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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 08/2021
  • Prof. Dr. Cornelia Füllkrug-Weitzel

Quo vadis Humanitäre Hilfe?

Dass Krisenhilfe zur neuen Normalität wird, ist nicht schicksalgegeben sondern die Konsequenz von politischem Versagen.

In Mosambik kommt viel zusammen: Nachwehen des Bürgerkriegs, extreme Wetterschäden und umtriebige islamistische Milizen. © DKH

1. Stetige Verschlechterung der humanitären Lage

Als ich vor mehr als 21 Jahren die Diakonie-Katastrophenhilfe (DKH) und Brot für die Welt als Präsidentin übernahm, wurde der globale Finanzierungsbedarf für humanitäre Hilfe auf 1,9 Mrd. US-Dollar geschätzt. In knapp 20 Jahren hat er sich auf 24,9 Mrd. (2019) mehr als verzehnfacht.(1)  

Das Heer der Menschen ohne Rechte und soziale Sicherheit, die kaum noch Subjekt ihres eigenen Schicksals sind, wächst seit zehn Jahren – seit sechs Jahren beschleunigt. 2020 waren bereits doppelt so viele Menschen temporär oder permanent auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen wie vier Jahre zuvor, und weltweit konnte jede/r Dritte sich nicht ausreichend und gesund ernähren (2). Die FAO interpretiert dies als neuen Trend, den Covid-19 nicht geschaffen, aber dramatisiert hat. Das Problem ist eher systemisch und untergräbt von Tag eins an die 2015 von der UN-Vollversammlung beschlossene Agenda 2030 zur Beseitigung von Hunger und extremer Armut. War das vorhersehbar – gar verhinderbar?

Keiner der Hauptfaktoren für die Verschlechterung der humanitären Lage ist schicksalhaft: Ungleichheit, Klimawandel, Gewaltkonflikte sind Produkte politischer und ökonomischer Entscheidungen. Sie nehmen die Verarmung und humanitäre Notlagen von immer mehr Menschen mindestens billigend in Kauf – oder beziehen sie gar ins politische Kalkül mit ein.

Keiner der Hauptfaktoren für die Verschlechterung der humanitären Lage ist schicksalhaft.

Prof. Dr. Cornelia Füllkrug-Weitzel, Rat für Nachhaltige Entwicklung

Ungleichheit: Obwohl die Globale Agenda 2030 zum Motto hat ‚Leave no one behind‘, ist seitdem die Scherenentwicklung zwischen armen und reichen Ländern und Menschen fortgeschritten (3) – ohne ernsthafte internationale Diskussion, wie den Ursachen systematisch entgegenzuwirken wäre. Wohl mahnt der OECD-Generalsekretär, dass dies mehr denn je nötig wäre (4). Gleichwohl scheint dieses ‚Abhängen‘ der vulnerabelsten Bevölkerungsteile und Regionen vom Weltmarkt, von der Politik und von Entwicklung quasi einkalkuliert.

Der Klimawandel zerstört schleichend in vielen Regionen Existenzgrundlagen und produziert akute Extremwetter, die 2019 nahezu 34 Millionen Menschen in 25 Ländern in eine Hungerkrise gestürzt haben. Millionen Menschen verlieren dadurch ihr Dach über dem Kopf und ihre Einkommensbasis. Diese Auswirkungen des Klimawandels sind lange bekannt – ebenso, dass sie zunehmen und mehr Regionen betreffen (werden). Es veranlasst die CO²-emittierenden Industrienationen aber nicht zu ambitionierteren Reduktionsbemühungen. Sie wollen auch für unwiederbringliche klimabedingte Verluste und Schäden im Süden nicht aufkommen.

Ein zerstörtes Gebäude in der syrischen Stadt Homs. In Syrien brauchen nach zehn Jahren Bürgerkrieg 13 Millionen Menschen Nothilfe wie Nahrungsmittel, Hygienepakete und Trinkwasser. © DKH

Fluchtbewegungen und Hunger (5) sind die Folge gewaltsamer Konflikte. Nachbarnationen oder Großmächte instrumentalisieren lokale gesellschaftliche und politische Konflikte, um die regionale oder globale Machtbalance zu verschieben oder ihre geostrategischen Interessen durchzusetzen. Immer komplexere Gemengelagen mit vielen Konfliktakteuren und ein steter Zustrom von Waffen behindern die Lösung von Konflikten (6), die dadurch immer länger dauern, sich regional ausweiten und gewalttätiger werden.

