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  • Klima & Ressourcen
  • 08/2024
  • Nick Jacobs
Schwerpunkt

Eine unsichtbare Krise: Wie der Landraub schleichend neue Dimensionen annimmt

Landwirten und Gemeinschaften wird immer mehr Land genommen, und sie haben es mit Mächten zu tun, die stärker sind als sie – zunehmend unter dem Siegel von Umwelt- und Klimaschutz.

Indonesien wirbt mit großen nutz- und fruchtbaren Landflächen für landwirtschaftliche Investitionen. © Curt Carnemark / World Bank

Für viele Menschen ist „Land Grabbing“ ein Synonym für die groß angelegten Landkäufe, die nach der Finanzkrise 2007-2008 Schlagzeilen machten. In dem „Landrausch“, der auf den Crash folgte, übernahmen Investoren, Agrar- und Lebensmittelkonzerne und Staatsfonds die Kontrolle über riesige landwirtschaftliche Nutzflächen im globalen Süden – mit katastrophalen Folgen für Landwirte und Gemeinschaften.

Seitdem ist Land Grabbing aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und in den globalen Debatten kaum noch präsent. Doch die zwangsweise Aneignung von Land ist bis heute ein großes Problem. Wie IPES-Food in einem Bericht 2024 feststellte, hat sich der Landrausch inzwischen zu einem multidimensionalen globalen Landraub entwickelt: Landraub nimmt neue und obskure Formen an, der Zugang von Landwirten und Gemeinschaften zu Land wird auf unterschiedlichen Wegen untergraben, und Land wird in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verseucht und geschädigt.

Im Folgenden werden acht Schlüsselelemente der heutigen Landverknappung aufgeführt:

1. Großflächige Landnahmen erreichten vor einem Jahrzehnt ihren Höhepunkt – doch der Druck auf landwirtschaftliche Flächen nimmt wieder zu. Auch wenn sich das Tempo seit 2013-2014 verlangsamt hat, haben die groß angelegten Landverkäufe Jahr für Jahr weiter zugenommen, mit enormen und weiter wachsenden Auswirkungen. Seit dem Jahr 2000 wurde weltweit Land in der doppelten Größe Deutschlands Objekt transnationaler Deals.* Und obwohl globale Datenbanken die größten Vereinbarungen registrieren, erfassen sie nicht das gesamte Bild des heutigen Land Grabbing.

Wie weiter unten beschrieben, findet Landraub heute in verschiedenen Größenordnungen und in zunehmend undurchsichtigen Formen statt (z.B. für CO2-Kompensationen). Darüber hinaus haben die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine zu hohen Lebensmittelpreisen geführt und die Forderung nach einer „Ernährung der Welt“ sowie nach Neuinvestitionen in die Landwirtschaft wiederbelebt. Auch wenn diese Entwicklungen noch nicht abgeschlossen sind, stellt die Landnahme nach wie vor eine große Bedrohung für Landwirte und Gemeinden dar – und ein weiterer Anstieg könnte unmittelbar bevorstehen.

2. Afrika ist nach wie vor ein Hotspot der Landnahme, während die Landungleichheit in Lateinamerika am größten ist. Seit Beginn der Land-Matrix-Initiative wurden in Afrika mehr transnationale Landgeschäfte getätigt als in jeder anderen Region des globalen Südens. Rund 27 Prozent der seit 2019 abgeschlossenen transnationalen Landnahmen fanden in Afrika statt, gegenüber 21 Prozent in den Jahren 2016-2019*, und die größten und umstrittensten Landnahmen der letzten Jahre betrafen afrikanische Länder. So hat Blue Carbon, ein in der Golfregion ansässiges Unternehmen für den Ausgleich von CO2-Emissionen, vor kurzem etwa 25 Millionen Hektar Land in fünf afrikanischen Ländern aufgekauft, das sind sage und schreibe 10 Prozent der Fläche Liberias und 20 Prozent des Landes in Simbabwe.

