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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 02/2020
  • Klaus Ehringfeld

Zehn verlorene Jahre in Haiti

Der Karibik-Staat hat aus dem verheerenden Erdbeben von 2010 wenig gelernt. Nach wie vor sind die Menschen mit dem täglichen Überleben beschäftigt.

Haiti ein Jahr nach dem Beben 2010: Bewohner in Port-au-Prince kommen notdürftig in Zeltstädten unter. © Welthungerhilfe

Beim Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben sind in Haiti viele Dinge falsch gelaufen – was nie hätte passieren dürfen. Nach wie vor gehört der Hunger zu den größten Problemen der Menschen in dem Karibikstaat. Der Reporter Klaus Ehringfeld hat Betroffene vor Ort befragt. Eine Reportage.

Man braucht ein wenig, um den Ort zu erreichen, auf den in diesen Tagen des Erinnerns in Haiti so viele mit dem Finger zeigen. Man windet sich durch den chaotischen Verkehr von Port-au-Prince, verlässt Haitis Hauptstadt dann in nördlicher Richtung. An der Nationalstraße 1, die Port-au-Prince mit dem Nordwesten des Landes verbindet, sieht man dann schon von weitem Canaan, das manche die „hässlichste Narbe des Erdbebens“ nennen.  

In dem Ort, dessen Name so viel verheißt, der aber doch alles schuldig bleibt, sollen 300.000 Menschen leben, vielleicht auch mehr. So genau weiß das niemand zu sagen in dieser wildwuchernden Ansammlung von Hütten, Häusern und Verschlägen auf kahlen, weichen Hügeln. Das haitianische Canaan hat keinen Anfang und kein Ende, kein Zentrum und keine Peripherie. Es hat einen Gesundheitsposten ohne Ärzte, eine Polizeistation ohne Polizisten und Straßen ohne Asphalt. Und vor allem evangelikale Tempel und unzählige Lottobuden. Wer in Canaan angekommen ist, dem bleibt nur noch, auf das große Glück oder Gott zu hoffen. Denn mit seinem biblischen Namensgeber hat dieser Ort nichts gemein. Während im sagenhaften Kanaan Milch und Honig flossen, fließt im haitianischen Canaan nicht einmal Wasser.

Canaan ist eine Ansammlung von Hütten, Häusern und Verschlägen. Es gilt als das schlimmste Beispiel für die Verslumung. Die vergessenen Bewohner nennen es „Bidonvilisation“. © Klaus Ehringfeld

Hier bündeln sich vielmehr viele der Dinge, die nach dem apokalyptischen Beben vom 12. Januar 2010 beim Wiederaufbau falsch gelaufen sind, was nie hätte passieren dürfen. Canaan sei das schlimmste Beispiel für die „Bidonvilisation“, die Verslumung, sagen Experten.

Vor zehn Jahren pulverisierte ein massiver Erdstoß von 37 Sekunden, der Port-au-Prince vertikal und horizontal durchschüttelte, die Dreimillionenstadt, riss 220.000 Menschen in den Tod und machte 2,3 Millionen Haitianer obdachlos.

Damals dachten Architekten und Aufbauhelfer, dass in dieser Jahrhundertkatastrophe auch eine Jahrhundertchance liege. Dass man diese geschundene, überfüllte und zerklüftete Stadt nicht einfach wieder aufbaut, sondern neu erfindet. „Nachhaltig, gerecht, ökologisch und erbebensicher“, sagt der Filmemacher Arnold Antonin. „Wir hätten eine gerechtere Gesellschaft schaffen können, geordnet, mit Chancen für alle und vor allem ökologisch - ein neues Haiti“, bedauert der 68-Jährige, der zu Haitis wichtigsten Stimmen der Zivilgesellschaft gehört.

Der Filmemacher Arnold Antonin gehört zu den wichtigsten Stimmen der Zivilgesellschaft. © Klaus Ehringfeld

Stattdessen sind Orte wie Canaan entstanden

Weit oben auf einem der namenlosen Hügel des Slums wohnt Evelyne Jean-Baptiste. Eine wortkarge Frau von 45 Jahren mit kurzen, geflochtenen Zöpfen. Sie teilt sich mit ihren drei Kindern ein Haus aus unverputztem Backstein und Wellblech. Zwei Räume, getrennt durch einen Vorhang. Madame Jean-Baptiste ist alleinerziehend, ihr Mann kam beim Beben ums Leben. Wie eigentlich alle sind auch sie und ihre drei Kinder nach Canaan gekommen, als das hier draußen noch hügelige Steppe war. Erst lebte die Familie in einem Zelt, jetzt hat sie immerhin ein einigermaßen festes Dach über dem Kopf.

„Es fehlt uns vor allem an Wasser, aber irgendwie fehlt es uns eigentlich an allem, auch an genügend Essen für die Kinder“, sagt die Frau. Nach wie vor ist der Hunger eines der größten Probleme des Karibiklandes. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnte Ende des Jahres davor, dass einer von drei Haitianern auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen ist, das entspricht 3,7 Millionen Menschen.

Evelyne Jean-Baptiste geht anders als die meisten anderen Menschen in Canaan nicht in Port-au-Prince zur Arbeit. Sie verkauft selbstgemachte Erdnussbutter, das Geld dafür bekommt sie von einer selbstorganisierten Mikrofinanz-Organisation.

Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern Evelyne Jean-Baptiste lebt auf einem der namenlosen Hügel des Slums Canaan. © Klaus Ehringfeld

Wer sich durch das Labyrinth von Canaan bewegt, um den Menschen zuzuhören, begegnet immer wieder Aussagen wie diesen von Frantz Charlestin, einem schmalen Mann von 29 Jahren. „Der Staat hat uns vergessen“, sagt Charlestin. „Und die internationalen Hilfsorganisationen sind auch schon seit Jahren weg“, schiebt er leise nach.

