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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 06/2024
  • Benjamin Davis
Schwerpunkt

Drohende Hungersnot in Gaza – Recht auf Nahrung ist stark eingeschränkt

Es bräuchte Druck auf die Konfliktparteien, damit sie völkerrechtlichen Verpflichtungen für ein Mindestmaß an Nahrung, Unterkunft und Gesundheit nachkommen. UNO-Sicherheitsrat könnte Untersuchung in die Wege leiten.

Gazastreifen: Ein Mann beim Kochen einer Suppe unter freiem Himmel. © CESVI

Die Eskalation des Konflikts im Gaza-Streifen seit Oktober 2023 hat zu einer schweren humanitären Krise geführt, die durch eine weitreichende Ernährungsunsicherheit gekennzeichnet ist. Mehrere aufeinanderfolgende Berichte zur "Integrated Food Security Phase Classification" (IPC – Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen) haben das extrem hohe und steigende Niveau der akuten Ernährungsunsicherheit im Gazastreifen dokumentiert. Der jüngste Bericht vom 18. März 2024 zeigt, dass 50 Prozent der Bevölkerung von einer Hungersnot bedroht sind, wobei sich die Bedingungen rapide verschlechtern. 

Die über den Gazastreifen verhängte Blockade, die anhaltenden Bombardierungen und Bodenoperationen der vergangenen Monate sowie die Einschränkungen bei der Leistung von Nothilfe haben zu schwindenden Nahrungsmittelvorräten und weit verbreiteter Knappheit geführt. Im landwirtschaftlichen System wurden landwirtschaftliche Flächen und Infrastrukturen wie Lebensmittelverarbeitungsanlagen, Gewächshäuser, Brunnen, Bauernhöfe, Bäckereien und Lagerhäuser stark beschädigt; außerdem wurde die Bevölkerung von Agrarflächen vertrieben und der Zugang zu landwirtschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt. Die Fischerei ist weitgehend zum Erliegen gekommen. 

Der physische und wirtschaftliche Zugang zu Nahrungsmitteln, eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung, wurde durch die Kampfhandlungen, die massive Vertreibung von Menschen, die Einfuhrbeschränkungen und das begrenzte Angebot an humanitärer Nahrungsmittelhilfe sowie die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, einschließlich Märkten und Bäckereien, stark beeinträchtigt. Die offiziellen Märkte sind zusammengebrochen, und die Preise für Nahrungsmittel (Mehl, Jodsalz, Grundnahrungsmittel, Kartoffeln) sind drastisch gestiegen. Zugangsbeschränkungen zum Gazastreifen behindern den humanitären und kommerziellen Verkehr, so dass die täglich verfügbaren Nahrungsmittel (nach Gewicht) um die Hälfte niedriger sind als vor Oktober 2023. 

Da der Markt immer weniger funktioniert, die humanitäre Hilfe begrenzt ist und die verfügbaren Vorräte unerschwinglich werden, lassen fast alle Haushalte täglich Mahlzeiten ausfallen. Sie greifen täglich zu drastischen Bewältigungsstrategien, um mit dem Mangel an Nahrungsmitteln oder an Geld für den Kauf umzugehen. Die Qualität der Ernährung hat sich rapide verschlechtert: Die Menschen sind stark auf Getreide und Knollengewächse angewiesen und nehmen kaum noch eiweißreiche Lebensmittel oder Obst und Gemüse zu sich. Dass auf wildwachsende oder unsichere Nahrungsmittel zurückgegriffen werden muss, verdeutlicht die Verzweiflung vieler Haushalte. Länger andauernde und extreme Nahrungsmittelknappheit erhöhen das Ernährungsrisiko, insbesondere bei gefährdeten Gruppen wie Kindern, schwangeren und stillenden Frauen und älteren Menschen, und führen zu einem erhöhten Auftreten von Diarrhöe, akuten Atemwegs- und anderen Infektionskrankheiten. 

Die Versorgung mit humanitärer Hilfe wurde unterbrochen oder ungleichmäßig auf die Regionen und die gefährdeten Bevölkerungsgruppen innerhalb der Regionen verteilt. Angesichts der Gewalt, der Unsicherheit und der Zerstörung sind Frauen, Kinder, ältere Menschen und Behinderte beim Zugang zu Nahrungsmitteln erheblichen Gefährdungen ausgesetzt. 

