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  • Klima & Ressourcen
  • 06/2021
  • Dan Leskien

Das “grüne Gold” und die Folgen der Digitalisierung

Jenseits von Biopiraterie stößt nationale Souveränität in Zeiten von Open-Source-Datenbanken an ihre Grenzen.

Ausgestellte Vielfalt von Kartoffelsorten am peruanischen International Potato Center. An dem Institut ist auch eine umfassende Genbank für die Bewahrung von Ressourcen und die Züchtung angesiedelt. © FAO/Antonello Proto

Vor 30 Jahren, als die Regierungen kurz davor standen, die Verhandlungen des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt abzuschließen, hätten wohl die wenigsten von ihnen die hitzigen Debatten vorausgesehen, die sich heute um das "grüne Gold" entwickeln – um die daraus gewonnenen genetischen Informationen.

Das Übereinkommen, das umfassendste verbindliche Abkommen, das sich mit der Erhaltung biologischer Vielfalt von Pflanzen und Tieren bis hin zu Mikroorganismen befasst, hat ehrgeizige Ziele gesteckt. Von Staats- und Regierungschefs 1992 auf dem Erdgipfel von Rio de Janeiro unterzeichnet, verpflichtet die Konvention ihre Vertragsparteien nicht nur zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt. Ein weiteres Ziel des jetzt von 195 Staaten ratifizierten Vertrags ist „die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile, insbesondere durch angemessenen Zugang zu genetischen Ressourcen und die angemessene Weitergabe der einschlägigen Technologien“.

Das Ziel der Regelungen zu Zugang und Aufteilung der Vorteile (access and benefit-sharing/ABS), die sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergeben, bestand darin, die biologische Vielfalt zu erhalten, indem sie wirtschaftlich rentabel wird. So will das Übereinkommen einen wirtschaftlichen Anreiz für die Erhaltung und nachhaltige Nutzung des "grünen Goldes" schaffen. Es bestätigt das Recht der Staaten, den Zugang zu ihren genetischen Ressourcen zu regeln, und es erkennt außerdem ihr Recht an, an den Vorteilen teilzuhaben, die sich aus der Nutzung dieser Ressourcen ergeben.

Finanzieller Nutzen blieb aus

Schon bald nach Inkrafttreten des Übereinkommens beklagten sich allerdings Regierungen – vor allem von Ländern mit einem besonders hohen Anteil biologischer Vielfalt, die ausschließlich in einem bestimmten Gebiet vorkommt: Trotz ihrer neu verabschiedeten ABS-Gesetze blieben die erhofften Vorteile aus. Weder seien neue Technologien mit ihnen geteilt worden, noch habe ihr "grünes Gold" den erhofften finanziellen Gewinn abgeworfen.

Für diese Entwicklung wurden verschiedene Gründe verantwortlich gemacht: darunter die beträchtliche Zeitspanne, die zwischen biologischer Grundlagenforschung und der Umsetzung in profitable Produkte liegt. Auch führt nicht jede biologische Innovation automatisch zu großen Gewinnen. Häufig kritisiert wurde aber auch, dass ABS-Gesetze nicht eingehalten und die Vorteile nicht gerecht verteilt würden.

Diese „Biopiraterie“ wurde zu einem oft erhobenen Vorwurf. Forschung und Industrie wurden beschuldigt, genetische Ressourcen zu rauben, sie aus den Ursprungsländern zu schaffen, für Forschung und Entwicklung zu nutzen und anschließend die erzielten Nutzen mit den Ursprungsländern nicht zu teilen.

Vertreter aus Peru bei einer Sitzung des Führungsgremiums des FAO-Übereinkommens zu Pflanzengenetik für Nahrung und Landwirtschaft 2015 in Rom. © FAO/Giulio Napolitano

Nach siebenjährigen Verhandlungen einigten sich die Vertragsparteien des Übereinkommens schließlich 2010 auf eine Zusatzvereinbarung zur Konvention. Das Nagoya-Protokoll – benannt nach der japanischen Stadt, in der es verabschiedet wurde – verpflichtet seine Vertragsparteien, sich gegenseitig bei der Durchsetzung von ABS-Gesetzen zu unterstützen.

So müssen die Unterzeichnerstaaten gewährleisten, dass innerhalb ihres Hoheitsbereichs genetische Ressourcen nur im Einklang mit den Gesetzen des einschlägigen anderen Staats für Forschung und Entwicklung verwendet werden. Das Protokoll verlangt von seinen Vertragsparteien auch, Zuwiderhandlungen zu ahnden und in solchen Fällen auch eng miteinander zu kooperieren.

„Grünes Gold“ und Ernährungssicherheit

Doch das Nagoya-Protokoll mit seinen 129 Vertragsparteien stellt Politik, Verwaltung und auch viele Nutzer genetischer Ressourcen vor ernsthafte Herausforderungen. Die staatliche Souveränität über genetische Ressourcen kann durchaus mit dem Ziel kollidieren, ertragreichere und widerstandsfähigere Pflanzensorten und Tierrassen zu züchten, die für die lokale und globale Ernährungssicherheit von größter Bedeutung sind.