Lateinamerika ist ein Hotspot für inländische Landnahme, die zu einer enormen Landungleichheit in der Region beiträgt, wo 10 Prozent der Farmen bis zu 75 Prozent des Ackerlandes kontrollieren. Die Verstädterung und der durch die Infrastruktur bedingte Landverlust sind in Afrika und Asien (insbesondere Südostasien) besonders akut. Osteuropa –ein wichtiger Brennpunkt der Landnahme nach 2008 – bleibt ein Hauptziel für transnationale Investoren und hat in den letzten 15 Jahren eine Verdreifachung der Landpreise erlebt.

3. Agrarkonzerne verstärken ihre Kontrolle über Land, Wasser und Rohstoffe - manchmal unbemerkt.Die intensive Produktion von Exportkulturen ist nach wie vor das Hauptziel der von der Agrarindustrie betriebenen Landnahme. In den meisten Fällen wurde in jüngster Zeit Land für ressourcenintensive Futtermittel und Exportprodukte wie Palmöl, Zuckerrohr, Mais, Kautschuk, Sojabohnen und Rindfleisch umgewandelt. Aber es gibt auch einige bemerkenswerte Veränderungen: „Wasser-Grabs“ etwa steigen an. Investoren streben nach Kontrolle über kritische Ressourcen, um diese rasch auszuschöpfen. Dies geschieht in Gebieten, in denen das Wasser ohnehin schon knapp ist, wie etwa in den von Dürre geplagten Teilen Lateinamerikas. Eine kürzlich durchgeführte Analyse von 39 Ländern ergab, dass Investoren es von 2005-2015 in der Regel auf Land mit bevorzugtem Zugang zu Oberflächen- und Grundwasser abgesehen hatten, was in 67 Prozent der Fälle zu einer Verschärfung der Wasserknappheit und zu einem Wettbewerb um Wasser führte – häufig mit negativen Folgen für Kleinbauern.

Eine weitere bemerkenswerte Veränderung ist, dass die heutigen Landnahmen eher kleiner sind und manchmal unbemerkt bleiben. In anderen Fällen gelingt es Agrarunternehmen, die Kontrolle über Land zu erlangen, indem sie Kleinbauern in Wertschöpfungsketten einbinden, z.B. durch „Vertragsanbau“, bei dem die Landwirte technisch gesehen immer noch Eigentümer des Landes sind, die Agrarunternehmen aber die volle Kontrolle über die Produktionsentscheidungen haben. Diese Systeme sind zwar nichts Neues, aber die Landwirte haben immer weniger Verhandlungsmacht: Durch die jüngsten Megafusionen sind Agrargiganten und Unternehmensmonopole in einem noch nie dagewesenen Ausmaß entstanden. 

4. „Green Grabs“ sind die größte neue Bedrohung für Landwirte und Gemeinden. Natürlich sind Maßnahmen gegen die Klima- und Biodiversitätskrise dringend erforderlich, aber hier eignen sich Regierungen und Unternehmen riesige Landflächen an, um unter dem Siegel von Umweltschutz in einem Top-down-Ansatz Programme umzusetzen – und diese „grüne Landnahme“ macht heute etwa 20 Prozent der gesamten Landnahme aus.* Erschreckenderweise haben sich Regierungen verpflichtet, eine Fläche, die der gesamten weltweiten Ackerfläche entspricht, der „CO2-Beseitigung“ zuzuweisen. Mehr als die Hälfte dieser Pläne beinhalten Massenanpflanzungen von Bäumen und drohen, die Lebensgrundlage von Kleinbauern und indigenen Völkern zu beeinträchtigen.

Trotz dieser Risiken und zunehmender Belege dafür, dass derartige Kompensationsprogramme keine tatsächlichen Emissionssenkungen bewirken, ist davon auszugehen, dass sich der Wert dieser Programme bis 2030 auf 1.800 Mrd. Dollar mehr als vervierfachen wird. Und auch die Kompensationen für die biologische Vielfalt sind auf dem Vormarsch. Einige Formen der grünen Energieerzeugung führen zu einem zusätzlichen Wettbewerbsdruck auf Land und Ressourcen. So plant die EU beispielsweise, bis 2030 zehn Millionen Tonnen „grünen" Wasserstoff vor allem aus Nordafrika zu importieren. Für die Produktion dieses so genannten sauberen Kraftstoffs werden jedoch erhebliche Mengen Land und Wasser benötigt, was wiederum große Gefahren für die Lebensgrundlagen der örtlichen Landwirte und Viehzüchter birgt.

