Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Seiteninhalt springen Zum Footer springen

  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 08/2022
  • Marina Zapf

Äthiopien: „Erwachsene Männer essen nicht mehr und trinken nur noch Tee“

In der nordäthiopischen Hirtenregion Afar wechseln sich Dürre und Fluten ab. Seit die Rebellentruppen aus Tigray eingefallen sind, erlebt sie die schlimmste Krise aller Zeiten.

Eine Frau pumpt Wasser aus einem Regenwasserteich in Afar 2016. Er ist Quelle für Trinkwasser, Tränke für die Herden und dient der Bewässerung von Tierfutter. © FAO/Tamiru Legesse

Ihre Organisation unterstützt Pastoralisten und ist mit der Welthungerhilfe verpartnert. Wie würden Sie Ihren Auftrag beschreiben?

Valerie Browning: Die Afar leben am Horn von Afrika in Eritrea, Dschibuti und Äthiopien. Unsere Organisation ist in der nordäthiopischen Region Afar tätig, die im Westen an den Bundesstaat Tigray grenzt. Unser Mandat von der Regierung in Addis Abeba besteht darin, den Menschen dort in ihrer Entwicklung zu helfen, wo sie wirtschaftlich abgeschnitten sind und auch das öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen sie nicht erreicht. Wir sind jetzt mit 36 Bezirken in fast in allen Bezirken aktiv. Wir laufen mit Kamelen zu den Haushalten, wo keine Straßen hinführen. Und das sind vermutlich zwei Drittel des ganzen Bundesstaats.

Zur Person

Die Australierin Valerie Browning lebt seit über 30 Jahren im Nordosten Äthiopiens im Bundesstaat Afar. In dem sehr unwirtlichen, trockenen und heißen Gebiet lebt das Hirtenvolk der Afar. Browning hat auf Bitten von örtlichen Clansführern die erste Hilfsorganisation der Region gegründet. Heute ist sie Programmkoordinatorin der Afar Pastoralists Development Association (APDA).  

Worin besteht ihre Arbeit hauptsächlich?

Wo es keine Gesundheitsstationen und keine Impfungen, keine Schulen, kein Wasser und Sanitäranlagen haben wir Programme entwickelt, um den Menschen Lesen und Schreiben beizubringen. Afar war davor keine geschriebene Sprache. Weil die Hirten mit ihren Familien als Nomaden leben und nach Grasland und Wasser für die Herden suchen, entwickelten wir ein mobiles Bildungssystem mit einer Tafel auf dem Rücken eines Kamels. Der größte Bedarf herrscht in der Mutter-Kind-Gesundheit, die Sterblichkeit war ein großes Problem. Wir haben über 300 Gesundheitsarbeiterinnen trainiert, die von Haus zu Haus gehen und sich um Mangelernährung, Hygiene, Mehrfachimpfungen oder Schwangerschaftsberatung kümmern. Und wir bilden sie weiter in Diagnostik, denn ein Kind kann in 24 Stunden an hohem Fieber sterben, an Malaria oder Lungenentzündung. Und wir haben aus den Gemeinden eine ganze Reihe von Frauen zu einer Art Sozialarbeiterinnen ausgebildet.

Wovon leben die Gemeinschaften?

Mehr als 90 Prozent der Menschen sind Halbnomaden und leben weitgehend von ihren Tierherden. Wir haben für die wirtschaftliche Entwicklung Kooperativen aufgebaut und Wege zum Markt, und auch ein System für Mikrofinanzen und Kredite, das wir an die Regierung übergeben haben. Und um die Existenzgrundlagen der Afar zu sichern – das ist unsere fünfte Säule – bemühen wir uns um Zugang zu Wasser und Speicher. Die Bundesregierung finanzierte uns vor ein paar Jahren eine Bohranlage, aber das ist in der Region nicht die einzige Lösung. Wir müssen auch Regenwasser sammeln. Und um die Viehbestände zu pflegen, beraten wir auch in Veterinärfragen und Tiergesundheit.

Ich überbringe die Botschaft, dass die Tigray-Befreiungsfront kein Recht hat, die Lebensgrundlagen der Afar zu zerstören.

Valerie Browning Programmkoordinatorin

Wie sehr hat sich die Versorgungslage in den vergangenen Jahren verschlechtert?

Als wir die Organisation gegründet haben – damals befanden sich die Afar im Bürgerkrieg mit Dschibuti – waren sie weitgehend Selbstversorger. Sie hatten riesengroße Mengen Milch. Wenn man zu Gast war, musste man literweise davon trinken. Heute haben sie gerade genug Milch, den Boden zu bedecken, wenn sie sich eine Tasse Tee einschenken. Wir haben nun Trockenzeiten, die sich auf sieben Monate im Jahr ausdehnen. Wir arbeiten an der Regenerierung des Weidelandes, denn das Weideland ist durch die Dürre und den Regenmangel stark angegriffen. Früher hatten wir vier Jahreszeiten im Jahr. Jetzt haben wir nur noch zwei.

