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  • Klima & Ressourcen
  • 04/2022
  • Sophia Boddenberg
Schwerpunkt

Wasserknappheit in Chile: Eine Folge der Privatisierung?

Während Agrarindustrie und Bergbau den Großteil des Wassers in Chile verbrauchen, kämpfen Kleinbauern um ihre Existenz. Die ungleiche Verteilung wird nun zum Thema der Verfassungsreform.

Luftaufnahme eines Sees in Chile. Das Land steckt in einer Wasserkrise, die Pegel der Gewässer sinken kontinuierlich. © Ministerio de Agricultura Chile via Flickr

Saftgrüne Obstplantagen in staubtrockenen Landschaften – in vielen ländlichen Regionen Chiles ist das die Normalität. Das schmale Land zwischen Pazifikküste und Andengebirge erlebt eine der schwersten Dürren seiner Geschichte. Dass es kaum noch regnet, ist eine Folge des globalen Klimawandels. Aber verschärft wird die Wasserknappheit durch den hohen Wasserverbrauch der Agrarindustrie.  

Mehr als 80 Prozent des Wassers in Chile wird durch den Agrarsektor verbraucht. Und dieser ist nicht auf die Versorgung der lokalen Bevölkerung ausgerichtet, sondern auf den Export: Über die Hälfte der Obstproduktion des Landes wird exportiert, hauptsächlich nach Europa, in die USA und nach China. In deutschen Supermärkten findet man zum Beispiel Avocados, Äpfel und Trauben aus Chile. 

Am eigenen Leib erleben diesen Widerspruch die Bewohner:innen von Petorca, etwa 220 Kilometer nördlich von Chiles Hauptstadt Santiago. Früher bauten Kleinbäuer:innen hier Weizen, Bohnen und Kartoffeln für den Eigenbedarf an. Heute ist die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten Fläche mit Avocados bepflanzt. Und die sind sehr durstig: Für ein Kilo Avocados sind zwischen 300 und 500 Liter Wasser notwendig. Etwa zwei Drittel der Produktion werden exportiert. 

Während die Avocado-Plantagen regelmäßig bewässert werden, müssen viele Kleinbäuer:innen in Petorca ihre Acker vertrocknen lassen, weil sie nicht genug Wasser haben. Rationierung gehört für die Bewohner:innen in der Umgebung zum Alltag. „Wasserknappheit verursacht Armut und soziale Probleme“, sagt Barbara Astudillo, Umweltaktivistin aus Petorca.  

Ohne Wasser können Kleinbäuer:innen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Die Krankenhäuser können nicht funktionieren. Eine Grundschule in Petorca musste im vergangenen Sommer schließen, weil es kein Wasser gab. Während der Covid-19-Pandemie konnten sich viele noch nicht einmal die Hände waschen. „Der Wasserverbrauch der großen Agrarunternehmen wird nicht reguliert, aber der Bevölkerung wird das Trinkwasser abgestellt“, sagt Astudillo. Das sei eine Verletzung der Grundrechte. 

Privateigentum dank Pinochet

Petorca ist eine von 184 Gemeinden in Chile, die unter Wasserknappheit leiden. Betroffen ist fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes, wie aus einem Bericht der staatlichen Wasserdirektion (Dirección General de Aguas) hervorgeht. Die Hälfte der Oberfläche Chiles ist von Erosion betroffen und die Wüste breitet sich mit einer Geschwindigkeit von drei Kilometern im Jahr Richtung Süden aus.

In nur wenigen Ländern der Welt befindet sich Wasser fast vollständig in Privatbesitz. Chile ist eines davon. Obwohl sich das Land im lateinamerikanischen Vergleich durch eine gute Trinkwasserqualität und hohe Versorgungssicherheit auszeichnet, leiden mehr als eine Million Menschen unter Wasserknappheit, insbesondere auf dem Land. Zahlen der Universidad de Chile zufolge haben 47,2 Prozent der Landbevölkerung keine regelmäßige Trinkwasserversorgung. Sie besorgen sich Wasser aus Brunnen, Flüssen oder Tankwagen. Da die Grundwasserspiegel sinken, müssen immer tiefere Brunnen gebohrt werden – und das kann sich nicht jeder leisten. 

Die Privatisierung der lebensnotwendigen Ressource hat zu einer starken Eigentumskonzentration geführt: In Petorca besitzen 30 Agrarunternehmen 60 Prozent der Wassernutzungsrechte. Und wer die meisten Nutzungsrechte innehat, verbraucht am meisten Wasser – unabhängig davon, ob das Nachbardorf über Trinkwasser verfügt. Ein Prozent der Eigentümer:innen von Wassernutzungsrechten in Chile verbrauchen 70 Prozent des verfügbaren Wasservolumens, hat eine Studie der Universidad de las Américas ergeben.  

