Wem dient künftig die humanitäre Hilfe?
Zur historischen Kürzung humanitärer Budgets in Deutschland und Europa – und ihrer Gründe.

Mit den Worten „historisch“, „skandalös“ und „rekordverdächtig“ sollte man vorsichtig sein, doch dies fällt schwer in diesen Zeiten einer womöglich endenden humanitären Ära in Deutschland. Oder gar Europa?
Dass die Wertschätzung von humanitärer Hilfe und ihrer Budgets, für ihre Prinzipien und das humanitäre Völkerrecht international sinkt, ist kein neuer Prozess. Doch bis vor kurzem gab es noch kräftige Wellenbrecher in der Brandung. Von diesen droht nun mit der deutschen Bundesregierung der größte sehr viel kleiner zu werden, und dies wirft die Frage auf: Was ist den europäischen Regierungen trotz Zeiten multipolarer Krisen und wachsender Not eine humanitäre Hilfe noch wert, die neutral und unparteiisch Jahr für Jahr Millionen Leben und Existenzen rettet?
Ein Blick auf die Fakten: In diesem Herbst hat die Bundesregierung sowohl eine neue Strategie für die deutsche humanitäre Hilfe wie auch ein Budget für 2025 beschlossen – letzteres sieht eine in der Tat historisch einmalige Kürzung der deutschen humanitären Hilfe um 53 Prozent auf nur noch gut 1 Mrd. Euro vor. Damit stürzt das deutsche humanitäre Budget auf ein Zehn-Jahres-Tief und fällt zurück in Zeiten, als Deutschland noch als humanitärer Zwerg galt – bis die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Lichte der Zuwanderung syrischer Flüchtlinge eine neue Ära einleitete, und das Budget Schritt für Schritt auf bis zu 3,2 Mrd. Euro in 2022 stieg.
Diese Ära endet nun offenbar – mindestens aufs Budget bezogen – in Deutschland. Parallele Entwicklungen in weiteren europäischen Ländern machen daraus einen Trend. Dieser hatte in London begonnen, wo bereits vor Jahren im Zuge der Integration des unabhängigen britischen Department for International Development (DFID) ins Außenministerium 2020 auch die Mittel für internationale Zusammenarbeit um rund ein Drittel sanken. Nun hat in den vergangenen Monaten von den führenden europäischen Gebern auch Frankreich angekündigt, seine Ausgaben für Entwicklung und Humanitäres 2025 um 18 Prozent zu kürzen, die Niederlande gar um zwei Drittel bis 2027. Und selbst die einstige „humanitäre Supermacht“ Schweden kürzt und will die verbleibenden Mittel auf Effizienz und auch inländisch relevante Programme konzentrieren.
Woher rührt die Trendwende?
Wie aber sind diese Kürzungs-Orgien zu erklären? Noch bis vor kurzem waren die wachsenden humanitären Bedarfe weltweit zwar zunehmend unterfinanziert, doch dies lag an einer im Vergleich nur zu langsam wachsenden internationalen humanitären Hilfe, die mit der dramatisch wachsenden Not und den entsprechend steigenden globalen Finanzierungsaufrufen (Global Appeals) nicht Schritt halten konnte. Hier gibt es eine klare Trendumkehr.
Obwohl das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) als Koordinator auch auf Druck der Geber humanitäre Bedarfe zunehmend strenger ermittelt – und manches, was womöglich eher „life building“ statt „life saving“ ist, häufiger aus den nun stagnierenden Hilfsplänen herausstreichen lässt –, sinken zugleich die zur Verfügung gestellten Gelder so rapide, dass die Lücke zwischen Hilfsbedarf und verfügbaren Mitteln immer größer wird: Noch im September 2024 war nicht mal ein Drittel der weltweiten Hilfsbedarfe für 2024 finanziert. In vergessenen Krisen, wie etwa der Flüchtlingshilfe für sudanesische Vertriebene, waren ganze 8,6 Prozent finanziert.
Warum? Beispiel Berlin: Zurecht kritisieren humanitäre Akteure Kanzleramt und Finanzministerium dafür, sich für humanitäre Fragen nicht ernsthaft zu interessieren. Sie hätten erneut dem Entwicklungsressort (BMZ) und vor allem dem Auswärtigen Amt (AA) weit überproportionale Kürzungen für den Haushalt 2025 abverlangt, dem AA allein weitere 17 Prozent seines Gesamtbudgets. Doch dies greift zu kurz, zur Wahrheit gehört auch: Damit allein lässt sich eine derart unverhältnismäßige Kürzung nur des AA-Haushaltstitels für humanitäre Hilfe um 53 Prozent nicht erklären.