Gazastreifen: Eine Familie in den Ruinen eines von israelischen Geschossen zerstörten Hauses. © CESVI

Ernährungssicherheit erfordert die richtige Verwertung von Lebensmitteln, was von der Verfügbarkeit von sauberem und sicherem Trinkwasser, einer angemessenen Zubereitung, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsversorgung abhängt. Der Zugang zu sauberem Wasser zum Waschen und Kochen ist stark eingeschränkt; das meiste Wasser ist nicht zum Trinken geeignet. Kochbrennstoffe jeglicher Art sind für die meisten Menschen unerreichbar. Die meisten Gesundheitseinrichtungen sind nicht funktionsfähig, und der Zusammenbruch der sanitären Einrichtungen führt in Verbindung mit anderen Risikofaktoren zu einer hohen Sterblichkeitsrate durch endemische Krankheiten. 

Die Schäden am Nahrungsmittelsystem des Gazastreifens werden langanhaltende Auswirkungen haben und die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittelversorgung über Jahre hinweg beeinträchtigen. Dies ist auf die Zerstörung von Ackerland und wichtiger Infrastruktur sowie auf die weit verbreitete Kontaminierung landwirtschaftlicher Flächen durch nicht explodierte Munition zurückzuführen. 

Das Recht auf Nahrung in Konflikten 

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) wurde die Ernährung als zentraler Aspekt eines angemessenen Lebensstandards anerkannt. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) hat dieses Recht 1966 weiter gefestigt. 

Die Staaten sind verpflichtet, das Recht auf Nahrung schrittweise zu verwirklichen und dabei sicherzustellen, dass keine Diskriminierung stattfindet, es zu keinen Rückschritten kommt und mit allen verfügbaren Mitteln auf die Verwirklichung des Rechts hingearbeitet wird. Zu diesen Verpflichtungen gehört die Bereitstellung eines Mindestmaßes an Nahrung, Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Bildung. 

Menschenrechte, einschließlich des Rechst auf Nahrung, gelten in bewaffneten Konflikten und unter Besatzung fort. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICESCR) enthält keine ausdrücklichen Ausnahmeklauseln, so dass das Recht auf Nahrung auch in Notsituationen anwendbar bleibt. In bewaffneten Konflikten ergänzt das humanitäre Völkerrecht die Menschenrechte. 

Die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, die für die derzeitige Situation in Gaza relevant sind, betonen die Verantwortung der Besatzungsmacht, die Ernährungssicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Artikel 55 der Vierten Genfer Konvention erlegt der Besatzungsmacht auf, die notwendige Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, wenn die Ressourcen innerhalb des besetzten Gebietes nicht ausreichen. Artikel 59 verpflichtet die Besatzungsmacht, Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung zu erleichtern, einschließlich der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und Kleidung. Darüber hinaus unterstreicht Artikel 23 die Notwendigkeit einer besonderen Rücksichtnahme auf gefährdete Gruppen wie Kinder unter fünfzehn Jahren, werdende Mütter und Wöchnerinnen, um ihren Zugang zu lebensnotwendigen Nahrungsmitteln zu gewährleisten. 

Die Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen verbieten ausdrücklich das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung und die Zerstörung von Objekten, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlich sind – darunter Lebensmittelvorräte und landwirtschaftliche Flächen. Im Mai 2018 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2417, die das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung verurteilt und einen sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu bedürftigen Bevölkerungsgruppen fordert. 

Was muss getan werden, um das Recht auf Nahrung in Gaza zu schützen? 

Dringendes Handeln ist von größter Wichtigkeit. Im Gazastreifen herrscht unermessliches Leid, und es besteht die Gefahr, dass die Menschen dort verhungern. In erster Linie ist die sofortige Umsetzung eines Waffenstillstands notwendig, um den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu gewährleisten, damit die dringenden Bedürfnisse der Menschen im Gazastreifen erfüllt werden können. 

Die humanitäre Krise im Gazastreifen unterstreicht die dringende Notwendigkeit, dass die Staaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und den Zugang zu Nahrungsmitteln für alle sicherstellen, auch in Konfliktgebieten. Zusammenarbeit und die Einhaltung des Rechtsrahmens sind unerlässlich, um die unmittelbaren Bedürfnisse der gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu befriedigen und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern. 

Wie im IPC-Bericht vom März 2024 betont wird, „kann die prognostizierte Hungersnot verhindert oder gelindert werden. Alles deutet darauf hin, dass die Zahl der Todesfälle und der Unterernährung stark zunehmen wird. Es ist nicht vertretbar, auf eine nachträgliche Einstufung als Hungersnot zu warten, bevor man handelt“. 

© FAO, 2024 

Die in dieser Veröffentlichung geäußerten Ansichten sind die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten oder die Politik der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen wider. 

Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*in/nen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider. 

Benjamin Davis Director, Rural Transformation and Gender Equality Division, Welternährungsorganisation (FAO)
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