Genetische Ressourcen sind das entscheidende Rohmaterial für Züchter, Wissenschaftler und Landwirte. Sie sind unerlässlich für die Züchtung ertragreicherer Nutzpflanzen und hochproduktiver Nutztiere sowie für deren Anpassung an Umweltveränderungen, etwa bedingt durch den Klimawandel, und an neue, veränderte Verbrauchergewohnheiten. Züchtung, Wissenschaft und Forschung, ja die globale Ernährungssicherheit sind unmittelbar angewiesen auf das Reservoir genetischer Ressourcen.

Das Nagoya-Protokoll verlangt von seinen Vertragsparteien, die Bedeutung der genetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft, ihre besondere Rolle für die Ernährungssicherheit und die gegenseitige Abhängigkeit aller Länder in Bezug auf diese Ressourcen zu berücksichtigen. Doch gibt es kaum einen Hinweis darauf, wie ABS-Gesetze diese besonderen Eigenschaften für Ernährung und Landwirtschaft praktisch berücksichtigen können. Auch in der Praxis kann das Protokoll erhebliche Probleme für die Nutzer genetischer Ressourcen verursachen.

Viele Nahrungspflanzen und Tierrassen wurden über Jahrtausende hinweg im Zuge von Migration, Kolonialisierung und Handel veräußert, ausgetauscht und weitergegeben. Indigene Völker und lokale Gemeinschaften, Landwirte, Forscher und Züchter haben einen Beitrag zu ihrer Entwicklung geleistet, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten. Wer den Stammbaum einer Pflanzensorte oder Tierrasse betrachtet, stellt schnell fest, dass es oft schwierig bis unmöglich ist, ihr Herkunftsland eindeutig zu bestimmen. Mit wem aber müssen Vorteile geteilt werden, wenn verschiedene Beteiligte in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten zur Entwicklung einer Pflanzensorte oder Tierrasse beigetragen haben?

Sogar Landwirte, die züchterisch aktiv sind, etwa indem sie an der Bewertung und Auswahl von Kartoffelsetzlingen beteiligt sind (Almekinders et al., 2014), können sich mit ABS-Gesetzen schwer tun. Zwar verlangt das Nagoya-Protokoll einen Vorteilsausgleich nur für das "Durchführen von Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten an der genetischen und/oder biochemischen Zusammensetzung genetischer Ressourcen“.

Doch nach einer allgemeingültigen Definition von "Forschung und Entwicklung" sucht man vergebens und einige nationale ABS-Gesetze gehen deutlich über den Anwendungsbereich des Protokolls hinaus. Nutzer sehen sich daher oft mit kniffligen rechtlichen Fragen konfrontiert, auf die sie keine klaren Antworten erhalten: Lösen der Austausch von Zuchtmaterial unter Landwirten, selektive Züchtung oder Hobbyzucht Verpflichtungen zum Vorteilsausgleich aus?

Genetische Information wird immer schneller entschlüsselt

Doch das Nagoya-Protokoll steht noch vor einer weiteren, wie manche meinen, existenziellen Herausforderung. Bis vor kurzem war es für die Nutzung einer genetischen Ressource erforderlich, sie physisch als biologisches Material zu besitzen, zumindest einige Zellen (Heinemann, 2018). Fortschritte in den biologischen Wissenschaften, kombiniert mit der sich beschleunigenden Entwicklung von Informationstechnologie, Datenverarbeitung und künstlicher Intelligenz, auch als Bio-Revolution bezeichnet (McKinsey Global Institute, 2020), ermöglichen es zunehmend, genetische Informationen losgelöst vom biologischen Material zu nutzen.

Genetische Information kann heute immer schneller entschlüsselt werden. Sie spielt eine wesentliche Rolle in der Umwelt- und Bioforschung und trägt zum Verständnis der molekularen Grundlagen des Lebens bei. Sie weist neue Möglichkeiten auf, mit denen Gene zur Entwicklung von neuen Therapien und Heilmitteln für Krankheiten, neuen Energiequellen und anderen neuen Produkten, etwa Lebensmittel oder landwirtschaftliche Erzeugnisse, eingesetzt werden können.

In offenen Datenbanken gespeichert, werden digitale Sequenzinformationen derzeit frei zur Verfügung gestellt. In der Tat verlangen die meisten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, dass die Daten, die einem wissenschaftlichen Artikel zugrunde liegen, vor der Einreichung eines Manuskripts online öffentlich zugänglich gemacht werden (Arita et al., 2021).