Was sind die Folgen?

Es gibt in vier bis sieben Monaten im Jahr keine Milch. Die Ernährung wird einseitig, die Menschen essen nur helles Brot und kein Gemüse. Der Mangel an Mikronährstoffen führt besonders bei Kindern zu Verkümmerung. Außerdem ist die Zahl der Viehherden enorm geschrumpft, der Bestand liegt nur noch bei etwa 30 Prozent von dem, was er vor 10 bis 15 Jahren war. Es wird mit jeder Dürre schlimmer. Und wenn die Dürre endet, gibt es keine Erholungspause für Land und Tiere, sondern es treten oft sintflutartige Regenfälle auf, die zu Überschwemmungen führen und große Schäden verursachen. Das sind die Naturkatastrophen. Und vor kurzem sind auch noch Heuschrecken eingefallen, die große Mengen an Weideland vernichtet haben.

Wie können die Menschen überleben?

Nur sehr schwer. Ein Großteil ist heute unterernährt. Und diese Unterernährung hat einen Punkt erreicht, wo sie laut Regierung 95 Prozent der Bevölkerung betrifft. Das ist also ziemlich drastisch. Hinzu kommt gerade eine enorme Inflation bei allen Lebensmitteln und Rohstoffen. Die Leute haben also kein Einkommen und können kaum Lebensmittel kaufen. Sie warten darauf, dass Nothilfe verteilt wird und versuchen, einen Sack abzubekommen. Wenn nicht, kaufen sie ihn vielleicht für kleines Geld. Wenn sie je dreimal am Tag gegessen haben, dann sind es heute höchstens zwei, eher eine Mahlzeit. Ich habe erwachsene Männer getroffen, die von verlorenen Kindern berichteten, und die selbst nicht essen, sondern nur noch Tee trinken – sie tun Zucker hinein, und das ist der Kaloriengehalt.

Und dann hat der Konflikt der Volksbefreiungsfront TPLF im benachbarten Tigray die Lage verschärft?

Ja, nun kommt der Konflikt oben drauf. Und es ist dreifach schlimmer, weil die Rebellen der TPLF den Afar einfach alles weggenommen haben. Alles! Die Afar haben Menschen aus Tigray aufgenommen, die vor den Kämpfen der TPLF und der Regierungsarmee geflohen sind. Darauf folgte im Juli 2021 die erste Invasion der TPLF: Sie fielen in Zentral- und West- Afar ein und griffen mit Panzern und Artillerie und Schnellfeuergewehren an. Die Offensive dauerte bis Dezember. Sie hatten Kampftruppen und Einheiten, die vorsätzlich zerstörten: Wasserleitungen, Schulen, Hospitäler und Gesundheitszentren, Generatoren. Sie brandschatzten Häuser, entweihten Ehebetten. Soldaten kamen mit LKWs und plünderten Märkte, jeden einzelnen Laden – alles, was sie finden konnten, auch Lebensmittel. Sie trieben Herden zusammen, verbrannten Ziegen. Ihr Ziel war perfide und klar: den Afar die Lebensgrundlagen zu nehmen.

Haben Regierungstruppen versucht, das aufzuhalten?

Die Menschen können Trockenheit verstehen, bis zu einem gewissen Grad können sie auch Fluten verstehen. Aber sie verstanden nicht, was mit der TPLF über sie kam. Man hatte zu den Tigray ein gutnachbarschaftliches Verhältnis. Unsere Streitkräfte versuchten, die Offensive der TPLF schnell zurückschlagen, aber die waren stärker. Sie haben angeblich eine Million Männer unter Waffen, die Afar einige Hundert. Gegen die erste Offensive kamen auch Regierungstruppen zu Hilfe, aber ihre Verstärkung durch Oromo-Soldaten desertierte. Bei der zweiten Offensive waren die Afar auf sich gestellt. Bis April hielten die TPLF Teile des Ostens. Ihr Ziel war es, die Hauptstraße von Addis nach Dschibuti abzuschneiden, die für die Exporte des Landes sehr bedeutsam ist. Das haben die Afar verhindert. Es war fürchterlich: Sie schickten tausende blutjunger Männer und Frauen in die Schlacht, von denen viele ihr Leben verloren. Aber hätten wir die Straße nicht verteidigt, hätte die TPLF die Kontrolle über die Wirtschaft übernommen – und das Land wäre in Nord und Süd zerbrochen.

Wie ist die Versorgung mit humanitärer Hilfe gewesen. Nach Tigray kamen lange keine Lieferungen durch. Wie steht es um Afar?

