Ernährungssicherheit in bewaffneten Konflikten schützen
Kriegsgewalt treibt immer mehr Menschen in den Hunger, Geber kürzen Mittel, und Kriegsparteien blockieren Hilfen. Um die Ernährungssituation in Kriegsgebieten zu verbessern, muss humanitäre Hilfe dringend reformiert werden.

Die derzeit gravierendsten Ernährungskrisen herrschen im Gazastreifen und im Sudan. Beide Kontexte sind von jahrzehntelangen Konflikten und weit verbreiteter Ernährungsunsicherheit geprägt, die viele Menschen verwundbar gemacht haben. Auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die israelische Regierung mit Luftangriffen und Bodenoffensiven im Gazastreifen reagiert. Neben Gebäuden, Schulen, Krankenhäusern und Straßen wurde auch die landwirtschaftliche Intrastruktur nahezu komplett zerstört; Nahrungsmittelpreise sind in die Höhe geschossen. Die gesamte Bevölkerung (2,2 Millionen Menschen) leidet unter der Ernährungskrise; 80 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen ist ständig auf der Flucht.
Der Krieg im Sudan, der im April 2023 zwischen der sudanesischen Armee und den Rapid Support Forces ausbrach, hat zu der derzeit größten humanitären Krise geführt. Rund 26 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, leiden unter Hunger und Unterernährung. Schätzungsweise 125 000 Menschen sind durch direkte Kriegshandlungen, Hunger oder Krankheiten gestorben. Über 12 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht; davon sind drei Millionen in die Nachbarländer geflohen.
Gewaltsame Konflikte wichtigste Ursache für Ernährungskrisen
Ernährungskrisen werden meistens durch das Zusammenspiel gewaltsamer Konflikte, Extremwetterereignisse und Wirtschaftskrisen ausgelöst. Gewaltsame Konflikte gelten allerdings seit Jahren als Hauptursache für die großen Ernährungskrisen unserer Zeit. Nach Angaben des Global Report on Food Crises betraf dies im Jahr 2023 rund 135 der 280 Millionen Menschen, die in den 59 untersuchten Ländern und Gebieten im hohen Maße an akuter Ernährungsunsicherheit gelitten haben.
Dazu gehören außer dem Gazastreifen und Sudan auch andere Krisen- und Konfliktkontexte, beispielsweise die Bandengewalt in Haiti, die andauernden Konflikte im Jemen, in der Zentralafrikanischen Republik und Nigeria, die erneut eskalierte Gewalt im Osten der Demokratischen Republik Kongo und der Bürgerkrieg in Myanmar. Durch die Kriegshandlungen waren dort bereits vor dem Erdbeben Ende März – in Kombination mit steigenden Preisen und Extremwetterereignissen – fast 13 der rund 58 Millionen Einwohner:innen von einer Ernährungskrise betroffen.
Ländliche Bevölkerung besonders von gewaltsamen Konflikten betroffen
Gewaltsame Konflikte betreffen die Menschen in urbanen Räumen und ländlichen Regionen gleichermaßen. So haben die Kämpfe in der sudanesischen Hauptstadt Khartum sowie die Angriffe auf Städte im Gazastreifen verheerende Auswirkungen auf die städtische Bevölkerung gehabt. In vielen Konfliktregionen konzentrieren sich die Kämpfe jedoch auf ländliche Regionen, in denen die Menschen von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und Viehzucht leben. Viele leben in Armut und haben nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung, um auf Krisen und Konflikte reagieren zu können. Wird ihre Lebensgrundlage zerstört, wirkt sich das direkt auf die Ernährungssicherheit aus, beispielsweise wenn Landwirte ihre Felder nicht mehr bestellen können, weil es zu gefährlich ist, oder weil sie kein Saatgut und Düngemittel erwerben können.
Wenn Kriegsakteure landwirtschaftliche Flächen und Infrastruktur zerstören, etwa durch die Bombardierung von Bewässerungskanälen und Straßen oder durch Landminen, beeinträchtigt dies die Nahrungsmittelproduktion und Viehzucht – auch noch Jahre nach Beendigung eines gewaltsamen Konflikts. Die Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit sind besonders gravierend, wenn Kriegshandlungen zu massenhafter Flucht und Vertreibung der ländlichen Bevölkerung führen.
Als Folge brechen oft die lokale Agrarproduktion und regionale Versorgungsketten ein und Nahrungsmittelpreise steigen. Geflüchtete können ihre Existenz nicht mehr sichern und sind zumindest zeitweise auf Hilfe angewiesen.