Missachtung der Menschenrechte, Shrinking Space und Anti-Humanitarismus

Humanitäre Gesichtspunkte, Prinzipien und das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung werden folgenlos ignoriert und systematisch gebrochen wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr: die Zivilbevölkerung wird in Geiselhaft genommen, sexuelle Gewalt gegen Frauen wird systematisch als Kriegsmittel benutzt, medizinische und humanitäre Helfer/innen, Einrichtungen und Infrastrukturen werden militärisch angegriffen, der Zugang zu umkämpften Gebieten (7) wird immer öfter verweigert: Der Anti-Humanitarismus nimmt zu, und die Weltgemeinschaft schweigt oder sieht weg. Selbst westliche Geberstaaten unterhöhlen – speziell im Kontext von Flucht und Migration – prinzipien-geleitete humanitäre Hilfe.

Ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und die Natur wird auch der globale Wettbewerb um Rohstoffe und natürliche Ressourcen (wie Wasser und Land) ausgetragen. Häufig werden ihre Besitzer oder legitimen Nutzer – wie indigene Völker und Kleinbauernfamilien – gewaltsam enteignet, bedroht und entschädigungslos vertrieben. Im Interesse nationaler oder internationaler Konzerne werden die Menschenrechte systematisch und wissentlich verletzt. Das soll die Organisations- und Widerstandsfähigkeit der marginalisierten Bevölkerung, von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen gegen die rücksichtslose Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsinteressen brechen.

Die Einschränkung (bis hin zur Schließung) von Handlungsräumen aktiver Zivilgesellschaft, Shrinking Space genannt, durch korrupte Eliten und Autokraten nimmt weltweit laufend zu. Von den Bedrohungen und Schikanen gegen aktive Bevölkerungsgruppen und NGOs, Medien und Gewerkschaften sind auch wichtige lokale Akteure der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe in ihrer Handlungsfähigkeit oder gar Existenz bedroht. Sie fehlen für den Schutz und die Unterstützung der Armen, für die Umsetzung der SDGs und als ‚first responder‘ im Katastrophenfall.

2. Humanitäre Hilfe statt Entwicklungshilfe ?

Wenn eine wachsende Zahl von Menschen so verarmt ist, dass bereits kleinere externe Schocks, aber erst recht dann Kriege, Extremwetter und Pandemie sie bedroht, dann gleiten immer mehr Menschen auf den Status humanitärer Hilfsempfänger ab. Sie verlieren auf unabsehbare Dauer jede Perspektive auf ein würdiges und selbstbestimmtes Leben. Einstige Motive der Entwicklungshilfe wie 'Hilfe zur Selbsthilfe‘ und mittelfristige Arbeit zum Abbau struktureller Gewalt sowie von Strukturen und Prozessen der Marginalisierung und Exklusion treten zurück zugunsten humanitärer Imperative.

Staatliche und zwischenstaatliche Finanzströme und Spendenbereitschaft für Entwicklungszusammenarbeit nehmen ab, während sie für die Humanitäre Hilfe zunehmen. Ursprünglich ‚reine‘ Entwicklungs-NROs nehmen humanitäre Hilfe zusätzlich als Geschäftsfeld auf oder verlagern ihre Prioritäten zwischen den beiden. Dies folgt weniger einer Einsicht als vielmehr den Geldern. Und es geschieht meist in vollem Bewusstsein, dass die o.g. Ursachen der zunehmenden humanitären Krisen mit mehr politischem Willen und weniger Mitteln langfristig zu bekämpfen wären – wie auch der Name eines Spendenbündnisses zurecht sagt: ‚Entwicklung hilft‘!

3. Von der Ursachenbekämpfung zur Resilienz?

Der erste humanitäre Weltgipfel in Istanbul 2016  stand zwar im Zeichen dieserDramatik. Weder hat er jedoch die Ursachen für die zunehmende Abhängigkeit von humanitärer Hilfe angesprochen, noch erforderliche politische Konsequenzen. Vielmehr war er um verbesserte Abläufe und Strukturen, die engere Zusammenarbeit mit der Entwicklungshilfe sowie um neue Formen und Quellen von Finanzierung aus der Business-Welt bemüht. Dies sind zweifellos relevante Themen. Sie lösen aber nicht die dahinterliegenden Grundsatzprobleme.

