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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 12/2021
  • Marina Zapf

"Strukturen von Dauer will die Regierung verhindern – das Provisorium ist gewollt"

Es ist die größte staatenlose Gemeinschaft der Welt. Die Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar werden in überfüllten Lagern in Bangladesch versorgt und geduldet – ohne Rechte, ohne Zukunft.

Stacheldrahtzäune umschließen die 34 Lager, in denen die aus Myanmar stammende Volksgruppe der Rohingya in Bangladesch Zuflucht gefunden hat. © Welthungerhilfe

Balasubramaniam, die Regierung von Bangladesch hatte vor einem Jahr begonnen, Rohingya-Flüchtlinge auf eine Insel umzusiedeln, weil die Unterkünfte zum Teil in katastrophalem Zustand sind. Hat das Besserung gebracht?

Zur Person

Balasubramaniam ist für die finanzielle Abwicklung der Aktivitäten der Welthungerhilfe in Cox's Bazaar in Bangladesch zuständig und Manager für alle organisatorischen Probleme. Geboren im südindischen Karnataka, war er viele Jahre in asiatischen Ländern an humanitären Hilfseinsätzen beteiligt, darunter in Sri Lanka und Nepal, mit einer Ausnahme in Simbabwe. Für die Welthungerhilfe ist er seit dem Tsunami 2004 tätig – seit 2018 in Bangladesch, wo er zweimal wöchentlich von seinem Büro in die Lager fährt. 

Es gibt diese Schwemminsel Bhasan Char im Golf von Bengalen. Dort befinden sich rund 18.000 Rohingya. Der ursprüngliche Plan der Regierung war, etwa 100 000 Geflüchtete dorthin umzusiedeln, um die bestehenden Lager zu entlasten. Vor einem Jahr hat man damit begonnen. Dann kam die Covid-19-Krise. Seit Ende November werden wieder Gruppen dorthin gebracht. Die Marine von Bangladesch hat viele Reihen stabiler Häuser mit guten sanitären Anlagen gebaut. Aber die Insellage ist problematisch. Die Menschen sind sehr verwundbar und gefährdet, wenn ein Zyklon darüber hinwegfegt. Es gibt Angst vor Überschwemmungen. Und es ist aufwändig, mit dem Boot über Chittagong überzusetzen. Das ist auch für Hilfsorganisationen ein Nadelöhr. Ihr Zugang wird erschwert.

Aber gehen die Menschen freiwillig? Es wird berichtet, dass Familien getrennt wurden, und UN-Organisationen erst jetzt ihren Schutz und die Versorgung überwachen können...

Nach Angaben der Regierung ist die Umsiedlung freiwillig. Aber man hört von den Rohingya schon, dass es zum Teil Zwang gegeben hat. Vor allem aus dem Lager 23 wurden 90 Prozent aller Bewohner umverlegt. Der Rest soll bald folgen. Wir führten dort ein Projekt des deutschen Entwicklungsministeriums (BMZ) durch, welches wir dann in Lager 25 weiterführten. Die Menschen kommen aber von der Insel nicht herunter. Sie liegt 60 Kilometer vom Festland. Es gibt kein Kommen und Gehen, auch nicht zum Arbeiten. Die Regierung erlaubt einigen NGOs, ein paar Projekte zur Selbstversorgung durchzuführen, so gibt es ein wenig Arbeit für Tagelöhner, oder Menschen gehen fischen und betreiben ein wenig Gemüseanbau.

Das Ausweichlager Bhasan Char auf einer Insel im Golf von Bengalen. © MDM Architects

In welchen Umständen lebt die Volksgruppe der Rohingya auf dem Festland? Es sind mehr als vier Jahre vergangen seit ihrer Flucht vor Gewalt und Verfolgung in Myanmar.

Es leben 907.000 Angehörige der muslimischen Volksgruppe in 34 Lagern, davon sind mehr als die Hälfte Kinder und Minderjährige. Familien wohnen dort auf allerengstem Raum. Die Regierung will nun mehr Projekete für gesundheitliche Aufklärung und Familienplanung durchführen. Die Unterkünfte sind immer noch provisorisch, aus Bambus und Planen gebaut, feststehende Gebäude dürfen nicht errichtet werden. Wenn es, wie im vergangenen Juli, zwei Wochen am Stück regnet, kommt es zu Sturzbächen, Erdrutschen und Überschwemmungen. Die Zerstörungen waren in der gesamten Region Cox's Bazar und allen Lagern ziemlich schlimm. Das macht den Menschen das Leben schwer. 

Die Rohingya leben in Abhängigkeit von internationaler Hilfe.

Balasubramaniam, Welthungerhilfe

Wie steht es um ihre Bewegungsfreiheit?

