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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 10/2024
  • Prof. Dr. Conrad Schetter

Hilfsorganisationen: Das neue Normal der Polykrisen erfordert mutiges Umdenken

Konfrontiert mit Kriegen, Autokratien, Klimawandel und postkolonialer Kritik muss die Welthungerhilfe mit gewohnten Routinen brechen – und stärker auf Ursachen eingehen.

Auf Krisenmodus umgestellt. Im Libanon stellen Gemeinschaftsküchen jetzt Essenspakete für Vertriebene zusammen. © Welthungerhilfe

Die Welt ist zunehmend durch Polykrisen geprägt, in der sich verschiedene Krisen gegenseitig verstärken und damit deren Überwindung extrem erschweren: Gewaltsame Konflikte, autoritäre Regime, Klimawandel und Flucht bedingen sich gegenseitig und führen dazu, dass Regionen wie der Sahel, das Horn von Afrika oder Afghanistan seit Jahrzehnten kaum aus dem Krisenmodus herauskommen und eine Notlage endemisch wird. Leidtragende ist vor allem die lokale Bevölkerung, deren Existenzgrundlage tagtäglich auf den Prüfstand gestellt wird.

Bei der Bekämpfung dieser Verkettung von Krisen spielt die Welthungerhilfe mit ihrer Ausrichtung auf Ernährungssicherung eine zentrale Rolle. Jedoch wirkt sich die Zunahme und Intensivierung von Polykrisen auch auf die Arbeit der Welthungerhilfe aus, bedingt eine Anpassung der Organisation an ein verändertes Umfeld und stellt sie vor gewisse Dilemmata. Diese Perspektive soll in diesem Essay skizziert werden.

Zunahme von Gewaltkonflikten

Sicherlich ist der größte Einfluss auf die Arbeit der Welthungerhilfe, dass die Welt zunehmend „unsicher“ wird. Die Fragilität von Staaten nimmt überall auf der Welt zu, und auch die Zahl gewaltsamer Konflikte steigt seit zehn Jahren stetig an: Gab es etwa 2011 um die 50.000 Kriegstote, so liegt die Zahl seit 2022 bei über 200.000 – sie hat sich also vervierfacht. Vor allem der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Gewalt in Gaza und im Westjordanland wie auch die Bürgerkriege im Sudan und in Tigray/ Äthiopien sind hier zu nennen. Wichtig ist auch, dass die Dauer von Gewaltkonflikten kontinuierlich ansteigt. Im Schnitt dauert ein Bürgerkrieg heute 15 Jahre – Tendenz steigend.

Wirft man einen Blick auf die Einsatzländer der Welthungerhilfe, so wird deutlich, dass die Organisation überwiegend in Kontexten aktiv ist, in denen aufgrund der Dominanz von Gewaltkonflikten humanitäre Hilfe zunehmend im Vordergrund steht, während eine langfristig gedachte Entwicklungszusammenarbeit immer weniger umgesetzt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist das Zusammendenken von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensarbeit, was als HDP-Nexus Eingang in Politik und Praxis findet, sehr zentral. Hier ist die Welthungerhilfe als eine der wenigen Organisationen, die sowohl humanitäre Hilfe wie auch Entwicklungszusammenarbeit durchführt, gut aufgestellt. Sie verfügt über das Wissen, wie bei einer veränderten Konfliktlage von einem modus operandi in den anderen gewechselt werden kann. Allerdings war die Welthungerhilfe bislang kaum in Friedensarbeit involviert. Diese wird – aufgrund der Zunahme von Gewaltkonflikten – immer wichtiger werden und sollte auch im zukünftigen Portfolio der Organisation stärkere Berücksichtigung finden.