Sicher: Flexible Projektmittel wie für die humanitäre Hilfe müssen stets bei Budgetkürzungen mehr leiden als Fixkosten wie Personal. Aber fast dreimal mehr als insgesamt gekürzt werden muss? Das gab es noch nie – und ist nicht allein, wie vom AA suggeriert, mit dem Finanzminister, der Inflation oder steigenden Kosten für Cybersicherheit erklärbar. Es ist vielmehr eine gezielte Entscheidung. Dies wird auch dadurch deutlich, dass das AA schon im Jahr 2021 über ein nur leicht höheres Gesamtbudget verfügte als 2025 vorgesehen – und es dem Ministerium dennoch möglich war, hieraus mehr als doppelt so viel humanitäre Hilfe bereitzustellen (2,14 Mrd. Euro) als jetzt für 2025 geplant.
Verschiebemasse als Mittel zum Zweck?
Dies wirft die Frage auf, ob dem grün geführten AA selbst noch die humanitäre Hilfe wichtig ist. Oder ist sie nur noch eine Verschiebemasse, die als Mittel zum Zweck mal mehr, mal weniger zum Einsatz kommt?
Dafür spricht ein weiterer Trend, der sich nicht nur in Deutschland durchsetzt, und zwar im Kontext einer internationalen „Priorisierungsdebatte“ in Zeiten wachsender Not und sinkender Budgets. Die neue deutsche humanitäre Strategie und ihre Einordnung bei der Veröffentlichung Ende September können dies verdeutlichen. Gleich die erste Überschrift der neuen Strategie lautet, auf ausdrücklichen Wunsch der politischen Leitung im AA, „Humanitäre Hilfe ist Teil der Integrierten Sicherheit“. Zum Vergleich: In der alten, bis 2023 gültigen Leitlinie heißt es noch im ersten Absatz, die deutsche humanitäre Hilfe diene „ausschließlich der Erreichung humanitärer Zielsetzungen“ und sei „Ausdruck unserer ethischen Verantwortung und Solidarität mit Menschen in Not“.
Zwar werden in der neuen Strategie auch die humanitären Prinzipien und Hilfe je nach dem Ausmaß der Not als Ziele parallel benannt. Doch wer wird künftig gewinnen bei der Mittelvergabe im Zielkonflikt zwischen größter humanitärer Not etwa im strategisch irrelevanten Südsudan, in der DR Kongo oder in Flüchtlingslagern im entfernten Myanmar auf der einen Seite – und auf der anderen Seite sicherheits-, außen- oder migrationspolitisch relevanten Krisen in der Ukraine, Syrien oder Gaza? Das machte bei der Veröffentlichung der Strategie AA-Staatssekretärin Susanne Baumann in aller Offenheit deutlich: „Das Budget schrumpft, während die humanitären Bedarfe steigen (…) Wir müssen also Prioritäten setzen (…) Das bedeutet, dass wir uns auf Krisen konzentrieren müssen, die Auswirkungen auf Europa haben.“
Politisierung zeichnet sich ab
In dieser Logik wird aus der aktuellen internationalen Priorisierungsdebatte eine heikle Politisierungsdebatte – in Berlin, aber auch in Brüssel und weiteren Hauptstädten.
Auch in Brüssel wird derzeit heftig darum gerungen, welche Rolle humanitäre und entwicklungspolitische Fragen in der jetzt sich etablierenden neuen EU-Kommission künftig noch spielen soll. Kritiker fürchten eine zunehmende Unterordnung unter geopolitische Initiativen wie dem „Global Gateway“ für Rohstoff- und Infrastrukturpartnerschaften. Sie sehen sich im neuen Zuschnitt der künftigen EU-Kommissarin Hadja Lahbib bestätigt, die nun nicht nur für humanitäre Hilfe und Zivilschutz, sondern auch für „Preparedness, Crisis Management and Equality“ zuständig sein wird. Auch der Blick auf die Briefings, den lange vorbereiteten „Mission Letters“, für die kommenden Kommissare für „Partnerschaften und den Haushalt kann die Befürchtungen nicht entkräften. Die Worte „development“ und „humanitarian“ kommen in diesen Dokumenten kaum vor. Stattdessen hat auf EU-Ebene eine intensive Debatte darüber begonnen, ob z.B. humanitäre Akteure einen Diskurs akzeptieren müssen, in dem sie belegen, dass ihr Wirken nicht nur nebenbei, sondern vor allem den Interessen Europas dient – und nicht nur den Menschen in Not.
