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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 02/2021
  • Marina Zapf

Äthiopien: "Die Ernährungssituation spitzt sich dramatisch zu"

Zwei Monate nach dem offiziellen Ende der Militäroffensive in der äthiopischen Region Tigray spitzt sich die Lage dort zu. Ein Großteil der Hilfsorganisationen hat noch keinen Zugang.

Flüchtlinge aus der äthiopischen Region Tigray im Sudan.
Flüchtlinge aus der äthiopischen Region Tigray bei der Ankunft im Sudan. Zigtausende haben nach der Offensive von Regierungstruppen im Nachbarland Zuflucht gesucht. © courtesy of UNHCR / Myop Jobard

Herr Späth, wir sprechen zwei Monate, nachdem Premierminister Abiy Ahmed die Militäroffensive im Tigray für beendet erklärt hat. Es gibt Vorwürfe, dass in der Volksgruppe große Not herrscht. Wie ist das Bild?

Matthias Späth: Es gibt wenig Information aus erster Hand aus Tigray. Das liegt daran, dass die allermeisten internationalen Hilfsorganisationen noch nicht befugt sind, dort Nothilfe zu leisten oder – wie vor der Krise – ihrer Projektarbeit nachzugehen. Es mehren sich jetzt aber Informationen, die auch von UN-Körperschaften kommen, dass sich die Ernährungssituation dort dramatisch zuspitzt. Nach vorliegenden Informationen ist der Zugang jenseits der Hauptverkehrsadern schwierig bis unmöglich. Aus Sicherheitsgründen sind nur wenige Organisationen derzeit in Tigray aktiv. Kürzlich wurde eine Hilfslieferung von 40 Tonnen in den Norden der Region gebracht, die wahrscheinlich auch die um Shire befindlichen Flüchtlingslager versorgen soll. Ob davon auch etwas das unterversorgte Hinterland erreicht, ist schwer abzusehen. Dennoch muss man sehen, dass diese Lieferung, gemessen an dem angenommenen Bedarf in der Region, lediglich der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein ist.

Zur Person

Matthias Späth ist seit 2016 Landesdirektor der Welthungerhilfe in Äthiopien und leitet von Addis Abeba aus 20 bis 30 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 20 bis 30 Millionen Euro. Sie reichen von zahlreichen Nothilfeprogrammen bis zu langfristigen Entwicklungsprojekten, wie im fruchtbaren Hügelland von Amhara oder den von der Klimakrise besonders bedrohten Tieflandregionen.

Was haben die Sondierungsmissionen der Regierung von Premier Abiy Ahmed mit einigen Hilfsorganisationen ergeben?

Vor Ort sind vor allen Dingen Ärzte ohne Grenzen und einige Organisationen, mit denen die Regierung schon vor der Krise im Rahmen des „Poverty Safety Net Programmes“ zusammengearbeitet hatte, sowie das IRC einiger UNO-Organisationen. Bedarfsanalysen unter der Führung von UN-OCHA und ausgewählten Organisationen, darunter zwei unserer Partnerorganisationen, wurden in den Anrainerregionen Afar und einigen Grenzgebierten zur Amhara-Region durchgeführt. Die Bedarfsanalysen in der Region sind aufgrund der prekären Sicherheitslage sehr rudimentär.

Wie dramatisch ist die Lage?

Man muss sich vorstellen, Tigray hat sechs Millionen Einwohner. Die offiziellen Schätzungen gehen von knapp 2,5 Millionen hilfsbedürftigen Menschen aus. Ich halte das für realistisch. Andere Schätzungen setzen fast doppelt so hoch an. Das ist aber alles Spekulation. Schon vor Ausbruch der Krise wurden etwa 900 000 Menschen, die strukturell und permanent von Mangelernährung bedroht waren, durch das „Poverty Safety Net“-Programm grundlegend versorgt.

Portrait von Matthias Späth.

Die offiziellen Schätzungen gehen von knapp 2,5 Millionen hilfsbedürftigen Menschen aus. Ich halte das für realistisch.

Matthias Späth

Und das hat sich durch die kriegerische Auseinandersetzung verschärft...

Sie hat dazu geführt, dass die Ernte nicht eingeholt werden konnte. Die Infrastruktur der Region war komplett abgeschnitten von Nachschub, von Energie- und Wasserversorgung. Das Bankensystem hat in weiten Teilen der Region geschlossen. Im Prinzip wurde die Grundlage für jegliches Wirtschaften entzogen. Insofern sind die Lebensmittelmärkte leergefegt. Dementsprechend entwickeln sich die Preise für Nahrungsmittel, für einige soll es eine 1000-prozentige Steigerung geben.

UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi rief die Regierung alarmiert auf, für Zugang zu sorgen. Gibt es Bewegung?

Nur die Hauptverkehrsader nach Mekele scheint  halbwegs sicher zu sein. Assessments im Hinterland durchzuführen ist oftmals nicht möglich. Generell benötigt man eine Genehmigung des zuständigen Ministeriums, um in Tigray Nothilfemaßnahmen durchzuführen. Der Genehmigungsprozess gestaltet sich noch schwierig. Es gibt natürlich Kritik der internationalen Organisationen an den zeitraubenden und intransparenten Verfahren. Der Dialog mit dem zuständigen Ministerium ist im Ton vernünftig, und man signalisiert Entgegenkommen. Aber dann verzögern sich Abmachungen doch wieder. Eigentlich sollten Operationen von Organisationen, die schon in Tigray vor der Krise aktiv waren, mittlerweile genehmigt sein.

Bekommen die Helfer im Konfliktgebiet einen Eindruck, ob noch gekämpft wird?

Die urbanen Zentren sind wohl unter Kontrolle der Zentralregierung, im Hinterland scheint das nicht flächendeckend der Fall zu sein. Es gibt Berichte, wonach auch Militär- und Nothilfekonvois angegriffen worden sind; ebenso über Gräueltaten in Flüchtlingscamps. Im Hinterland scheint sich eine Art Guerillakrieg zu entwickeln. Die Regierung verfolgt weiter mit ziemlichem Erfolg die Führungskader der Volksbefreiungsfront TPLF. Aber die Strukturen der TPLF scheinen noch nicht vollkommen zerstört zu sein.

Kinder in Tigray UNHCR
Kinder vor einer verschlossenen Wasserstation im Lager Adi Harush für eritreische Flüchtlinge in Nordäthiopien. © UNHCR / Chris Melzer

Was will die Regierung verbergen? Etwa dass doch eritreische Soldaten in dem Konflikt mitmischen?

Man muss sehen, welche Konfliktherde am brennen waren, bevor es in Tigray losging. Die äthiopische Armee hatte mit Al-Shabaab in der Region Somali und mit Konflikten zum Sudan zu tun. Es geht um knappe Ressourcen, um sogenannte Befreiungsagenden separatistischer Gruppen. Die Verteilung des Militärs auf immer mehr Krisenherde birgt die Gefahr des Kontrollverlusts in kritischen Regionen. Vor dem Hintergrund dieser Szenerie scheint es, dass Allianzen unumgänglich waren, die der Regierung nun auf die Füße fallen. Fakt ist, man kommt schwer nach Tigray rein, während die humanitäre Lage sich zuspitzt.

Von außen wirkt es, als ob man trotz der Notlage auf der Stelle tritt?

Es findet zwischen Regierung und Körperschaften der internationalen Gemeinschaft ein intensiver Dialog statt. Aber die Situation ist sehr komplex und verfahren. Die Regierung empfiehlt, diese ganzen Operationen nur unter Militärschutz durchzuführen, was natürlich niemand will, weil man weder zur Zielscheibe noch mit einer Kriegspartei in Verbindung gebracht werden will. Andererseits ist Hilfe in der dermaßen schlechten Situation ohne den Schutz fast gar nicht zu leisten. Wir haben keine Kommunikationsmittel; außerhalb der Städte gibt's noch kein Internet. Da kann man kein eigenes Sicherheitsmanagement gewährleisten.

Stimmt es, dass rund 500 000 Menschen ihre Heimat verlassen mussten?

Nicht alle verließen den Tigray. Der Großteil bleibt wahrscheinlich oder geht in den Sudan.  Dort haben wir rund 60 000 Flüchtlinge, verteilt auf drei Lager. Die meisten Tigrayer haben wahrscheinlich Bedenken, in dieser politisch aufgeheizten Lage über die Binnengrenzen zu gehen. Es ist eine sehr unübersichtliche, mit Sicherheit sehr prekäre Situation derzeit. Wir bereiten mit einigen Partnern in der Region Afar an der Grenze zum Tigray einige Interventionen vor: für Binnenflüchtlinge und deren Gastgeberkommunen, die auch von der Abschottung betroffen sind. Es wird davon ausgegangen, dass es innerhalb von Tigray bis zu einer halben Million Binnenvertriebene gibt. Landesweit nähern wir uns der Höchstzahl von 2017/18 nach der langen Dürre: Ich nehme an, dass wir schon wieder weit über zwei Millionen Binnenflüchtlinge haben.

Ist die Welthungerhilfe aktuell in die Hilfsaktionen involviert?