Die Eigentümer:innen der Wassernutzungsrechte verdienen außerdem zusätzlich Geld mit der Wasserknappheit. Denn der Staat kauft ihnen Wasser ab, mit dem er Tankwagen befüllt und die Bevölkerung versorgt, die kein Trinkwasser hat. An die Bevölkerung in Petorca wurde auf diese Art laut einer Studie der Umweltwissenschaftlerin María Christina Fragkou von der Universidad de Chile zwischen 2012 und 2018 fast eineinhalb Millionen Kubikmeter Wasser in Tankwagen verteilt – was den Staat umgerechnet über 9 Mio. Euro gekostet hat.  

Die Empfänger:innen erhielten ungefähr 50 Liter pro Tag, was nur etwa einem Drittel des durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauchs in Chile entspricht. Wie die Forscherin weiter herausfand, stammte dass das Wasser aus den Tankwagen von Lieferanten, die sich teilweise nur wenige Kilometer entfernt befanden. „Die Ergebnisse unterstützen die These, dass es genug Wasser gibt, es aber ungleich verteilt ist“, sagt Fragkou.  

Diese ungleiche Verteilung der Wassernutzungsrechte wurde ermöglicht durch die Gesetze, die noch Diktator Pinochet in den 1980er Jahren unter Militärgewalt verordnet hatte. Mit dem „Código de Aguas“, dem Wassergesetz aus Diktaturzeiten, wurden Privateigentümer:innen kostenlose Wassernutzungsrechte auf unbegrenzte Dauer überschrieben, darunter Agrarkonzerne. Pinochet versiegelte die Wasserprivatisierung in der Verfassung, die bis heute gültig ist. Chile sollte sich dem Weltmarkt öffnen und Lebensmittel exportieren, so das Kalkül, statt für den Eigenbedarf zu produzieren. Für die heimischen Agrarkonzerne war es der Beginn eines Millionengeschäfts, für die Kleinbäuer:innen der Anfang vom Ende. 

Wasser als Spekulationsobjekt  

Viele von ihnen gerieten unter Verkaufsdruck und gaben ihre Wassernutzungsrechte an die Konzerne ab. Denn Wasser wurde zur frei handelbaren Ware – unabhängig vom Landbesitz. Und da es inzwischen immer knapper wird, blüht der Spekulationsmarkt: Private Unternehmen kaufen Wasserrechte zu niedrigen Preisen, ohne sie in Anspruch zu nehmen, und verkaufen sie anschließend teurer weiter. „Der Markt hat erlaubt, dass die großen Agrarunternehmen das Wasser akkumulieren“, sagt die Umweltwissenschaftlerin Fragkou.  

Auch die Wasserversorgung der chilenischen Haushalte ist fast zu 100 Prozent privatisiert. In einer ebenfalls sehr starken Kapitalkonzentration kontrollieren drei transnationale Konzerne den Markt und versorgen 90 Prozent der Chilen:innen: Agbar-Suez aus Spanien, Marubeni aus Japan und Ontario aus Kanada. Die Preise für die Wasserversorgung diktiert allein der Markt. Wer die Rechnung nicht bezahlt, dem wird das Wasser einfach abgedreht. 

Eine öffentliche Daseinsvorsorge für Trinkwasser und eine gerechte Verteilung der Wasserressourcen war eine der Forderungen der tausenden Demonstrant:innen, die in den Jahren 2019 und 2020 monatelang in ganz Chile gegen soziale Ungleichheit und das neoliberale Wirtschaftsmodell protestierten. „Es ist keine Dürre, sondern Plünderung“, riefen sie auf den Straßen. Der soziale Aufstand führte dazu, dass jetzt eine demokratisch gewählte Versammlung eine neue Verfassung ausarbeitet. Seit Juli 2021 tagen die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents, um nach zwölf Monaten den Entwurf für ein neues Grundgesetz vorzulegen. 

Mehrheit für Gemeingut? 

Wasser ist eines der zentralen Themen in der Debatte, und es gibt auch eine Wasser-Aktivistin aus Petorca, die in den Verfassungskonvent gewählt wurde. Carolina Vilches ist Mitglied der Bewegung MODATIMA, was so viel heißt wie Bewegung zur Verteidigung des Wassers, des Landes und für den Umweltschutz. Vilches betrachtet die Dürre in Chile nicht nur als Konsequenz des Klimawandels, sondern auch als Folge einer ausgeuferten Vergabe von Wassernutzungsrechten in Flussbetten, die schnell austrocknen.  