Kompensieren statt reduzieren: Immer mehr Unternehmen gleichen Treibhausgasemissionen mit Zertifikaten aus Baumpflanzprojekten aus. © FAO/Rubí López

5. Der weltweite Bergbauboom übt enorme Begehrlichkeiten auf landwirtschaftliche Flächen aus. Auf Bergbauprojekte entfielen in den letzten zehn Jahren 14 Prozent der registrierten großflächigen Landverkäufe, die weltweit etwa 7,7 Millionen Hektar Land umfassten. Die Nachfrage nach Sand und Kies steigt mit der zunehmenden Verstädterung rapide an, und der Sandbergbau steht inzwischen für mehr illegalen Abbau als selbst der Sektor der fossilen Brennstoffe. In Assam und anderen indischen Bundesstaaten zerstört der Sandabbau die Artenvielfalt, verändert Flussläufe und führt zur Erosion und Verschmutzung von Ackerland.

Die steigende Nachfrage nach Mineralien für die Energie- oder Verkehrswende – unter anderem Kobalt, Kupfer, Lithium und Zink – heizt den Bergbauboom ebenfalls an und erhöht den Druck auf landwirtschaftliche Flächen. In einem Bericht des Business and Human Rights Resource Center von 2023 wurde festgestellt, dass mehr als 90 Unternehmen, die Mineralien zur Gewinnung von erneuerbarer Energie abbauen, in den letzten zehn Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wurden, einschließlich der Verseuchung von Land und der Verletzung des Rechts von Gemeinschaften auf freie, vorherige und informierte Zustimmung.

6. Die Verstädterung und der Bau von Mega-Infrastrukturen verbrauchen weiterhin Ackerland in Afrika und Asien. Laut Prognosen der UN-Konvention zur Bekämpfung der Desertifikation (UNCCD) werden im Zeitraum 2000-2030 bis zu 3,3 Millionen Hektar des weltweiten Ackerlandes von expandierenden Megastädten verschlungen werden. Etwa 80 Prozent dieses Landverlustes werden in Asien und Afrika zu verzeichnen sein. Seit 2003 haben Bauten und Infrastrukturentwicklung allein 16 Prozent des weltweiten Ackerlands verschlungen, in Südostasien sogar 35 Prozent. Über die Jahre haben internationale Beobachter zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Beschlagnahmung von Land von Kleinbauern und Bauern in Afrika und Asien zum Zweck des Baus von Straßen, Handelsknotenpunkten und anderen Projekten im Rahmen von Chinas Seidenstraßenprojekten (Belt and Road Initiative/BRI) dokumentiert.

Von der Weltbank unterstützte Infrastruktur mit Brücke, Straßen und Wasserplanung am Metolong Damm in Lesotho. © John Hogg / World Bank

7. Die Landnahme wird durch eine neue Welle der Deregulierung und eine investorenfreundliche Politik begünstigt. Die oben beschriebenen schädlichen Formen von Entwicklung werden durch einen erneuten Liberalisierungsschub in den Volkswirtschaften im globalen Süden begünstigt – einschließlich des Rebrandings umstrittener Initiativen, die zum „Landrausch“ nach 2008 beigetragen haben. So schafft die Weltbank beispielsweise weiterhin Anreize für Regierungen, die Grundstücksmärkte zu öffnen: Der umstrittene Doing-Business-Index wurde in Business Ready (B-Ready) umbenannt und enthält Indikatoren, die Länder weiterhin dafür belohnen, wenn sie Beschränkungen des Landbesitzes oder der Pacht für in- oder ausländische Firmen aufheben.