Außer der Handvoll Organisationen, die bereits in Tigray agieren, stehen alle anderen Organisationen lediglich „Gewehr bei Fuß“. Mit unseren Partnerorganisationen auf internationaler und nationaler Ebene haben wir versucht, uns in die Situationsanalysen einzubringen, um für unsere Planung einen Überblick über die Bedarfe zu bekommen. Auch wenn vielerorts solche Analysen noch nicht durchgeführt werden konnten, ist unschwer zu vermuten, dass es vordringlich an Nahrungsmitteln und Trinkwasser fehlt. Darüber hinaus ist das Gesundheitssystem kollabiert, es gibt kaum Medikamente. Zahlreiche Menschen die unter den berichteten Gräueltaten und Vergewaltigungen litten, bedürfen psychotherapeutischer Betreuung, die so gut wie nicht angeboten werden kann.

Es braucht also Wiederaufbau?

Ich denke, das Land steht vor einer Mammutaufgabe, in Tigray wieder zu einer Art Normalität zurückzukehren. Dennoch – ich kann nur immer wieder auch an die internationale Wahrnehmung appellieren: Äthiopien ist mehr als der Tigray-Konflikt. Er macht die Gemengelage komplizierter. Aber wir haben schätzungsweise weitere 15 Millionen von Nothilfe abhängige Menschen aufgrund der zahlreichen anderen Krisen, die dieses Land heimgesucht haben und weiterhin heimsuchen.

Eine überschwemmte Landschaft.
In der äthiopischen Region Afar wechseln sich Dürre und Fluten ab. Seit 2020 kommt die Heuschreckenplage dazu. © Welthungerhilfe

Bei Twitter kursieren Vorwürfe, dass Hunger als Waffe gegen die Volksgruppe der Tigray eingesetzt wird. Es ist sogar von Genozid die Rede? Was sagen Sie dazu.

Die Regierung hat von Anfang an betont, sie führe keinen Krieg gegen das Volk, sondern gegen die Führung der TPLF. Mittlerweile gibt es vielleicht die begründete Annahme, dass dem nicht so ist. Allerdings ist es nicht einfach, die Lage vor Ort basierend auf Fakten zu beurteilen, weil unabhängige Organisationen das Gebiet nur sehr eingeschränkt besuchen können. Es gibt viele Gegner der jetzigen Regierung, die seit Abiys Antritt mit allen Mitteln versuchen, den Demokratisierungsprozess und die nationale Versöhnungsagenda zu unterwandern. Und sie wurden dafür verantwortlich gemacht, andere Widerstandsgruppen im Land zu stärken. Insofern steht der Verdacht im Raum, dass man vielleicht versucht, das Risiko eines Widererstarkens dieser tigrayischen Opposition zu minimieren. Außerdem hat die strikte Vorgehenseise vielleicht auch eine Signalwirkung and andere Kräfte außerhalb Tigrays, die regionale oder ethnische Interessen über die nationale Versöhnungsagenda stellen. Es ist Fakt, dass vielerorts noch immer ethnisch motivierte Gräueltaten geschehen, die für viele Menschen unsagbares Leid verursachen. Ich möchte mich aber nicht an Spekulationen beteiligen hinsichtlich der tatsächlichen Beweggründe für das Vorgehen der Regierung in Tigray oder inwieweit sie tatsächlich Kontrolle ausübt hinsichtlich der Geschehnisse in der Region.

Verschärft die Tigray-Krise ethnische Spannungen anderswo?

Es sind natürlich viele ethnische Gruppen, auch Nachbarländer, die jeweils eigene Interessen verfolgen und die Situation zum Teil befeuern. Sudan hat seine Grenzkonflikte mit Äthiopien. Mit Ägypten und dem Sudan wird um die Kontrolle des Blauen Nils gestritten. Verschiedene Regionalmächte nehmen im eigenen Interesse das Momentum wahr. Und für die Zentralregierung wird es zunehmend komplizierter, in diesen Strömungen – wie soll man sagen – die Klaviatur so zu spielen, dass auch gesamtäthiopische Interessen gewahrt bleiben. Man kann nur hoffen, dass sich letztlich der gesunde Menschenverstand durchsetzt.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt den äthiopischen Premierminister Abiy Ahmed bei der G20 Compact with Africa-Konferenz in Berlin im Oktober 2018. © Paul Kagame via Flickr

Wie verhält sich die EU? Es gibt Appelle, die Spannungen zu entschärfen? Tut der Premier das?