Zudem ist es erforderlich, sich zunehmend Gedanken über die Sicherheit der eigenen Mitarbeitenden zu machen. So hat sich die Anzahl der Sicherheitsvorfälle, bei denen zivile Helfer Opfer von Gewalt wurden, in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Dies ist alarmierend. Humanitäre Helfer werden immer häufiger zum Ziel militärischer wie auch terroristischer Angriffe. Die Tötung, Verwundung und Verschleppung humanitärer Helfer missachtet deren neutralen Status, der im humanitären Völkerrecht niedergeschrieben ist. Dies ist ein deutliches Zeichen der Verrohung von Gewalt, mit der auch die Welthungerhilfe konfrontiert ist.

Da Kriege zudem hoch politisiert sind, stellt sich für die Welthungerhilfe die Frage, inwiefern Kriegsparteien die geleistete Hilfe instrumentalisieren. So steht die Durchführung vor dem Dilemma, dass die Versorgung notleidender Bevölkerung oft damit einhergeht, dass Gewaltakteure versuchen, „Steuern“ zu erzwingen und auf die Verteilung von Hilfsgütern Einfluss zu nehmen. Dies stellt ein Dilemma in allen Konflikten dar, zu dem sich die Welthungerhilfe positionieren muss.

Shrinking Spaces

Auch die Demokratie befindet sich in der Krise. In vielen Ländern der Welt nehmen autoritäre Tendenzen der Regierungen rasant zu, worunter gerade zivilgesellschaftliche Organisationen leiden. Dieser Befund trifft nicht allein auf Militärdiktaturen (u.a. Myanmar, Mali) und theokratische Regime (u.a. Afghanistan) zu, sondern auch auf Länder, die als demokratisch verfasst gelten (u.a. Bangladesch, Äthiopien). Viele internationale, aber auch nationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) werden als „Agenten des Westens“ gesehen. Ihre Finanzierung und ihr Arbeitsradius erfahren eine zunehmende Einschränkung durch den Staatsapparat.

Für die Welthungerhilfe, die ja konsequent einen partnerschaftlichen Ansatz verfolgt, bedeutet dies, dass es immer schwieriger wird, lokale Partner zu finden. Auch ist sie zunehmend der Verantwortung ausgesetzt, dass ihre Projektpartner nicht in Gefahr geraten. Zudem wird Advocacy als selbst gestellteAufgabe der Welthungerhilfe immer mehr zu einem Drahtseilakt: Auf der einen Seite steht die Welthungerhilfe für Prinzipien, die die Organisation ausmachen – etwa der Beachtung von Menschenrechten; auf der anderen Seite kann sie diese Prinzipien in autoritären Systemen kaum öffentlich adressieren.

Distribution of food to households threatened by food insecurity in Kabul a year after the Taliban took over power in Afghanistan. © Parwiz Sabawoon/welthungerhilfe

Das neue Zauberwort in solchen autoritären Kontexten lautet, „regierungsfern“ zu arbeiten. Allerdings ist genau dieses Arbeiten am Staat vorbei, was autoritäre Regime bemüht sind zu unterbinden. Daher stellt sich für die Welthungerhilfe die äußerst schwierige Frage, inwiefern man mit Regierungen, die die eigene Zivilgesellschaft unterdrücken, zusammenarbeiten will. Was wiegt mehr: Notleidende Menschen zu versorgen, oder den afghanischen Taliban und der Militärjunta in Mali oder Niger die Legitimierung zu verweigern?

Klimawandel

Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Länder, die von Gewaltkonflikten betroffen sind, besonders unter den drastischen Folgen des Klimawandels leiden. Gerade in den semi-ariden Weltregionen wie dem Sahel und Ostafrika nimmt die Volatilität und Intensität von Extremwetterereignissen zu – und die Menschen werden mit den veränderten Lebensbedingungen allein gelassen.

Die Anpassung an veränderte Klimabedingungen muss daher zunehmend die Ausgestaltung der Programme der Ernährungssicherheit der Welthungerhilfe bestimmen. Es ergibt sich jedoch das Dilemma, dass ein nachhaltiger Landbau, der Klima und Umwelt wenig belastet, nicht unbedingt ausreichend ertragreich ist, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Daher ist die geeignetste Ernährungssicherung nicht unbedingt diejenige, die ökologisch am sinnvollsten ist.   