In zunehmendem Maße stufen Regierungen Land als „ungenutzt“ oder „nicht ausreichend genutzt“ ein und teilen es Investoren neu zu. So wurden beispielsweise im Rahmen der von den Golfstaaten mit 50 Mrd. Dollar unterstützten „Green Pakistan Initiative“ etwa 2.000 Hektar „verlassenes“ Land beschlagnahmt und für die kommerzielle Landwirtschaft umgewidmet. Der Zugang zu erstklassigem Ackerland wird auch durch „Sonderwirtschaftszonen“ beschleunigt, wie sie in Afrika auf dem Vormarsch sind – und regelmäßig mit Landraub und Rechtsverletzungen in Verbindung gebracht werden. Außerdem wird Investoren besonderer Schutz angeboten, um sie zu potenziell riskanten Landgeschäften zu motivieren. Seit dem Jahr 2000 wurden mehr als 1.000 Klauseln zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (ISDS) in Handels- und Investitionsabkommen aufgenommen. 2019 war die Landwirtschaft einer von zehn Sektoren, die in Afrika am häufigsten Gegenstand von Investitions-Schiedsverfahren waren. Investoren erhalten hohe Entschädigungen für die Einstellung von Landgeschäften. 

8. Neue Formen der Spekulation und Finanzialisierung bringen enorme Kapitalströme in die Märkte für Land. Finanzspekulationen sind auf den Landmärkten nichts Neues – aber sie finden jetzt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß statt. Die Zahl der landwirtschaftlichen Investmentfonds hat sich von 2005 bis 2018 verzehnfacht. Ackerland ist dabei regelmäßig eine eigenständige Anlageklasse. Bis 2023 verwalteten 960 aktive Fonds, die auf Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Vermögenswerte spezialisiert sind, über 150 Mrd. Dollar. US-Investoren haben Anlagen in Agrarland seit der Pandemie verdoppelt.

Derweil bringen die Märkte für CO2-Kompensationen auch mächtige neue Akteure auf die Landmärkte. So hat beispielsweise der Ölriese Shell mehr als 450 Mio. Dollar für den Aufkauf von Kompensationen bereitgestellt. Auch wenn die Finanzialisierung der Landmärkte nicht direkt zu Landraub führt, so treibt sie doch die Preise für Land steil in die Höhe und untergräbt die Möglichkeiten kleiner Erzeuger, auf dem Land zu bleiben, oder hält neue Landwirte vom Einstieg in den Sektor ab. In Großbritannien trug ein Zustrom von Investitionen aus Pensionsfonds und Privatvermögen dazu bei, dass sich die Preise für landwirtschaftliche Nutzflächen zwischen 2010 und 2015 verdoppelt haben, während in Kanada die Bodenpreise infolge ausufernder Immobilienspekulationen 30 Jahre lang gestiegen sind. Und durch neue Finanzderivate häufen Spekulanten Landparzellen an und fassen sie zu größeren Betrieben zusammen, treiben die Preise in die Höhe, verdrängen kleinere Landwirte aus dem Landbesitz – und verpachten das Land dann an sie zurück.

Alte Bedrohungen in einer neuen Landschaft

"Land Grabbing" ist daher auch heute eine große, sich ständig weiterentwickelnde Bedrohung. Es ist Teil eines noch umfassenderen Drucks, der Landwirte und Gemeinschaften von ihrem Land verdrängt, das sie ernährt. In den fünfzehn Jahren seit dem „Landrausch“ haben sich die weltweiten Bodenpreise verdoppelt, und die Ungleichheit bei der Landnutzung hat in allen Regionen der Welt zugenommen. Ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe kontrollieren heute 70 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die Lebensgrundlagen von Kleinbauern geraten kontinuierlich in Bedrängnis, und ein immer mächtigerer Agrar- und Lebensmittelsektor hat die Nahrungsmittelsysteme und das Ackerland immer fester im Griff.

Daher ist es wichtiger denn je, die jüngeren Landnahmen zu dokumentieren, Alarm wegen der weltweiten Landknappheit zu schlagen und die dringend erforderlichen Strategien – auf lokaler und globaler Ebene – zu erkunden, um einen gerechten, sinnvollen und sicheren Zugang zu Land für alle wiederherzustellen. 

*Zahlen berechnet von IPES-Food (basierend auf Daten der Land Matrix Initiative)

Nicholas Jacobs International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES-Food)
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