Die Regierung hat damit begonnen, jedes Camp mit Stacheldraht einzuzäunen. Die gesamte Lagerfläche wird eingezäunt, und das Militär kontrolliert die Zugänge. Menschen können nicht einfach ins Nachbarcamp gehen oder sich draußen um eine Arbeit als Tagelöhner kümmern. Die Volksgruppe lebt in Abhängigkeit von internationaler Hilfe, sie werden mit Lebensmitteln versorgt und es gibt Programme zur Existenzsicherung, wie Näharbeiten für Frauen oder Bauarbeiten für Männer. Aber Cash Transfer-Programme lehnt die Regierung ab, weil sie befürchtet, dass mehr umlaufendes Bargeld die Kriminalität schürt – Schmuggel oder Drogenhandel. Das ist wirklich zunehmend ein Problem, es formieren sich bewaffnete Banden, die sich bekriegen. Unsicherheit und Angst nehmen zu.

Erst vor kurzem wurde ein hochrangiger Rohingya-Repräsentant offenbar von so einer Miliz in seinem Büro ermordet... Wie funktioniert das mit der Vertretung, haben die Flüchtlinge irgendwelche Mitspracherechte?

Nein, sie können gar nichts tun. Es gibt Gruppen und Anführer, die zum Beispiel Informationen über Familienangehörige zusammentragen, die aber in der Lagerverwaltung nichts mitzureden haben. Die Camps werden von den zuständigen Behörden von Bangladesch geführt. Meist ist noch eine internationale Organisation schwerpunktmäßig für ein Lager zuständig. Die Menschen dürfen auch nicht arbeiten, sie leben wie Gefangene und in Abhängigkeit von humanitärer Hilfe. Sie haben keinen Status, weil Bangladesch sie nicht als Flüchtlinge anerkennt. Die Rohingya sollen so bald wie möglich nach Myanmar zurückkehren.

Aber das ist unter dem Militärregime dort noch unmöglicher geworden. Wollen die Menschen denn zurück?

Nur wenn es eine Aussicht auf Frieden und Sicherheit gibt. Es wurden um die 27 000 Angehörige ihrer muslimischen Minderheit in Myanmar getötet. Viele haben Freunde und Familie verloren. Die Angst ist groß, dass ihr Leben dort wieder in Gefahr wäre. Natürlich denken sie daran zurück, wie sie ein Haus hatten und ihre Felder bestellt haben. Nun muss ich wie ein Bettler leben. Diese Trauer ist da. Aber sie wollen ein geschütztes Leben. Die meisten hoffen, irgendwann zurückkehren zu können und finden sich mit den Umständen ab.

Unter Bewachung des Militärs wird die Lagergegend zunehmend zu einer Hochsicherheitszone. © Welthungerhilfe

Trotz der teilweise menschenunwürdigen Bedingungen?

Es ist schon so, dass die Region sich zu einer Hochsicherheitszone entwickelt – mit militärischen Straßensperren und Kontrollen. Aber es gibt eben illegale Drogenhändler, keiner weiß, wie Waffen in die Lager gelangen, aber manchmal dürfen unsere NGO-Mitarbeiter nicht hinein, weil es in der Nacht Schießereien gab. Es wird auch von Fällen von Zwangsprostitution und -ehen oder Menschenhandel berichtet. Es gibt Beschwerdemechanismen gegen Menschenrechtsverstöße, alle Hilfsorganisationen sensibilisieren ihre Mitarbeiter und die Freiwilligen der umliegenden Gemeinden dafür. Wir haben Telefonnummer für anonyme Meldungen. Aber es bleibt schwierig, wenn bestimmte Gruppen von Menschen ihre Muskeln spielen lassen.

Werden den Menschen in den Lagern überhaupt Rechte zugebilligt?

Fragen, die sich um den Schutz der Menschen drehen, sind ein heikles Thema. Als es 2019 im August am Rande des Gedenktags der Rohingya zu einer Protestkundgebung kam, bei der auch Slogans gegen die Regierungen von Myanmar und Bangladesch gerufen wurden, haben die Behörden sehr hart reagiert. Manche Menschen trugen T-shirts mit den Logos von NGOs, und mehrere Organisationen wurden verboten, in der Annahme sie würden Unruhe schüren. Ihre internationalen Mitarbeiter mussten binnen einer Woche das Land verlassen. Seither sind Versammlungen untersagt.

Wie koordinieren sich die Hilfsorganisationen?

