Für eine Bioökonomie der Bescheidenheit
Bioökonomische Innovationen scheinen grenzenlos. Doch vielfältige Zielkonflikte wie die Konkurrenz um Flächen müssen skeptisch machen – wie auch die vorrangige Wachstumsorientierung.

Bioökonomie: schon in den frühen 80er Jahren beschrieben Wissenschaftler eine Wirtschaftsweise, die sich auf der Grundlage der Sonnenenergie in ökologische Grenzen fügen sollte. Auch Pflanzen sind gespeicherte Sonnenkraft, und nur wenn fossile Energie durch solche aus Biomasse ersetzt werde, könne sich die Wirtschaft in den Rahmen unausweichlicher Naturgesetze fügen, so argumentierte pionierhaft der rumänischstämmige Ökonom Nicolas Georgescu Roegen. Dieser Rahmen erfordere zugleich, nach sozial bereichernden Möglichkeiten in der Selbstbegrenzung zu suchen.
Dieses allumfassende Bioökonomie-Konzept war eine Antwort auf Hochrechnungen wie jene des Club of Rome aus dem Jahr 1972, die angesichts des fortschreitenden Bevölkerungswachstums bei gleichzeitig steigendem Wohlstand "Grenzen des Wachstums" vorhersagten. Ihre Autoren warnten vor Knappheiten; davor, dass der steigende Verbrauch von Kohle und Erdöl, aber auch von Wasser, Land, Dünger und mineralischen Ressourcen globale Kriege und Konflikte schüren könnte.
Konsequenzen wurden weltweit und vor allem in den wohlhabenden Industrieländern gar nicht oder nur halbherzig, jedenfalls unzulänglich gezogen, und so bewahrheiten sich die Szenarien 53 Jahre später auf das Bitterste. Dünger und viele mineralische Rohstoffe sind knapp und teuer, mit Ausnahme ausgerechnet die Klimasünder Öl, Kohle und Gas. Als Folge zu vieler Verbrennungsprozesse in Kraftwerken, Heizungen, Automotoren, indirekt auch auf den Äckern und den damit verbundenen Emissionen, verwandeln sich Weltregionen in Wüsten. Böden sind übernutzt und vergiftet, Wälder abgeholzt, sie stehen in Flammen wie in Kalifornien oder sind so gestresst, dass sie sogar zeitweise ihre Funktion als CO2-Senken, Sauerstoffproduzenten und kühlende Wasserspeicher nicht mehr wahrnehmen können – selbst in der Amazonasregion, die für das Weltklima so wichtig ist. Regional werden Kriege um Wasser und Land geführt, die Welt zerfällt in neuer geopolitischer Konkurrenz.
Dringlicher Übergang zur Bioökonomie
Angesichts dieser dramatischen Realität stellt sich die Frage heute umso zugespitzter: Wie kann eine weiterhin wachsende Weltbevölkerung, wie können künftige Generationen trotz bereits hoch fragiler Ressourcengrundlagen mit allem versorgt werden, also mit pflanzlicher und tierischer Nahrung, Fasern, Energie, Materialien – und das so, dass weder bei den Pariser Klimaschutzzielen Kompromisse gemacht werden, noch beim Montreal-Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt? Diese Herausforderung macht den Übergang zur Bioökonomie heute noch schwieriger, noch komplexer. Zugleich aber verleiht sie ihrer Gestaltung wachsende Dringlichkeit und politischen Nachdruck.

Zahlreiche Länder von Australien bis USA, von Malaysia bis Uganda, auch Deutschland haben deshalb in den letzten Jahren Bioökonomie-Strategien aufgelegt, ebenso übernationale Zusammenschlüsse wie die OECD und die EU. Die BRICS--Staaten Brasilien und Südafrika, beide große Agrarproduzenten, haben das Thema ins Zentrum ihrer G20-Präsidentschaften gestellt. Auch der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir setzte Bioökonomie soeben beim Global Forum for Food and Agriculture(GFFA) auf die Agenda, 62 Staaten unterzeichneten in Berlin ein gemeinsames Kommuniqué. Die Frage ist: Wie nah sind diese heutigen Protagonisten einer "biobasierten", "biotechnologischen" oder "bioinspirierten" Wirtschaftsweise noch an der umfassenden Vision ihrer frühen Vordenker und Tüftler?