„Wir wollen die Rechtsnatur des Wassers in der Verfassung ändern“, sagt Vilches. Wasser solle in der Verfassung als Gemeingut definiert werden, das nicht als Privateigentum übereignet werden kann. Daraus müsse eine Umverteilung der Wassernutzungsrechte folgen. Oberste Priorität sollten dabei „die Gesundheit, das Trinkwasser und die Ökosysteme haben.“ Die Wasserversorgung sollte gemeinschaftlich von Kooperativen verwaltet werden. 

Vilches gehört der Kommission „Umwelt, Rechte der Natur, Gemeingüter und Wirtschaftsmodell“ im Verfassungskonvent an. Dort gibt es eine Mehrheit dafür, Wasser zum Gemeingut zu erklären. Allerdings müssen die Vorschläge der Kommission noch von einer Zweidrittelmehrheit aller Mitglieder des Konvents angenommen werden. Am 4. September dieses Jahres wird die Bevölkerung dann in einem Referendum darüber abstimmen, ob sie die neue Verfassung annimmt oder nicht. 

Widerstand aus der Wirtschaft 

Chilenische Unternehmen sträuben sich gegen die Veränderungen am rechtlichen Rahmen der Wasserressourcen und der Versorgung. Die neue Verfassung würde „die Entwicklung des Landes gefährden“, warnte zum Beispiel Juan Sutil, der Eigentümer von sechs Agrarexportkonzernen und Präsident des Verbandes für Produktion und Handel (Confederación de la Producción y del Comercio, CPC). 

Aber der Wandel scheint unaufhaltsam: Auch Chiles neuer Präsident Gabriel Boric hat versprochen, den Menschen in Petorca zu helfen und das Menschenrecht auf Wasser zu garantieren. Er gehört der linken Koalition Apruebo Dignidad an, die sich aus dem Bündnis Frente Amplio und der Kommunistischen Partei zusammensetzt. Die Erwartungen an den 35-Jährigen, der am 11. März als jüngster Präsident in der Geschichte des Landes sein Amt antrat, sind groß.  Er will sich für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzen.  

In seinem Programm verpflichtet Boric sich zu vier zentralen Maßnahmen: Das Recht auf Wasser und sanitäre Versorgung zu garantieren, ein nationales Wasserverwaltungssystem aufzubauen, die Ökosysteme zu beschützen und in Infrastruktur zu investieren. Ende März, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, unterschrieb er bereits eine Reform des „Código de Aguas“, des Wassergesetzes aus Zeiten der Diktatur, die ganze elf Jahre im Kongress festgesteckt hatte. 

Die Reform legt fest, dass in der Wasserversorgung der menschliche Konsum und der Erhalt des Ökosystems oberste Priorität haben müssen und erkennt den Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht an. Nach diesen Kriterien soll sich die zukünftige Vergabe von Wassernutzungsrechten richten, und Konzessionen sollen für maximal 30 Jahre vergeben werden. Was die Reform nicht vorsieht, ist jedoch eine Umverteilung der in der Vergangenheit vergebenen Nutzungsrechte.  

Einen strukturellen Wandel in der Wasserpolitik und -gesetzgebung sowie eine Umverteilung könnte es höchstens nach der Annahme der neuen Verfassung geben. Im neuen Grundgesetz wird sich entscheiden, ob Wasser Privatgut bleibt, oder zum Gemeingut wird. Darüber wird die chilenische Bevölkerung zum ersten Mal in einer demokratischen Abstimmung selbst bestimmen.

Jedoch ist die Wirtschaftslobby in Chile mächtig und eng mit der Politik verflochten. Um nach der Verabschiedung der neuen Verfassung die entsprechenden Gesetze durchzusetzen, braucht Boric Unterstützung in der Abgeordnetenkammer und im Senat. In letzterem haben rechte und wirtschaftsnahe Abgeordnete die Hälfte der Sitze. Deshalb wird die Regierung mit ihnen verhandeln müssen. Ein grundlegender Strukturwandel könnte ausgebremst werden. Denn insbesondere gegen Enteignungen von Wasserrechten wird sich die Agrarlobby wehren. Ohne sie wird eine gerechte Verteilung der knappen Ressource schwer zu bewerkstelligen sein. 

Sophia Boddenberg Freie Journalistin

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