Es sind rund 140 internationale und nationale NGOs in verschiedenen Foren organisiert, in denen sich Delegierte regelmäßig treffen und auf Notfälle reagieren können. Alle müssen sich auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene registrieren lassen. Die Behörde, die den Stempel erteilt, der Refugee Relief and Repatriation Commissioner (RRRC),  weiß in welchem Camp welche Organisationen in welchem Bereich tätig sind und welchen Bedarf es gibt. Parallel gibt es pro Lager einen zentralen NGO-Vertreter, mit dem sich andere koordinieren. In dieser Struktur ist alles recht gut durchgeplant.

Und wie viele Gelder fließen in diese humanitäre Aktion?

Unter Federführung der Regierung von Bangladesch und unter Beteiligung des RRRC lassen die führenden humanitären Organisationen der Strategic Executive Group von der humanitären Gemeinschaft einen Aktionsplan erstellen, der den Bedarf für ein Jahr zusammenstellt. in diesem Joint Response Plan (JRP) wurde dieser für die humanitäre Krise der Rohgingya 2021 auf 950 Mio. US-Dollar geschätzt. Davon knapp 250 Mio. Dollar für Ernährung und 135 Mio. Dollar für Gesundheit. Bis Ende November waren von der Summe knapp zwei Drittel finanziert. Unter den Ländern sind die USA, Australien und Großbritannien die größten Geber, Deutschland ist auf Platz sieben. Manche Geber engagieren sich aber auch außerhalb dieses Aktionsplans.

Wie kann Bangladesch weiter auf einer Rückkehr der Rohingya bestehen, wo doch die Verhandlungen mit dem Regime in Myanmar auf Eis liegen?

Ja, diese bilateralen Gespräche sind angesichts dieser politischen Lage unterbrochen. Aber die Regierung in Dhaka ist nun an die UNO und andere Länder herangetreten, die Bedingungen für eine Rückkehr zu schaffen. Jedenfalls tut sie alles, um im Raum Cox's Bazaar jegliche bleibende Infrastruktur zu verhindern. Erst seit kurzem darf die Welthungerhilfe zum Beispiel gemauerte Toiletten und Waschräume bauen. Würde man Häuser bauen, könnte das falsche Signale geben. Das Provisorium ist Absicht. Mit freiwilligen Helfern, die Toiletten reinigen und Abwässer entsorgen, können wir die hygienischen Bedingungen verbessern. Wir haben auch zwei Müllverarbeitungsanlagen gebaut, die wir in zwei Lagern betreiben, in denen die Welthungerhilfe aktiv ist. Aber die Regierung will keine permanenten Strukturen.

Ist das Verhältnis zwischen den Rohingya und den anliegenden Gemeinden sehr angespannt?  

Anfangs kam von ihnen sehr viel Unterstützung, sie behandelten die Geflüchteten wie ihre eigenen Familien. Aber die Stimmung ist irgendwann gekippt. Das liegt auch an den vielen Hilfsorganisationen, die kamen. Wohl hat vor allem die Jugend bei ihnen Arbeit gefunden. Aber die Lebenshaltungskosten in Cox's Bazar sind durch die Decke gegangen. Vor allem die Mieten aber auch viele Waren sind teurer geworden. Das macht den gastgebenden Gemeinden das Leben schwer, zumal etwa ein Drittel unter Armut leidet. Der große Zustrom von Menschen hat ihnen zugesetzt. Die Menschen leben von der Landwirtschaft, Fischerei oder der Salzgewinnung. Die Ressourcen sind knapper geworden, Land ging verloren, ebenso wie Einnahmen aus dem Tourismus, und auch viel Wald wurde abgeholzt. Ja, es gibt Spannungen. Und Rohingyas werden auch als Tagelöhner billiger vermittelt.

Wird dagegen etwas unternommen?

Die Regierung hat reagiert und schreibt nun vor, dass mit der Ausnahme von Lebensmittelhilfe von allen Projektmitteln ein Viertel den Anwohnern zugute kommen soll. Die örtlichen Gemeindeverwaltungen genehmigen Projekte nur noch unter dieser Voraussetzung. Wir bauen dann zum Beispiel ein Viertel der Toiletten in den örtlichen Gemeinden. In zwei Lagern leben Rohyingya und Ortsansässige gemischt, da ist das leicht umzusetzen. Ansonsten bekommen wir Anweisungen von den Distriktbehörden, in welchen Nachbarschaften wir arbeiten oder Hygiene-Kits und zuletzt auch Desinfektions-Kits gegen Covid-19 verteilen sollen. Es leben kaum noch Rohingya verstreut in der Gegend von Cox's Bazaar oder den Chittagong Hill Tracts. Sie wurden in die eingezäunten Bereiche zusammengezogen.