Wie für fast alle Menschen hier ist das Provisorium von damals auch für die Charlestins längst eine Dauerlösung geworden, aber keine Heimat. Seit April 2010 lebt die Familie in Canaan, alle drei Kinder sind hier geboren. Aber sie möchten lieber heute als morgen weg. Es gebe keine Arbeit, die Stadt sei weit weg, der Transport teuer. „Man hat uns aufgegeben“, klagt Frantz Charlestin.  

Vor zehn Jahren löste die verheerende Zerstörung des Bebens in kurzer Zeit große weltweite Solidarität aus. Helfer fluteten die kleine Karibikrepublik, Milliarden flossen. Vorsätze wurden gefasst, Versprechen gemacht. Aber kaum etwas scheint davon geblieben zu sein. Es entstanden nicht nur neue Mega-Slums wie Canaan, sondern auch Port-au-Prince sieht fast wieder so aus wie am Vorabend der Naturkatastrophe.

Man sieht wieder die waghalsig an die Hügel gebauten Wellblech- und Holzhütten. Sie krallen sich in die entwaldeten Hänge und sehen aus, als könnte der nächste Platzregen sie in den Abgrund spülen. Viele dieser neuen Orte sind entstanden, nachdem die Regierung die Zeltlager räumen ließ und den Menschen 500 Dollar in die Hand drückte, damit sie sich was Neues suchten. Nur ist die Stadt noch voller als damals, alles ist noch enger, der Verkehr noch dichter, die Bidonvilles noch größer.

Aber es gibt auch Dinge, die sich zum Positiven verändert hätten, sagt Dirk Guenther. Zum Beispiel sei die Regierung heute sehr viel besser vorbereitet auf eine vergleichbare Katastrophe. Insgesamt seien die staatlichen Strukturen verbessert worden, betont Guenther, der für die Welthungerhilfe arbeitet, Haiti seit langem kennt und kurz nach dem Beben wieder ins Land kam. „So ist das Management der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen jetzt computergestützt und kein Karteikasten mehr, der ja damals beim Beben auch verlorenging“.  Zudem seien die Regierungsgebäude heute erdbebensicher gebaut. „2010 wurden ja fast alle Ministerien komplett zerstört.“

Sicher bauen kostet Geld

Aber für die Bevölkerung habe sich nicht wirklich sehr viel zum Besseren gewendet. „Deutlich weniger als die Hälfte der Menschen wohnt heute sicher und angemessen.“ Dabei seien die Übergangsunterkünfte („Transitional shelter“), die von Hilfsorganisationen gebaut wurden und als Provisorium gedacht waren, zu einer Dauerlösung geworden. „Das ist oftmals besser und sicherer als das, was die Menschen selber gebaut haben.“ Der Großteil der Bevölkerung habe einfach nicht das Geld, sicherer zu bauen, unterstreicht Guenther, der derzeit wieder in Haiti arbeitet.

Dies bestätigt auch der Urbanist Francis Alphonse, der hervorhebt, dass es viele theoretische Verbesserungen gebe, dass diese aber selten in die Praxis umgesetzt würden. „Es wurden Regeln für die Ausbildung von Ingenieuren, Maurern und Stahlarbeitern geschaffen, und es gibt eine neue Bauverordnung.“ Aber keiner kenne diese Regelungen. „Die Menschen bauen so wie immer - irgendwo und irgendwie - und niemanden interessiert es. Bis wieder alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt“, ärgert sich der Stadtplaner, der bei DATIP arbeitet, einer haitianischen Agentur, die Gemeinden bei nachhaltigem Wiederaufbau berät.

Wellblechhütten für die Ewigkeit. Hier nach einem verheerenden Wirbelsturm 2016. © Welthungerhilfe

Tägliches Überleben sichern

Das Jahrhundertbeben scheint nach zehn Jahren aus dem Bewusstsein der Haitianer verschwunden. Zu sehr sind die Menschen damit beschäftigt, das tägliche Überleben zu sichern. Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung hat keinen Job, kann sich bestenfalls zwei Mahlzeiten am Tag leisten. Heute wie damals ist Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt, eines der ärmsten Länder der Welt und das bei weitem ärmste der westlichen Hemisphäre.

Auf dem UN-Entwicklungsindex belegt die Karibikrepublik Platz 169 von 174 Staaten, noch hinter dem Sudan. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 63,8 Jahren. Ständiges Thema bleibt die Unter- oder Mangelernährung. Das Welternährungsprogramm stellt gegenwärtig Nahrungsmittelnothilfe für 700.000 Menschen zur Verfügung. „Arme haitianische Familien leben in einer dramatischen Situation“, hebt Miguel Barreto hervor, WFP-Regionaldirektor für Lateinamerika und die Karibik.

Dirk Guenther von der Welthungerhilfe hält die Verringerung der Korruption für eine wichtige Voraussetzung zur Verbesserung der Entwicklungsvoraussetzungen. Zudem müsse man deutlich mehr Augenmerk auf die Sozialpolitik legen. Die Mehrzahl der Haitianer gäbe mehr als die Hälfte des monetären Einkommens für die Ausbildung der Kinder und die Gesundheit aus. Denn der Staat stelle diese Leistungen nur ungenügend zur Verfügung. In der Folge aber bliebe bei der armen Bevölkerung nicht mehr genügend Geld für die Ernährung der Familie übrig. „In Haiti wird ein sozialpolitisches Problem in ein humanitäres überführt. Damit reagiert man nur auf die Auswirkungen, aber nicht auf die Ursache,“ kritisiert Guenther. 

Klaus Ehringfeld, freier Journalist,
Klaus Ehringfeld Freier Journalist
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