Umfassend ist zumindest die Definition der Bundesregierung, die – angepasst an geographische Voraussetzungen und Innovationsphilosophien mit unterschiedlicher Gewichtung – auch anderswo geteilt wird: Bioökonomie sei die "wissensbasierte Erzeugung und Nutzung nachwachsender Ressourcen, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen". Das schließt nicht nur die Land- und Ernährungswirtschaft ein, sondern auch so gut wie alle anderen Branchen. Aus Getreide, Stärke, Holz oder Algen sollen mit Hilfe winziger Mikroorganismen wie Pilzen oder Bakterien "immer effizienter und möglichst in Kaskaden" auch neue Proteine, Energie und Grundstoffe für die chemische Industrie oder Baumaterialien gewonnen werden, für Kraftstoffe oder Kleidung. Die Parole dabei lautet: "Mehr mit Weniger."
Federführend bei der Bioökonomie ist neben dem Agrarministerium auch jenes für Bildung und Forschung. "Wissensbasiert": Neue Technologien spielen eine Schlüsselrolle, wenn Biosprit oder Verpackungsmaterialien aus eigens gezüchteten Gräsermischungen oder Rohrkolben entstehen, wenn gentechnisch veränderte Hefen in Bioreaktoren aus proteinreichen Mikroalgen eine Grundlage für fettarme Eiscreme, Müsliriegel und Nahrungsergänzungmittel schaffen, um tierisches Eiweiß einzusparen. Technologische Entwicklungen werden gebraucht, wenn 3D-Drucker aus zuckerbasiertem Filament Fahrrad-Bremsen oder Prothesen herstellen, wenn Kaffeesatz High-Tech-Bio-Verbundstoffe ergänzen oder Karbonfasern aus Holz Energie und Material im Gebäudebau einsparen sollen. Modifizierte Mikroorganismen könnten eines Tages den knappen Rohstoff Phosphor aus Klärschlamm herauslösen und recyclen oder biologisch synthetisierte Textilfasern die Baumwollfelder entlasten, deren Monokulturen extreme Pestizidmengen abbekommen – die Zahl der Beispiele für bioökonomische Innovationen scheint grenzenlos. Doch angesichts einer Vielzahl von Zielkonflikten ist auch vielfältige Skepsis angebracht.
Vielzahl von Zielkonflikten
Allem voran steht die Konkurrenz um Flächen. Die Nachfrage nach pflanzlichen Rohstoffen steigt, wenn alles biologisch erzeugt werden soll. Doch Land ist begrenzt, fruchtbarer Boden ein nicht vermehrbares, öffentliches Gut. Die Brisanz dieses Problems zeigte sich schon beim ersten Großversuch der Bioökonomie: Biosprit und Biogas. Sie erwiesen sich als Treiber illusionärer Emissionsminderungsberechnungen um den Preis teils neokolonialen Landraubs und der Vertreibung vieler Kleinbauern und Indigener. Seit der „Teller-Tank-Debatte“ vor 15 Jahren haben zwar einige politische Weichenstellungen den großdimensionierten Hype verlangsamt, etwa durch die Verringerung von Bioquoten beim Kraftstoff in der EU oder von Fördergeldern für den Maisanbau. Biogas soll weniger und gezielter zum Einsatz kommen. Aber besonders Dieselkraftstoff aus Palmöl, auch Bioethanol aus Zuckerrohr führen nach wie vor zur Übernutzung von Wäldern in Asien und Afrika durch die reichen Länder.
Bioökonomen versichern, künftig sollten deshalb vor allem Reststoffe und Abfälle aus der landwirtschaftlichen Produktion energetisch und zunehmend auch stofflich genutzt werden. Aber die sind längst ebenfalls hart umkämpft. Außerdem: Was sind überhaupt Abfälle? Vieles von dem, was bei der Pflanzenproduktion übrigbleibt, wird schon genutzt; Stroh zum Beispiel für den existenziellen Zweck, den Boden wieder lebendig und fruchtbar zu machen.