Den Afar wurde vorgeworfen, sie würden Hilfskonvois behindern. Aber das stimmt nicht. Mein Mann und ich haben das überprüft. Wir haben hunderte von Lastwagen nach Tigray fahren sehen. Aber ein Flüchtlingslager in Afar mit hungernden Menschen neben der Straße blieb außen vor. Ich habe dem Leiter des Welternährungsprogamms (WFP) auch gesagt, dass die Menschen mit ungemahlenem Korn nichts anfangen können, weil die Mühlen zerstört sind. Sie können das nicht essen. Die Mangelernährung geht durch die Decke. Schwangere Mütter und Kinder verhungern täglich, wir sehen uns mit akuter Hungersnot in einigen Gegenden konfrontiert. Wir sind in der katastrophalsten Lage, die ich in mehr als 30 Jahren in der Region erlebt habe.

Wollen Sie sagen, dass die Afar vergessen werden?

Sie bekommen sicher nicht die humanitäre Hilfe, die sie brauchen. Ich bin in Europa und Deutschland, um Regierungen und international tätigen NROs die Botschaft zu überbringen, dass die TPLF kein Recht hat, die Lebensgrundlagen der Afar zu zerstören. Die Offensiven haben uns in der Entwicklung 50 Jahre zurückgeworfen. Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung – sogar die Bienenstöcke im Norden haben sie blind zerstört , und auch die 2015 von der deutschen Organisation Target am Rand der Danakilwüste eröffnete Frauenklinik. Sie schreiben auf Mauern, dass sie sechs weitere Bezirke einnehmen wollen, und dass die Afar verschwinden sollen. Wir haben gar kein Problem mit den Menschen in Tigray, wir kommen gut aus. Das Problem ist die blutrünstige, kriegerische Führung der TPLF, die alles tut, um nach dem Machtverlust 2018 wieder an die Regierung zu kommen.

Wie beurteilen Sie den so genannten Friedensprozess? Regierung und TPLF bereiten sich auf Verhandlungen vor.

Nun, es herrscht seit drei Monaten eine humanitäre Waffenruhe. Es gab ein erstes Treffen der Kriegsparteien in Tansania, an denen auch ein Gesandter der Afar teilnehmen sollte. Aber vieles geht in eine ungute Richtung. Mein Eindruck ist, dass im politischen Getriebe die Kräfte nicht zugunsten der Afar arbeiten. Es ist zu hören, dass die USA die Regierung von Premierminister Abiy Ahmed durch eine Übergangsregierung ersetzen wollen, um dann die TPLF zurückzuholen. Die treibende Kraft für Verhandlungen ist der Westen, strategisch brauchen sie ein stabiles Land in dieser Gegend, wo alle anderen noch unzuverlässiger sind. Sie wollen eine Regierung, die gefügig ist, die sie manipulieren können.

Wie kann es politisch weitergehen?

Es brennt eben leider an an vielen Ecken und Enden. Es gibt Kämpfe an der Grenze zum Sudan, zwischen den Oromo und den Amhara. Die Region Somalia wartet noch ab, was geschieht. Vieles steht auf Messers Schneide. Abiy hat nach Jahrzehnten der totalitären Herrschaft Oppositionelle flugzeugweise zurück nach Äthiopien geholt. Nun schüren sie Unheil. Aber wenn es eine friedlichen Lösung geben kann, dann muss sie äthiopisch entschieden werden. Wir müssen uns gegenseitig wieder zuhören. Äthiopien war nie eine Nation, sondern ein Land, dessen Grenzen von den Kolonialmächten gezogen wurden.

Fürchten Sie, dass das Land zerfällt?

Ja, das tue ich. Und es würde wohl Versuche geben, die Provinz Afar einzunehmen, weil sie sehr reich an Bodenschätzen ist. Die vulkanische Erde enthält viele Erze, wir haben hochwertige Pottasche, Schwefelseen, Salz. Der größte Fluss ist sehr verschmutzt von Fabriken außerhalb von Afar, aber daran entlang findet sich das wenige Agrarland, etwa fünf Prozent. Sonst leben die Menschen von ihren Tieren.

Was ist jetzt wichtig für Auswege aus der Krise?

Über allem steht, dass die Afar sich wegen mehrerer Krisen in akuter Not befinden, und die Lösungen für das halbnomadische Volk, an denen wir arbeiten, sind Mikrogärten, Modellfarmen und der Anbau von Tierfutter, um die Trockenzeiten zu überbrücken. Dafür arbeiten wir auch mit der Universität von Samara zusammen.  Wir betreiben außerdem Projekte zum Gartenbau, wo Haushalte in kleinem Maßstab neben Tomaten und Zwiebeln erstmals Spinat anbauen.

Das Gespräch führte:

Marina Zapf, Journalistin, berichtet seit 20 Jahren aus Berlin über Themen der Außen, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Marina Zapf Team Welternährung.de

Das könnte Sie auch interessieren