Auch die Finanzierung der Welthungerhilfe muss sich auf neue Geberprioritäten einrichten. So ist der Eindruck, dass Klimapolitik zunehmend den Diskurs bestimmt und Entwicklungspolitik in die Defensive gerät. So dürfte das Primat des Klimawandels in Zukunft weit stärker politische Entscheidungen über Budgets bestimmen. Gleichzeitig ist das Primat der Welthungerhilfe, dass Menschen in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, nicht aufzugeben.

Flucht

Eine wesentliche Folge lang andauernder Kriege, autoritärer Herrschaft wie auch des Klimawandels ist, dass mehr und mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen und Zuflucht andernorts suchen. Auch hier nehmen die Zahlen kontinuierlich zu und machen die gegenwärtige Polykrise deutlich. Gegenwärtig sind laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR über 117 Millionen Menschen auf der Flucht, davon das Gros Binnenflüchtlinge. Für die Arbeit der Welthungerhilfe besonders dramatisch ist, dass immer mehr Geflüchtete sich in langandauernden Fluchtsituationen befinden: Während in den 1990er Jahren die durchschnittliche Dauer einer Fluchtsituation neun Jahre betrug, lag diese 2015 bereits bei über 20 Jahren. Heute befinden sich drei Viertel aller Geflüchteten in einer langanhaltenden Fluchtsituation (mehr als fünf Jahre).

Oftmals befinden sich die Flüchtlingslager, in denen Geflüchtete Zuflucht suchen, zudem in direkter Nachbarschaft zu den Konfliktländern. Sie dienen daher den Kriegsparteien als Reservoir für die Mobilisierung von Kämpfern und tragen damit zur Kontinuität von Gewaltkonflikten bei – wie etwa in Myanmar, Somalia oder Syrien. Die Welthungerhilfe ist in vielen Flüchtlingslagern, in denen die Menschen am Existenzminimum leben, mit Hilfsprojekten vor Ort. Aber wie nachhaltig ist es, Geflüchtete in langanhaltenden Fluchtsituationen zu halten, die indirekt zur Verlängerung von Gewaltkonflikten beitragen?

Auch hier eröffnet sich für die Welthungerhilfe ein Dilemma. Was kann sie über die humanitäre Hilfe hinausgehend beitragen, damit Menschen eigene Zukunftsperspektiven jenseits von Krieg und Flucht entwickeln? Gleichzeitig muss sich die Welthungerhilfe fragen, inwiefern in ihren Programmen die Ursachenbekämpfung für Flucht verankert ist – eine Frage, die weit über das Thema der Ernährungssicherheit hinausgeht.

Fazit

Dieser kleine Einblick in die Polykrise unserer Zeit verdeutlicht, dass die Arbeit der Welthungerhilfe zentral für die Verringerung des Leids der Menschen ist, die von Kriegen, Katastrophen und Armut betroffen sind. Dennoch wird auch deutlich, dass die Arbeit der Welthungerhilfe vor zentralen Herausforderungen steht, will sie ihrem selbstgesteckten Ziel „eine Welt ohne Hunger“ gerecht werden. Es wird zudem deutlich, dass es einige Zielkonflikte gibt, in denen die Welthungerhilfe bittere Kröten schlucken muss, wenn sie ihr übergeordnetes Ziel erreichen will. So muss die Organisation transparent machen, weshalb man gewisse Kompromisse und Abstriche an den eigenen Zielsetzungen eingehen muss, um Menschen vor dem Verhungern zu retten.