Entwicklungshelfer sind aus dem Konfliktherd Jemen längst abgezogen. Es bleiben Nothelfer, die Menschen mit dem Nötigsten versorgen. © DKH

Bestenfalls helfen sie, den Schaden zu begrenzen, der durch mangelnde politische Lösungsbereitschaft stetig wächst. Und sie helfen der betroffenen Bevölkerung, die kontinuierliche Beschädigung ihres Lebensumfeldes etwa durch Klimawandel und Gewalt, für die keine Änderung in Aussicht genommen wird, zu ertragen: Dauerhaft unter noch erbärmlicheren Bedingungen überleben lernen, ist ein neues Ziel internationaler Hilfe: Resilienzstärkung!  

Wo in angemessenen internationalen Foren geopolitische Interessen und Waffenexportverbote thematisiert werden müssten, damit lokale Konflikte nicht instrumentalisiert werden, und wo Konfliktsensibilität in der humanitären Hilfe zu schärfen wäre, wird neu über den sogenannten ‚Triple-Nexus‘ gesprochen: eine Verbindung des humanitären Mandates nicht nur mit der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch mit der Aufgabe der Friedenssicherung. Wie diese Aufgabe zu verstehen ist, bleibt aber unbestimmt. Das birgt die Gefahr, dass sicherheitspolitische oder militärische Interessen der Gebernationen zur Stabilisierung der Region zivile Interventionen dominieren, oder Militärs zu Akteuren der humanitären Hilfe werden.

Wo von einem nachhaltigen globalen Ernährungssystem zu reden wäre (8), wird über Cash-Assistance anstelle von Nahrungsmittelhilfen gesprochen. Wo im humanitären Interesse die Notwendigkeit einer zügigen Abkehr von einer kohlenstoffbasierten Lebens- und Wirtschaftsweise hervorzuheben wäre, wird vor allem in Klimaanpassung und ‚Resilienz‘ investiert – so wichtig das auch ist. Statt von angemessenem Finanzausgleich für unwiderrufliche Schäden und Verluste durch CO²-Emissionen durch internationale Verursacher sowie von einem internationalen Rechts- und Schutzstatus von Klimaflüchtlingen zu reden, werden Themen systematisch von allen Verhandlungen ausgeklammert, die den Schritt von Charity hin zu Rechtsansprüchen auf Ausgleich machen würden.

Wo von Reform und Stärkung des Multilateralismus, von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht zu reden wäre, wird darüber gesprochen, die Humanitäre Hilfe technologisch effektiver und ökonomisch effizienter zu machen. Sie soll ein ‚Social Business‘ werden mit Marktakteuren, die die globale Daseinsfürsorge ergänzen oder ersetzen, aus der sich viele Staaten (mit Ausnahme der Bundesregierung) ohnehin finanziell zurückziehen möchten (9) (oder zu der sie, wie die Golfstaaten, nie angemessen beigetragen haben). Öffentliche Verantwortung für humanitäre (und Entwicklungs-) Hilfe wird im Sinne des neoliberalen Privatisierungscredos teilprivatisiert.

4. Neue Werte, neue Ziele?

Während so einerseits immer mehr Menschen dazu verdammt werden, auf die Humanität der Völkergemeinschaften zu hoffen, ja darauf angewiesen sind, geraten die Werte Humanität, humanitäre Prinzipien und Rechte unter immer stärkeren Legitimationsdruck. Sie haben nur noch wenige Fürsprecher. Dagegen gewinnen Werte aus der Business-Welt im Kontext humanitärer Hilfe scheinbar an Plausibilität und werden zu zentralen Qualitätsmerkmalen erhoben: Effizienz, Wirksamkeit (in Zahlen gedacht), Transparenz.

Ein Dorf in Malawi: Das Welternährungsprogramm verteilt Bargeld zur Überbrückung von Nahrungsmittelknappheit bis zur nächsten Ernte und erteilt Hygienetraining gegen Covid-19. © WFP / Badre Bahaji

Nur ein prominentes Thema von Istanbul hatte oder hätte das Potenzial zu einer neuen Weichenstellung, wartet aber noch auf seine Entfaltung: die Lokalisierung. Mittlerweile ist allen Akteuren klar, dass die lokale Zivilgesellschaft und Politik, die im internationalen humanitären System bisher eine absolute Nebenrolle spielen, einen relevanten Mehrwert in der humanitären Hilfe aufweisen. Die Interessen an dem Thema sind jedoch – verkürzt gesagt – zwischen lokalen NGOs und zwischenstaatlichen Organisationen und NGOs aus dem Norden (10) anhaltend verschieden.