Für die Kriegsakteure ist die kontinuierliche Beschaffung von Nahrungsmitteln von strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Wenn Kriegsparteien die Kontrolle über landwirtschaftliche Ressourcen und Vieh übernehmen oder Steuern auf Agrarprodukte erheben, trifft dies die lokale Bevölkerung und ihre Ernährungslage direkt.
In extremen Fällen nutzen Kriegsakteure das Aushungern bestimmter Bevölkerungsteile als Kriegstaktik, wenn sie die Lebensmittelversorgung unterbrechen, den Zugang zu Nahrung blockieren oder bewusst die landwirtschaftliche Infrastruktur zerstören (Strategie der „verbrannten Erde“). So blockiert beispielsweise die israelische Regierung seit Anfang März jegliche Einfuhr humanitärer Hilfe in den Gazastreifen. Auch im Sudan haben beide Kriegsparteien regelmäßig den Zugang internationaler Hilfsorganisationen verhindert oder verzögert. Zudem zerstörten sie systematisch Ernten, Felder und landwirtschaftliche Geräte, vor allem in den von den Rapid Support Forces kontrollierten Gebieten.
Der Teufelskreis gewaltsamer Konflikte und Ernährungssicherheit
Die Zusammenhänge zwischen Ernährungsunsicherheit und gewaltsamen Konflikten ergeben sich aus einem komplexen Zusammenspiel von politischen, sozialen, wirtschaftlichen und umweltbedingten Risiken. Sie können zu kaskadierenden Effekten oder gar zu einem Teufelskreislauf führen. Bewaffnete Konflikte verschärfen bestehende Verwundbarkeiten der betroffenen Menschen und verringern ihre Fähigkeit, weitere "Schocks" zu bewältigen oder sich an neue Situationen anzupassen. So können konfliktbedingte Preissteigerungen die Ernährungsunsicherheit weiter verstärken und Konflikte verschärfen. Ebenso treffen in Kriegszeiten Naturgefahren und Extremwetterereignisse die Bevölkerung viel härter und erschweren den Zugang zu Nahrungsmitteln dramatisch.
Besonders betroffen sind Frauen und Kinder und andere verwundbare Personen. Frauen, zum Beispiel, haben nur begrenzt Zugang zu Land. In Konfliktsituationen kann ihr Zugang zu Ressourcen weiter eingeschränkt und damit ihre Ernährungssicherheit überproportional gefährdet sein. Negative Bewältigungsstrategien, wie mehrere Mahlzeiten am Tag zu streichen oder auf eine weniger nährstoffreiche Ernährung umzustellen, führen zu Mangelernährung. Dies kann schwere Auswirkungen auf die Gesundheit insbesondere von Schwangeren und Kindern haben.
Bewaffnete Konflikte schränken zudem die dringend notwendige Gesundheitsversorgung ein, wenn Krankenhäuser zerstört werden, weniger qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, und durch Trennung und Flucht die innerfamiliäre Pflege unmöglich wird.
Die Schwächen internationaler humanitärer Hilfe
Zwar ist die humanitäre Hilfe in den vergangenen Jahrzehnten schneller und effektiver geworden. Jedoch zeigen die Ernährungskrisen in den Konfliktkontexten der letzten Jahre auch die Schwächen des Systems auf, trotz rechtlicher Regelungen. Das Recht auf Nahrung ist grundlegend in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgelegt und im Artikel 11 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) von 1966 verankert. Demnach müssen Staaten, aber auch nichtstaatliche Akteure wie internationale Organisationen, das Recht der Menschen auf Zugang zu angemessener Nahrung respektieren, schützen und erfüllen.
Das humanitäre Völkerrecht schützt insbesondere den Zugang zu Nahrungsmitteln während eines bewaffneten Konflikts. So ist die Zerstörung von überlebenswichtiger Infrastruktur verboten. Zudem müssen Kriegsparteien Hilfen zulassen und erleichtern, wenn das Überleben der Zivilbevölkerung gefährdet ist. Das Aushungern als Kriegstaktik ist beim internationalen Strafgerichtshof als Kriegsverbrechen klassifiziert.
Die aktuelle Lage zeigt jedoch, dass Regierungen oder Kriegsakteure oft nicht in der Lage oder schlicht nicht willens sind, angemessen auf Ernährungskrisen zu reagieren und die Zivilbevölkerung zu schützen. Gleichzeitig wird humanitäre Hilfe politisiert: Sie wird oft verhindert, wie die Beispiele der Kriege im Gaza und Sudan zeigen, oder instrumentalisiert, wie beispielsweise während des Bürgerkriegs in Syrien. Humanitäre Helfer können außerdem selbst zur Zielscheibe werden; im Gazastreifen sind bislang insgesamt mindestens 399 Mitarbeitende von Hilfsorganisationen gestorben.