Allerdings steht die Welthungerhilfe mit diesen hier skizzierten Dilemmata nicht allein. So steht das Gros der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die in den vergangenen Jahrzehnten in westlichen Ländern entstanden, vor ähnlichen Herausforderungen. Denn die Welt dreht sich schneller, als sich viele Organisationen an veränderte Rahmenbedingungen anpassen können. Will daher die Welthungerhilfe bedeutsame Antworten auf die Polykrisen der Zukunft entwickeln, bedarf es den Mut, mit gewohnten Routinen zu brechen und innovative Wege zu gehen.

Legitimationskrise

Neben den genannten Krisen ist schließlich eine unsichtbare, schwer zu fassende Krise zu nennen, der sich die Welthungerhilfe stellen muss: die Legitimationskrise.

Denn seit Covid, dem Ukrainekrieg, Gaza und der Flüchtlingsdebatte werden Stimmen in den Ländern des Südens immer lauter, die dem Westen eine Doppelmoral vorwerfen: Auf der einen Seite predigt der Westen faire Partnerschaften sowie Humanität und prangert Verstöße gegen das Völkerrecht an (russischer Angriffskrieg in der Ukraine; Gaza); auf der anderen Seite kündigt der Westen seine Solidarität auf, sobald die Ressourcen knapp werden (Covid) und negiert eigene Verstöße gegen das Völkerrecht (Guantanamo) und eine inhumane Abschottungspolitik (Mittelmeer). Die Kritik am westlichen Handeln lautet, dass Menschenleben je nach Herkunft einen unterschiedlichen Wert haben; die Solidarität mit den Ländern des Südens bröckele, sobald der Wohlstand des Westens in Gefahr sei; es gehe nicht um Partnerschaft auf Augenhöhe, sondern um die Aufrechterhaltung von Abhängigkeiten. Es treten daher – so die postkoloniale Kritik – gegenwärtig knallharte Interessen zu Tage, die mit dem Prinzip der Menschlichkeit, als einem der wesentlichen Kernmerkmale des westlichen Gesellschaftsmodells, gar nichts mehr zu tun haben.

Die Welthungerhilfe muss sich daher damit konfrontiert sehen, dass sie – trotz einer beachtlichen Internationalisierung in den letzten Jahren – nach wie vor in erster Linie als eine deutsche Hilfsorganisation wahrgenommen wird. Damit gerät auch die Welthungerhilfe in den Fokus des Vorwurfs der Doppelmoral. Für die Welthungerhilfe ist es somit enorm wichtig, dass sie konsequent eine klare Linie entwickelt, die den Vorwurf der Doppelmoral entkräftet. Dies klingt leichter als gesagt: So darf sich die Welthungerhilfe auf der einen Seite nicht für eine Interessenpolitik westlicher Staaten (v.a. der Bundesrepublik, Europäischen Union) instrumentalisieren lassen, die Ziele wie Fluchtverhinderung oder Terrorismusbekämpfung in den Vordergrund rückt. Auf der anderen Seite kann die Welthungerhilfe zwar in ihrer Organisation und ihrer Arbeit einiges an postkolonialer Kritik antizipieren und gewisse Strukturen verändern. Sie wird sich aber aus den eigenen finanziellen Abhängigkeiten von Spenden und Projektgeldern vorzugsweise aus dem Norden nicht völlig lösen können. Dies ist daher ein schmaler Grat, der die Identität der Welthungerhilfe und ihre zukünftige Positionierung als Hilfsorganisation in einer durch Polykrisen geprägten Welt ausmacht.

Letztlich gehört zu einer kohärenten Selbst- und Fremdwahrnehmung, die eigene Identität noch offensiver in die deutsche Öffentlichkeit zu kommunizieren. Denn die Welthungerhilfe steht für grundlegende Werte, die in der deutschen Demokratie fest verankert sind. So muss die Welthungerhilfe deutlich machen, dass ihr Einsatz für das Überleben der Menschen, die Polykrisen ausgesetzt sind, nicht aus Eigeninteressen erfolgt, sondern aus reiner Menschlichkeit.

Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*in/nen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider. 

Prof. Dr. Conrad Schetter Friedens- und Konfliktforschungsinstitut BICC
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