sich die internationalen öffentlichen Ausgaben für die biologische Vielfalt auf 50 Mrd. US-Dollar pro Jahr – während die Regierungen gleichzeitig jährlich etwa 500 Mrd. US-Dollar für Aktivitäten ausgeben, die der biologischen Vielfalt potenziell schaden.

Im Bundesstaat Minas Gerais haben bäuerliche Sozialstrukturen über Generationen ein System der landwirtschaftlichen Nutzung von Vielfalt bis 1400 Meter Höhe geschaffen: von Blumen über Agroforstwirtschaft bis zu Weidetierhaltung und Ackerbau. © FAO / Joao Roberto Ripper

Die neue EU-Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt

Die Biodiversitätsstrategie bis 2030 legt bereits einige quantitative Ziele fest. Zum Beispiel sollten nicht nur 30 Prozent der Land- und Wasserflächen geschützt werden, sondern 10 Prozent solcher Flächen sogar unter strengen Schutz gestellt werden. Persönlich unterstütze ich das strenge Schutzziel nachdrücklich, da die Raumplanung für die meisten EU-Landschaften bereits wirksam funktioniert, es aber nur sehr wenige Gebiete für natürliche Ökosystemprozesse und sich selbst überlassene Natur gibt. In Deutschland beispielsweise sind nur 0,6 Prozent der Gebiete streng geschützt, das derzeitige nationale Ziel liegt bei 2 Prozent.

Die EU-Strategie zielt außerdem darauf ab, den Verbrauch von Pestiziden bis 2030 um 50 Prozent und den Einsatz von Düngemitteln um 20 Prozent zu reduzieren. Angestrebt wird, mindestens zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen als Landschaften mit hoher Vielfalt zu nutzen, 25 Prozent des EU-Agrarlands sollten dem biologischen Anbau vorbehalten sein.

Darüber hinaus richtet sich die EU-Initiative für Bestäuber gegen den Rückgang der Insektenpopulationen, während eine aktualisierte thematische Strategie für den Bodenschutz wieder für fruchtbare Böden sorgen soll. Es werden auch Ansätze untersucht, um durch Aufforstung gleichzeitig den Klimawandel und den Schwund der biologischen Vielfalt zu bekämpfen. Am vielversprechendsten sind Ansätze, die auf Rewilding-Grundsätzen beruhen und die natürliche ökologische Abfolge für brachliegende landwirtschaftliche Flächen zurückbringen sollen. Derzeit wird ein verbindlicher EU-Plan zur Wiederherstellung der Natur erstellt, der unter anderem wieder für den natürlichen Lauf von Flüssen sorgen soll.

Was Landwirte und Verbraucher verbindet

Die Landwirte werden wichtige Akteure sein, um die Wiederherstellung der Pflanzen- und Tierpopulationen und die Gesundheit des Ökosystems zu erreichen. Mit ihrem lokalen Wissen und ihrer Erfahrung können sie am ehesten sagen, was vor Ort erforderlich ist, um den Rückgang der biologischen Vielfalt zu stoppen und Ökosysteme zu reparieren. Zu einem großen Teil sollten sich die Landwirte direkt beteiligen, um je nach Landschaft zu identifizieren, was die Bestände gefährdeter Pflanzen und Tiere verbessern und Gebiete ökologisch vielfältiger zugunste einer größeren Artenverbreitung machen kann.

Entscheidend wird eine Rechenschaftspflicht sein. Wer die biologische Vielfalt weiterhin beschädigt, muss bestraft werden. Wer hingegen Maßnahmen zu ihrer Wiederherstellung ergreift, sollte belohnt werden. Es wäre wohl nötig, die Fonds für Agrarumweltprogramme im Rahmen der GAP zu verdreifachen, um sichtbare Verbesserungen zu bewirken – zusätzlich zu Zertifizierungssystemen, die Verbrauchern eine Wahl geben, wie artenfreundlich sie die konsumierten landwirtschaftlichen Produkte haben wollen.

Beschuldigt nicht die Armen

Die Verbindung vom Acker zum Teller unterstreicht die größere Herausforderung, dass die Umsetzung der Konvention bei den Ländern liegt, das Verbraucherverhalten sich aber indirekt aus der Ferne auf die Artenvielfalt auswirkt. Während sie in einkommensschwachen Ländern am stärksten unter Druck steht, sollten wir uns hüten, den Armen die Schuld für den Schwund zuzuweisen. Ein Verbraucher in Deutschland kann innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen der Artenvielfalt schaden. Die von der deutschen Wirtschaft zu verantwortenden Auswirkungen auf die biologische Vielfalt erfolgen zu 90 Prozent im Ausland – häufig in Regionen mit hohem Reichtum wie Brasilien oder Südostasien.

Ein Sojafeld in Bolivien
Ein Sojafeld in Bolivien: Aktuell wird auf 70 Prozent der Agrarfläche des Landes Soja angebaut. © Tierra

Unter anderem steht dahinter die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Soja als Tierfutter. Vollständige Rechenschaftspflicht ist aber nur möglich, wenn diese indirekten Faktoren in die Zertifizierungssysteme aufgenommen werden und Umweltprogramme Anreize schaffen. Solche Instrumente sind jedoch immer noch völlig unzureichend und müssen verbessert werden.

Trends in Echtzeit bewerten

Schließlich müssen wir viel besser darin werden, Veränderungen in der Artenvielfalt zu überwachen. Noch immer klaffen große Lücken in der räumlichen, zeitlichen und taxonomischen Abdeckung und verhindern einen klaren Überblick. Erst im März hat Deutschland unter der Schirmherrschaft des Bundesamtes für Naturschutz ein Nationales Monitoringzentrum zur Biodiversität eingerichtet. Die meisten europäischen Länder haben solche nationalen Zentren noch nicht, obwohl man auf ein europaweites System zur Überwachung der biologischen Vielfalt (EuropaBON) hinarbeitet.

Mit laufenden Informationen, die eindeutig räumlich zuzuordnen sind, können wir Veränderungen der biologischen Vielfalt in Echtzeit bewerten und festhalten, welche Politik und welche Akteure in Deutschland und Europa weiterführen – oder scheitern. Auf diese Weise kann ein breites Spektrum von Stakeholdern zusammenarbeiten, um Handlungen und Rechenschaftsmechanismen nachzuverfolgen. Eine breite gesellschaftliche Verankerung, Rechenschaftspflichten und ständige Beobachtung können uns auf einen Weg bringen, im Einklang mit der Natur zu leben.

Henrique Miguel Pereira Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU)

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