Erstere wollen die betroffene Bevölkerung und ihre politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen nicht wie willenlose Hilfsobjekte an den Rand gedrängt sehen, sondern wollen, dass sie eigenverantwortlich und auf Augenhöhe im internationalen System mitwirken. Dies ist ein emanzipatorischer – oder dekolonisatorischer – Ansatz. Letztere dagegen sind – ebenso zugespitzt – eher an der Stärkung der lokalen Kapazitäten/Alleinstellungsmerkmale und an deren höherer und flexiblerer Finanzausstattung interessiert. Die Lokalen sollen effektivere Durchführungspartner für die eigene Hilfsagenda und Programme werden. Eine andere Machtbalance zwischen Lokalen und Internationalen wird nicht angestrebt.

Während die Debatte stockt, bleiben lokale Organisationen – trotz mancher auch positiver Veränderung – de facto zur Umsetzung degradiert und sehen sich daran gehindert, eigenständig, bedarfsorientiert und kontextgerecht zu helfen: durch mangelnde institutionelle Finanzierung, unflexible und zeitlich limitierte Mittelvergabe seitens der Geber, durch vorgegebene Prioritäten und Hilfsdesigns, die nicht zwingend den Bedarfen vor Ort entsprechen, sowie durch weiter geringe Mittel für sektorübergreifende, ganzheitliche Programme.

Hinzu kommen rigide Auflagen für Sicherheit und Risikominderung, die sich einschränkend auf die Arbeitsfähigkeit auswirken. Stetig wachsende, gewaltige Anforderungen an Zuwendungsempfänger (z.B. seitens der europäischen ECHO) und immer größere Fördervolumina erschweren den ohnehin schwierigen Zugang von lokalen Akteuren zu internationalen Finanzmitteln. Gegen deren Beschränkung und (potentielle) Zerstörung, die sich weltweit im Gange befindet, hat man hingegen von internationalen humanitären Akteuren noch keinen entschiedenen Widerstand erlebt.

Referenzen:

(1) laut dem Global Humanitarian Overview 2021 von UNOCHA. Dort wird auch berichtet, dass sich der Bedarf für Ernährungssicherung in humanitären Appeals in nur fünf Jahren von $ 4,7 Billionen (2015) auf $ 8,9 Billionen (2020) fast verdoppelt hat.  

(2) Alle nachfolgenden Zahlen aus dem jüngsten Bericht der FAO, The State of Food Security and Nutrition in the World, FAO, Juli 2021

(3) OECD, In it Together, 2015 „Growth, if any, has disproportionally benefited higher income groups while lower income households have been left behind. This long-run increase in income inequality not only raises social and political concerns, but also economic ones“.

(4) "We have reached a tipping point. Inequality can no longer be treated as an afterthought. We need to focus the debate on how the benefits of growth are distributed“ OECD General Secretary, (2015), Vorwort zu ‚In it together‘

(5) 77 Millionen Menschen in 22 Ländern mussten 2019 laut UNOCHA (s.o.) wegen akuter oder chronischer bewaffneter Konflikte hungern.

(6) Geopolitische Spannungen haben zugenommen und Gewaltkonflikte verlängert indem sie die Schwierigkeiten „in getting policymakers to come together, [and] find collaborative, cooperative solutions” verstärkt haben. UNOCHA Global Humanitarian Overview 2021

(7) siehe die jüngste Debatte um die Offenhaltung des letzten Grenzübergangs nach Syrien für Hilfslieferungen

(8) „Food insecurity is set to get much worse unless unsustainable global food systems are addressed.“ UNOCHA Global Humanitarian Overview 2021

(9) An dieser Stelle sei ausdrücklich erwähnt, dass viele der in diesem Artikel genannten Trends nicht oder nur in geringem Maße auf die Bundesregierung zutreffen, die weltweit erfreulicherweise eine der noch wenigen Verteidiger des humanitären Völkerrechts und größten Finanziers der multilateralen humanitären Hilfe ist!

(10) Dabei gibt es Ausnahmen wie z.B. die ACT Alliance, das globale Netzwerk von 180 kirchlichen humanitären Organisationen aus Nord, Süd und Ost.

Prof. Dr. Cornelia Füllkrug-Weitzel Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE)

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