Zudem sorgen die Mittelkürzungen westlicher Geberländer bereits zu Einschnitten in der humanitären Hilfe in vielen Krisenkontexten. Das Einfrieren der Mittel der amerikanischen Behörde für Entwicklung (US Agency for International Development, USAID) zeigt eine zunehmende Politisierung der humanitären Hilfe seitens der Geberländer. Es besteht die Gefahr, dass die humanitäre Hilfe vermehrt außenpolitischen Interessen untergeordnet wird, auf Kosten der von Krieg und Ernährungsunsicherheit betroffenen Menschen.
Weitreichende Reformen des Hilfssystems erforderlich
Um die Ernährungssicherheit in bewaffneten Konfliktgebieten zu gewährleisten, braucht es deshalb weitreichende Reformen, die das gesamte Hilfssystem betreffen:
- Beim Recht auf Nahrung muss die Rechenschaftspflicht verbessert werden. Die 2018 verabschiedete UN-Sicherheitsrats-Resolution 2417 unterstreicht, dass die Konfliktparteien das Völkerrecht einhalten müssen und verurteilt jegliche Verweigerung des humanitären Zugangs. Humanitäre Organisationen sollten gezielt über Verstöße in konfliktbedingten Ernährungskrisen berichten und den Sicherheitsrat zum Handeln auffordern.
- Oberstes Ziel der humanitären Hilfe muss weiterhin sein, Leben zu retten, Leiden zu verringern und die Rechte der auf Hilfe angewiesenen Menschen zu schützen. Entscheidend für die Hilfe muss allein das Maß der Not sein. Humanitäre Organisationen müssen diese Ziele sowohl gegenüber Regierungen der Geber- als auch der Empfängerländer öffentlich verteidigen.
- In jeder Krise sind es zuerst lokale Akteure, die Unterstützung leisten, insbesondere, wenn internationalen Organisationen Zugänge verwehrt werden. Gerade bei langanhaltenden Krisen müssen lokale Organisationen aufgebaut und unterstützt werden mit dem Ziel, dass sie die notwendige Unterstützung vor Ort leisten können. Dies macht die humanitäre Hilfe nicht nur effektiver, sondern auch günstiger.
- Es sind meistens lokale Organisationen und lokales Personal internationaler Organisationen, die Unterstützung für Menschen in Konfliktgebieten leisten. Diese Helfer:innen sind den größten Sicherheitsrisiken ausgesetzt, sie genießen aber weniger Privilegien als internationales Personal. Lokales Personal muss deshalb besser rechtlich und vertraglich geschützt werden.
- Die in Kriegs- und Konfliktgebieten lebenden Menschen reagieren unterschiedlich auf Ernährungskrisen. Ihre Bewältigungs- und Anpassungsstrategien hängen davon ab, über welche Ressourcen sie verfügen. Für viele von ihnen ist die humanitäre Hilfe nur eine von mehreren Bewältigungsstrategien. Bewährte lokale Praktiken sollten besser in Hilfsmaßnahmen integriert werden. Dabei müssen die Bedarfe verwundbarer Gruppen, insbesondere von Frauen, Kindern und älteren Menschen, besonders berücksichtigt werden.
- Besonders in langanhaltenden Krisen sollte Nahrungsmittelhilfe möglichst mit Entwicklungs- und friedensfördernden Maßnahmen verknüpft werden (Humanitarian-Development-Peace-Nexus), um nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme zu fördern, die Umwelt zu schützen und den Menschen Perspektiven für eine friedliche und selbstbestimmte Zukunft zu bieten. Allerdings erfordert dies eine fundierte Analyse, um lokale Ernährungssysteme, strukturelle Verwundbarkeiten, aber auch diverse Entwicklungs- und Friedensvisionen besser verstehen zu können und eine konfliktsensible und an den lokalen Kontext angepasste Unterstützung zu gewährleisten.
Konfliktbedingte Ernährungskrisen sind menschengemacht. Es ist nicht die alleinige, aber auch die Aufgabe der internationalen humanitären Hilfe, diesen Krisen nicht nur bestmöglich zu begegnen, sondern auch das Notwendige zu tun, um sie zu verhindern.