Internationale Gen-Datenbanken und die Grenzen nationaler Souveränität

Eine beträchtliche Menge digitaler Sequenzinformationen ist weltweit in schätzungsweise 1.700 öffentlich zugänglichen Datenbanken gespeichert. Drei öffentliche Datenbanken mit Sitz in Europa, Japan und den USA bilden die International Nucleotide Sequence Database Collaboration, die die zentrale Infrastruktur für die gemeinsame Nutzung von digitalen Sequenzinformationen darstellt und wissenschaftliche Datenbanken und Plattformen miteinander verbindet. Über Datenbanken für digitale Sequenzinformationen im privaten Sektor ist dagegen wenig bekannt.

In einer Kühlkammer des International Potato Center in Peru werden in vitro-vermehrte Kartoffelpflanzen gelagert. © FAO/Antonello Proto

Wie aber können Länder ihre nationale Souveränität über genetische Ressourcen durchsetzen, wenn die genetischen Informationen dieser Ressourcen zunehmend über das Internet frei zugänglich sind und genutzt werden können, ohne dass auf das ursprüngliche biologische Material zugegriffen werden muss?

Wie können sie überhaupt wissen, wer die Nutzer der aus ihren Ressourcen gewonnenen genetischen Informationen sind und wie können die Nutzer wissen, von wem diese Informationen stammen? Und wie sollen die mit genetischer Information erzielten Vorteile geteilt werden, wenn der Vergleich von Informationen aus Tausenden oder Millionen verschiedenen Sequenzen zur Entwicklung eines völlig neuartigen Produkts führt?

Vorteilsausgleich neu definieren

Diese Fragen werden derzeit in einer Reihe internationaler Foren diskutiert. Noch vor Ende des Jahres soll sich eine Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in Kunming, China, mit "digitaler Sequenzinformation" befassen. Auch die Weltgesundheitsorganisation und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) setzen sich mit den rechtlichen und ethischen Folgen digitaler Sequenzinformationen auseinander.

Selbst die Vertragsparteien des UN-Seerechtsübereinkommens diskutieren, wie im Rahmen eines neuen internationalen Regimes für maritime genetische Resourcen, die sich außerhalb nationaler Jurisdiktion befinden, der Zugang zu daraus stammenden digitalen Sequenzinformationen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der daraus gewonnenen Vorteile geregelt werden kann.

Die zentrale Herausforderung für alle besteht darin, zwischen der Notwendigkeit, Datenbanken offen zugänglich zu halten, und der Forderung nach einer ausgewogenen und gerechten Aufteilung der mit diesen Daten gewonnenen Vorteile ein Gleichgewicht herzustellen (Leopoldina, 2021).

Eine wichtige Frage ist dabei, ob die gleichen Regeln, die für genetische Ressourcen entwickelt wurden und derzeit von vielen Ländern angewendet werden, auch für digitale Sequenzinformationen gelten sollten. Einige befürchten, dass ein solcher Schritt die Schaffung und letztlich die gerechte Aufteilung von Vorteilen gefährden könnte. Sie verweisen auf die "nicht-monetären" Vorteile, die eine Politik des offenen Zugangs und Austauschs digitaler Sequenzinformationen letzlich für alle Länder und Interessengruppen generieren könne.

Andere weisen darauf hin, dass die Verfügbarkeit digitaler Sequenzinformationen nicht bedeutet, dass sie für jeden in gleicher Weise zugänglich sind. Es bedarf erheblicher technischer, institutioneller und menschlicher Kapazitäten, um das Innovationspotenzial digitaler Sequenzinformationen erschließen und nutzen zu können. Viele Entwicklungsländer sind benachteiligt, wenn es um die Nutzung solcher Informationen geht.

Ein multilateraler Fonds als Lösung?

Offenbar wächst jedoch zunehmend der Konsens, dass eine international tragfähige Lösung notwendig ist. Denn weder die Gen- noch die digitale Revolution lassen sich allein mit nationalen Gesetzen regeln. Dabei könnte der 2001 angenommene Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft die Beteiligten zu einer Lösung inspirieren.

Das sogenannte multilaterale System dieses Vertrags der FAO gewährt Forschung und Züchtung einen "erleichterten Zugang" zu einer großen Bandbreite wichtiger Nahrungs- und Futterpflanzen. Die Nutzer dieser pflanzengenetischen Ressourcen teilen ihre dadurch erzielten Vorteile mittels eines multilateralen Fonds in erster Linie mit den Landwirten in Entwicklungsländern, die die pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft erhalten und nachhaltig nutzen.

Könnte ein solches multilaterales System für die digitale Sequenzinformation ein Teil der Lösung sein? Könnte es Zugang zu digitalen Sequenzinformationen gewährleisten, welche die Erhaltung und nachhaltige Nutzung genetischer Ressourcen, sei es durch Bauern, Wissenschaftler oder Genbanken, unterstützen, und zugleich den Transfer von relevantem Wissen und Technologien in Entwicklungsländer fördern?

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Position oder die Politik der FAO wider.

Dan Leskien Sekretariat der Kommission für genetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft, FAO, Rom

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