Die EU, wie übrigens auch die Amerikaner, verlangen im Prinzip Transparenz, schnelle Aufklärung, und den schnellen Rückzug aller nicht einheimischen Armeen, sei es vom Sudan im Westen oder von Eritrea im Norden. Die EU versucht klar, den Dialog aufrecht zu erhalten und Stück für Stück eine Öffnung der Konfliktregion herbeizuführen. Manche Budgethilfen wurden eingefroren, andere Hilfen stehen noch zur Verfügung. Es gibt also einen gewissen internationalen Druck. Den kann Abiy Ahmed nicht ignorieren. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Druck in den letzten 30 Jahre auch auf die Vorgängerregierung ausgeübt worden wäre. Auch wenn akut die Lage dringlich ist, muss man strategische Ziele im Auge behalten. Welche Alternativen bieten sich zur gegenwärtigen Regierung in Äthiopien? Wir haben derzeit nur diesen Ansprechpartner, mit dem wir eine Lösung für die humanitäre Notlage der Menschen finden müssen.

Haben Sie eine persönliche Meinung, wie die EU sich verhalten sollte? 

Ja: kritisch und kooperativ. Ich denke schon, dass Ursachenforschung betrieben werden muss, dass Transparenz erforderlich ist. Die Tatsache, dass man vielleicht auf die alte Regierung zu wenig Druck ausgeübt hätte, soll jetzt kein Alibi sein, es auch künftig nicht zu tun. Man sollte nur nicht mit zweierlei Maß messen. Nach meinem Informationsstand hat die momentane Regierung den Zerfall des Landes nicht zu verantworten, steht aber deswegen enorm unter Druck.

Flüchtlinge aus Tigray auf dem Weg in den Sudan.
Flüchtlinge aus Tigray überqueren den Fluss Tekeze auf dem Weg ins sudanesische Camp Hamdayet. © courtesy of UNHCR / Hazim Elhag

Wie steht der Friedensnobelpreisträger jetzt innenpolitisch da?

Ich glaube, dass er lange derjenige war, der noch verhinderte, dass es in Tigray zum Konflikt kommt. Persönlich denke ich schon, dass wir kritisch auf die Regierung schauen müssen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir derzeit keine anderen legitimen Ansprechpartner haben. Abiy hat bei mir den Vertrauensvorschuss noch nicht komplett verspielt. Die Herausforderungen innerhalb der verschiedenen Konflikte im Land sehr groß. Die anfänglich enthusiastische Unterstützung mag einer eher rationalen Unterstützung gewichen sein. Nach meinem Eindruck würde bei einer Wahl die große Mehrheit immer noch für seine Agenda stimmen. Aber eben auch, weil man spürt, dass es keine alternativen Angebote für die Befriedung des Landes unter Wahrung der Interessen aller gibt.

Betrifft der Konflikt Ihre Projekte in Amhara? Die Region grenzt im Norden an den Süden von Tigray?

Wir sind strategisch etwas fokussiert auf bestimmte Regionen, in denen wir stark in sich geschlossene umfangreiche Entwicklungsmodelle durchführen, die über längere Zeiträume laufen als eine normale Finanzierungsphase das erlauben würde. In der Amhara Region sind unsere Programmgebiete nicht unmittelbar von dem Konflikt betroffen. Es gab zwar Beeinträchtigungen unserer Arbeit durch den Beschuss des Flughafens in Bahir Dar, der logistisch wichtig ist. Teilweise wurden aus Sicherheitsgründen Workshops, oder Konferenzen abgesagt oder verschoben. Im Großen und Ganzen hatte der Konflikt aber bislang keine wahnsinnig negative Wirkung auf unsere Projekte.

Äthiopien wurde von Starkregen und Fluten heimgesucht. Wo schlägt das am stärksten zu?

An verschiedenen Orten, aber mit Schwerpunkt in Afar und sicherlich Somali; beides sind Tieflandregionen, die über die Jahre unter immer längeren und häufiger auftretenden Dürreperioden litten. Die haben die Wasseraufnahmekapazität der Böden entscheidend geschwächt. Auch die Menschen dort sind extrem geschwächt, weil die Erholungsphasen zwischen den Dürreperioden zu kurz sind, als dass sich Viehbestände und Landwirtschaft erholen könnten. Und die Heuschreckenschwärme haben dann wirklich das Weideland und die Anbauflächen, die verblieben waren, kahl gefressen. Das war auch in Tigray einer der Gründe, warum die Ernte zerstört wurde. Wo man sich früher aufgrund des El Niño-Phänomens alle fünf Jahre auf eine Krise einstellte, werden diese nun zum beinahe permanenten Szenario.

Marina Zapf, Journalistin, berichtet seit 20 Jahren aus Berlin über Themen der Außen, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Marina Zapf Team Welternährung.de
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