Landkonflikte, auch Spekulation mit Grund und Boden bleiben also nicht nur in Entwicklungsländern ein Thema, sondern weltweit. Auch in Deutschland beschleunigt der Anstieg der Boden- und Pachtpreise Konzentrationsprozesse in ländlichen Regionen und damit soziale Erosion. Land wird immer teurer, nur noch größere Betriebe können es sich leisten.
Neue Flächenansprüche spitzen diese Lage sogar noch zu. Um Böden und Wasser zu schonen, oder sie zu erneuern, muss die Erzeugung von Lebensmitteln extensiver werden, doch ökologische Anbaumethoden und eine Viehzucht in Weidehaltung braucht mehr Land. Das Montreal-Abkommen fordert 30 Prozent der Flächen für den Naturschutz. Zugleich versiegeln Städte die Äcker mit Wohnungen, Gewerbegebieten und Straßen. Die Energiewende fordert Raum für Windkraft- und Solaranlagen. Es soll immer mehr Holz von Plantagen verbaut werden. Wer also bekommt das Land? Die Gefahr ist groß, dass dabei nicht die ökologische und soziale Priorität zählt, sondern der Geldbeutel. Wenn pflanzliche Rohstoffe zum Beispiel eines Tages tatsächlich im großen Stil auch chemische Grundstoffe liefern sollen, dürfte diese Industrie eher Zugriff haben als eine bäuerliche Genossenschaft.
Eine weitere ambivalente Triebkraft der Bioökonomie sind Big Data, Big Biotech und deren Verschmelzung. Präzisionslandwirtschaft lautet der Sammelbegriff für ihre Vision des "mehr aus weniger“. Daten aus Satelliten und Sensoren sollen künftig auf dem Acker auf den Zentimeter genau erfassen, wo Nährstoffe fehlen, wo sich Schädlinge tummeln oder Wasser gebraucht wird. So will man Wasser, Dünger, Chemie und Energie einsparen und Böden verbessern. Neue bio- und gentechnische Züchtungsverfahren wie CrisprCas oder Gene Drive versprechen überdies Sorten, die ebenfalls zielgenauer und billiger höhere Erträge bringen.
Statt an den zunehmend umstrittenen Pestiziden wollen große Saatgut- und Chemiekonzerne mehr und mehr an solchen Wissenspaketen verdienen und mit Klima- und Bodendaten, darauf abgestimmten Saatgutsorten, agrochemischen oder biologischen Mitteln und am Computer berechneten Vorschlägen für Anbausysteme Rundumlösungen für Ackerbau und Viehzucht verkaufen. Sie sind ohnehin stark konzentriert, nun fließen ihre Interessen mit ebenfalls konzentrierten Landmaschinen- und Datenkonzernen in neuen Konglomerationen zusammen. Sie könnten einzeln wie konzertiert die Landnutzung machtvoll bestimmen. Dagegen muss sich ein agrarökologischer Ansatz erst behaupten, der auf maximale Vielfalt setzt: Vielfalt der Betriebe, Vielfalt der Pflanzen und Lebewesen, Vielfalt der Landschaften und Märkte.
Robuste regulatorische Leitplanken
So zeigen nur einige Probleme und Risiken bei aller Faszination für neue Möglichkeiten: Die Bioökonomie muss feinfühlig politisch gesteuert werden, wenn sie den Druck auf die natürlichen Ressourcen nicht sogar noch erhöhen soll. Die Machtfrage klammern Regierungen in ihren Bekenntnissen zur Bioökonomie meist aus, doch es ist ein Fortschritt, dass sie alle anderen Probleme mittlerweile benennen. Auch im Kommuniqué des GFFA wird betont, dass gute soziale, ökologische und ökonomische Ergebnisse des Übergangs zu Bioökonomien "nicht garantiert" und daher "robuste regulatorische Leitplanken" erfordern.