Gilt als das größte Flüchtlingslager der Welt: Blick auf Kutupalong in dem Gebiet namens Cox's Bazaar. © Welthungerhilfe / Daniel Rosenthal

Von der Regierung bekommen die umliegenden Kommunen aber keine besondere Unterstützung?

Nein, es gibt da kein besonderes Paket. Neuerdings gibt es Pläne, Cox's Bazar in den nächsten 10 bis 15 Jahren zu einer großen Stadt mit einem internationalen Flughafen auszubauen. Das würde im Häuser- und Straßenbau Arbeitsplätze schaffen. Aber es gibt keine Cash-for-work-Programme oder dergleichen. 

Macht es Sinn, in der angespannten Lage mehr konfliktsensible Projekte zu finanzieren?

Es kommt in verschiedenen Gegenden um die Camps immer wieder zu Auseinandersetzungen. Und einige internationale und andere NGOs haben Resilienz-Projekte begonnen, die Rohingya und gastgebende Gemeinden zum Reden zusammenbringen. Auch die Regierung organisiert manchmal solche Begegnungen. Aber die Spannungen halten an. Es bleibt das Problem der Lebenshaltungskosten, und man konkurriert um Arbeit. Auch unsere Organisation muss teilweise für Hygieneschulungen Rohingya-Kräfte beschäftigen. Sie werden zu einem von der Regierung festgesetzten Tagelohn, der unter dem für Ortskräfte liegt, von Mittelsmännern ausgesucht.

Im Libanon schlossen internationale Geber mit der Regierung einen Compact zur Unterstützung der Host communites. Oder es gab Projekte zum gemeinsamen Bau von Straßen, Schulen oder Marktplätzen. Würde so etwas in Cox's Bazar auch funktionieren?

Man müsste sicherlich mehr auf das Leid auch der gastgemenden Gemeinden schauen, sie leben auch unter ärmlichen Bedingungen, selbst wenn sie ihre eigenen vier Wände haben. Die Regierung gibt schon mehr für diesen Distrikt aus, aber das schafft Unmut im restlichen Norden von Bangladesch. So ein Compact würde nicht funktionieren, das will keiner. Die Gemeinden wollen, dass die Rohingya wieder gehen. Gemeinsame Projekte für Rohingya und Anrainer beschränken sich auf Resilienzprogramme. Die sollen in kleinen Gruppen über die Probleme der anderen aufklären und gegenseitiges Verständnis fördern. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden Veranstaltungen verboten – egal ob Schulungen für Hygiene und Gesundheit oder Versammlungen und Workshops, bei denen es etwa um Aufklärung zum besonderen Schutz von Mädchen und Frauen geht.

Wie können die örtlichen NGOs gestärkt werden, die sich mit den Verhältnissen und Dynamiken am besten auskennen?

Man müsste sehr schnell das äußerst hierarchische, mehrstufige Genehmigungssystem der Regierung vereinfachen. Das macht es allen NGOs schwer, in der Gegend zu arbeiten. Die erste Prüfung erfolgt, wenn ausländische Gelder im Spiel sind, dann wird eine Genehmigung für ein Projekt für nur sechs Monate erteilt. Danach muss ein neuer Antrag gestellt werden. Auf der Lagerebene dauert eine Genehmigung, einschließlich der Aufteilung von 75/25 Prozent, dann noch einmal vier bis fünf Monate. Dann bleiben oft zwei Monate zur Umsetzung. Diese Hierarchie ist wirklich sehr, sehr schwierig – für die NGOs wie für die Empfänger. 

Gibt es Versuche, von dem kurzfristigen Nothilfedenken in eine längerfristige Perspektive der Entwicklung zu gelangen? Also vielleicht Pläne für einen runden Tisch mit allen Verantwortlichen?

Ja, es gab solche Pläne. Aber dann veränderte sich die Lage durch den Putsch in Myanmar, und ohne die Kooperation der dortigen Regierung macht es für Bangladesch keinen Sinn, mit der internationalen Gemeinschaft zu sprechen. Das ist eine große Hürde. In der Zwischenzeit bittet die Regierung in Dhaka um Unterstützung für die Ausgaben, die etwa für Personal oder Straßenbau in Zusammenhang mit der Versorgung der Lager anfallen. Es ist eine große wirtschaftliche Belastung – und eigentlich müsste die Situation rasch und dringend verbessert werden. Aber es sieht so aus, als ob die gegenwärtige politische Lage sich noch einige Jahre hinziehen wird. Obwohl die Rohingya wieder nachhause wollen, und die Anwohner hier ihr normales Leben wieder zurückhaben möchten.

Marina Zapf, Journalistin, berichtet seit 20 Jahren aus Berlin über Themen der Außen, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Marina Zapf Team Welternährung.de

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