Ähnliches in Den Haag, Stockholm, und bald Wien? Oder gar Paris? Mit dem wachsenden Einfluss erstarkender rechtspopulistischer Kräfte in zunehmender Zahl auch in oder auf westeuropäische Regierungen wird ein Ansatz zum Mainstream, welcher Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zum interessenspolitischen Instrument degradiert. Und dies gilt längst auch in Deutschland, wie sich am neuen FDP-Narrativ zeigt, humanitäre Hilfe ruhig zu kürzen und schlicht nur noch in befreundeten Staaten in der Allianz gegen Russland zu leisten.
Dies verdeutlicht: Für die Verfechter humanitärer Prinzipien und einer wertegeleiteten Hilfe weltweit zugunsten der Menschen in größer Not ist der Kampf um die Narrative bis auf weiteres verloren. Gleiches gilt für die Anhänger von Regeln, die etwa für alle Staaten vorgeben, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für staatliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) zu leisten. Dies mag nicht überraschen in einem dominanten Diskurs, der insgesamt eine internationale Zusammenarbeit auf Basis von Regeln, Werten oder auch wissenschaftlichen Erkenntnissen wie im Klimabereich mehr und mehr negiert. Nicht zufällig ist deshalb seit kurzem die alte Debatte um positivere Narrative sowie selbstbewusstere Kommunikation des Hilfssektors wieder entbrannt. Zu Recht: Narrative spielten beispielsweise beim Aufstieg Deutschlands zu einem führenden Geber humanitärer Hilfe eine große Rolle. Aber wird dies reichen?
„Wir werden den Diskurs nicht ändern, indem alle Akteure jetzt etwas mehr Lobbyarbeit machen und sagen, wir brauchen nur wieder mehr Geld“, kritisiert ein führender EU-Diplomat und humanitärer Experte. „Die Wahrnehmung ist: Mehr Geld hat gerade in all den zunehmenden fragilen Staaten und in den Krisen der letzten 30, 40 Jahre nicht funktioniert – warum sollte dies jetzt anders sein?“
Kein "weiter so"
Das legt den Finger in die Wunde auch bei Hilfsorganisationen. Wenn sie nur auf zu geizige, zu unflexible oder zu politische staatliche Geber zeigen, machen sie es sich zu leicht. Ebensowenig verfangen neue positivere Narrative, wenn in der Hilfsmaschinerie zugleich ein „weiter so“ gilt. Es mangelt nicht an Studien, in denen kritisiert wird, dass zwischen UN-Organisationen wie unter vielen internationalen NGOs häufig der Wettbewerb die Kooperation schlägt. Trotz vieler, auch selbstkritischer Reformbemühungen um höhere Effizienz oder fairere Partnerschaften hinkt die Praxis oft Lippenbekenntnissen hinterher. Bisweilen streben Werte und Organisationsinteressen in unterschiedliche Richtungen.
Konkrete Beispiele hierfür? Zum Beispiel ein Ungleichgewicht im Fundraising von Spendenbündnissen oder Hilfsorganisationen zugunsten einer im Vergleich zu anderen Krisenherden überfinanzierten Ukraine-Hilfe. Zum Beispiel das Bekenntnis zu einer lokal geführten humanitären Hilfe, die wirksamer und würdevoller wäre, aber seit zehn Jahren nur unzureichend umgesetzt wird. Weil es Macht und Ressourcen aus dem Globalen Norden abziehen würde, werden Veränderungen – von nicht allen, aber vielen Organisationen des Nordens – entsprechend langsam vorangetrieben. Oder zum Beispiel die Zurückhaltung auch manch deutscher Hilfsorganisation mit Blick auf die notwendige Debatte um die beschriebenen Trends rund um eine politisierte humanitäre Hilfe.
Trotz dieses eher düsteren Ausblicks kann eine positivere Erzählung entstehen, wenn alle politischen und Hilfsakteure ihre Hausaufgaben machen und die beschriebene Krise der humanitären Hilfe als ein Signal für mehr gemeinsame Anstrengungen verstehen. Noch stehen humanitäre Geber wie die Schweiz, Norwegen, oder Spanien als Wellenbrecher in der Brandung und halten an ihren Budgets fest. Und eine neue Ära kann so schnell beginnen wie wieder enden. Siehe London, wo mit der Labour-Regierung in Downing Street das Pendel genau dort wieder zurückschwingen und humanitäre Budgets und Werte ein Comeback erleben könnten, wo alles begann.
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