Eine dieser Leitplanken sind die Freiwilligen Leitlinien des Welternährungsausschusses der FAO zu Landrechten, Nahrungsmittelsystemen und Ernährung. Auch Instrumente, die verantwortungsvolle Prioritäten bei der Landnutzung sichern oder anreizen, gäbe es in großer Zahl. Bei einem so breiten Thema sind sie naturgemäß vielfältig und reichen von Versiegelungsbegrenzungen oder -verboten, Stickstoffabgaben oder Mehrwertsteuern auf den flächenfressenden Fleischkonsum über Haftungsvorschriften bei neuen Züchtungstechnologien bis zu Förderpolitiken, die das ineffiziente und naturzerstörerische Verheizen von Holz minimieren, oder bestimmte Bauweisen vorschreiben.
Oberstes Prinzip aller Politiken muss Food First sein, also das Menschenrecht auf eine ausreichende und gesunde Nahrung. Das sei auch Konsens, "eine politisch gesetzte Hierarchie, die sich in einer Vielzahl von internationalen politischen Dokumenten wiederfindet", schreibt eine Gruppe von Wissenschaftlern und vormaligen Mitgliedern des mittlerweile abgeschafften deutschen Bioökonomierates in einem Positionspapier. Doch in der Wirklichkeit gebe es "wie für andere Hierarchisierungen" der Bioökonomie "noch keine Operationalisierung".
Quelle neuen Wirtschaftswachstums?
Ihr Fehlen rührt auch daher, dass bei den meisten Bioökonomie-Strategien vor allem eine zusätzliche Wertschöpfung in technologisch angereicherten, neuen Wertschöpfungsketten angestrebt wird. Bioökonomie wird als Quelle neuen Wirtschaftswachstums gesehen. Eines Wachstums, das nur emissionsärmer und effizienter erwirtschaftet wird.
Aber dieses "Mehr mit Weniger", das letztlich einer höheren Effizienz entspricht, reicht zumindest als alleinige Stellschraube meist nicht aus - weil sie zu sogenannten Rebound-Effekten führt. Das heißt: Das Geld, das man durch Einsparungen bei Energie oder Ressourcen verdient hat, wird auch wieder ausgegeben – und generiert dann neue Verbräuche. Letztlich stoßen die meisten biobasierten Optionen daher auch an ökonomisch bedingte Grenzen, zudem oft auch an zumindest mittelfristige Rentabilitätsgrenzen oder solche der gesellschaftlichen Akzeptanz.
In der Wachstumsorientierung zeigt sich ein weiteres Risiko für die Nachhaltigkeit: Der Fokus der Bioökonomie auf technologische Lösungen verdrängt politische und soziale Nachhaltigkeits-Innovationen. Tempolimits oder neue flexible Mobilitätssysteme etwa erfuhren allzu lange viel weniger Aufmerksamkeit als die Suche nach neuen Kraftstoffen. Die Suche nach neuen Materialien wird deutlich intensiver vorangetrieben als Konsumanreize für langlebige Produkte oder deren Nutzung durch Tauschen und Teilen. Andere Ernährungsgewohnheiten, allen voran der Verzicht auf Fleisch, werden erst seit kurzem ernsthaft vorangetrieben.
Fazit: Bioökonomie ist riskant, wenn sie – wie das Wirtschaften bisher – ausschließlich oder auch nur vorrangig im Namen hoher Wachstumsraten betrieben wird, nur jetzt eben eines grünen Wachstums. Sie ist aber eine Chance, wenn sie eine neue Wertschätzung für biologische Ressourcen weckt, größere Aufmerksamkeit für deren Verschwendung und auch für intelligentere Nutzungsmöglichkeiten; wenn sie also Landnutzungs- und Wirtschaftsformen organisiert, die sich innerhalb dessen bewegen, was der dänische Wissenschaftler Johan Rockström als "sicheren Handlungsraum" für die Menschheit bezeichnet hat.
Womit wir wieder beim Anfang wären, zurück zu den 1980er Jahren: bei Georgescu-Roegens Bioökonomie der Bescheidenheit.
Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*innen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider.

Christiane Grefe ist freie Journalistin, zuvor war sie Reporterin in der Hauptstadtredaktion der ZEIT.