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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 06/2022
  • Prof. Donald Bundy, Carmen Burbano de Lara

Wie COVID-19 Millionen von Kindern die Schulmahlzeit raubt

Tägliche Schulessen sind das größte Sicherheitsnetz der Welt. Doch die Corona-Pandemie hat riesige Löcher gerissen. Eine globale Allianz hat sich vorgenommen, sie wieder zu flicken.

Schulmahlzeit aus Bohnen und Maismehl in der Bwama-Grundschule im Ort Nyamagabe, einer von 107 ruandischen Schulen im WFP-Programm für bedürftige Landkreise. © WFP

Die Unterstützung kam zur rechten Zeit. Im Frühjahr 2022 schloss die Europäische Union sich 61 Ländern aus aller Welt an, um eine globale Koalition zu stärken, die sich der Versorgung von Schulkindern mit Mahlzeiten verschrieben hat. Die EU-Kommissarin für internationale Partnerschaften, Jutta Urpilainen, sagte unter dem Eindruck des russischen Einmarsches in die Ukraine und mit Blick auf die Folgen für die Ernährungssicherheit in der ganzen Welt: „Der Krieg wird eine bereits dramatische Situation weiter verschlechtern.“ Es bedeute ihr um so mehr, der Koalition für Schulmahlzeiten beizutreten, „denn die Schulernährung spielt eine entscheidende Rolle für die Bildung und die Entwicklung von Kindern“.

Programme für Schulspeisungen stellen das größte soziale Sicherheitsnetz der Welt dar. Sie kommen Kindern in den Städten und Dörfern in 163 Ländern der Welt zugute und versorgen mehr als jedes zweite Kind an jedem Schultag mit einer verlässlichen Mahlzeit. Das sind einige der Schlüsselergebnisse aus dem Zustandsbericht des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) vom Januar 2020. Doch nur wenige Monate später, im April 2020, brach die COVID19-Pandemie aus und 199 Länder waren gezwungen, ihre Schulen zu schließen. Über Nacht verloren fast alle Kinder, ihre einzige verlässliche Mahlzeit am Tag. Was ist seitdem geschehen? 

Der WFP-Bericht umreißt auf Basis der besten verfügbaren Datenquellen die wichtigsten Aspekte, Umsetzungspraktiken und Kosten von schulischen Gesundheits- und Ernährungsprogrammen weltweit. Über die letzten zehn Jahre bis 2020 werden Richtung und Ausmaß von Veränderungen analysiert. Demnach wurden Anfang 2020 für mehr Kinder in mehr Ländern als je zuvor Schulmahlzeitenprogramme durchgeführt. Fast die Hälfte aller Schulkinder weltweit – etwa 388 Millionen – erhielten an jedem Schultag eine Mahlzeit, zu 90 Prozent ergänzt durch ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung der Gesundheit.

Gamechanger COVID19

Innerhalb der letzten zehn Jahre vor Beginn der Pandemie war die Versorgung stetig gestiegen, vor allem in Ländern mit niedrigen und niedrigen mittleren Einkommen, wobei sich die Zahl der unterstützen Kinder in Afrika fast verdoppelt hat. Zu mehr als 80 Prozent sind die Programme in staatliche Strukturen und kinderbezogene politische Praxis integriert worden. So ist die Schulspeisung unverzichtbares Element sozialer Sicherung geworden. Jährlich werden weltweit 41 bis 43 Mrd. Dollar für sie aufgewendet, wovon mehr als 90 Prozent aus inländischen staatlichen Mitteln stammen. 

Diese Investitionen sorgen nicht nur dafür, dass Kinder gesund heranwachsen und lernen, sie schaffen auch das menschliche Kapital, das künftiges Wirtschaftswachstum erst ermöglicht. Sie tragen zudem erheblich zur Stärkung der lokalen Wirtschaft bei, indem sie Bäuer*innen Märkte eröffnen und pro 100.000 Kindern, die mit Mahlzeiten versorgt werden, rund 2.000 neue Arbeitsplätze schaffen.

Als die Schulen schlossen, verloren die Kinder nicht nur ihre Chance auf Bildung, sondern auch ihren Zugang zu schulischen Dienstleistungen, wie dem Schulessen, und zum sozialen Schutz, den eine Schule bietet. Von bislang 388 Millionen versorgten Schulkindern verloren nach WFP-Schätzungen ganze 370 Millionen den Zugang zu ihrer einzigen verlässlichen Mahlzeit am Tag. Wir wissen heute, dass in vielen Gemeinden, wo der Unterricht ausfiel, auch die Sicherheit von Schulmädchen beeinträchtigt wurde. Die schützende Umgebung der Schule ging verloren. In einigen Gesellschaften wurden Mädchen schon bald zu sehr jungen Müttern und Ehefrauen und brachen die Schule oft endgültig ab.

Nach Schätzungen der Weltbank wurden in zwei Jahren Pandemie die Schulen in jedem Land durchschnittlich je 20 Wochen ganz und teilweise geschlossen. Fast alle Länder versuchten, die Folgen irgendwie abzumildern, aber mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ein Mittel zur Schadensbegrenzung bestand im Fernunterricht mittels E-Learning, Fernsehen und Radio. Um die Essensversorgung in der Schule zu ersetzen, wurden kommunale Dienste zur Verteilung von Essensrationen und auch Bargeldzahlungen eingeführt. Diese Abhilfe reichte jedoch häufig nicht aus, oder verschärfte sogar teilweise die Ungleichheiten: In Afrika haben weniger als zehn Prozent der Haushalte Zugang zu E-Learning. Geld- und Nahrungsmittel erreichen unter Umständen nicht die Kinder, insbesondere die Mädchen.

Das WFP nutzte seine umfassende Logistik-Erfahrung, um Alternativen zu Schulmahlzeiten wie Nahrungsmittelrationen zum Mitnehmen und Bargeldtransfers zu organisieren, und erreichte damit etwa 6,9 Millionen Kinder. Aber selbst mit den bestmöglichen Anstrengungen konnten nur etwa 40 Prozent der 17 Millionen Kinder erreicht werden, die zuvor von direkt WFP-gestützten Programmen erfasst waren. 

Zentral für Wohlergehen von Schulkindern

Schon vor der COVID-Pandemie hatte ein Paradigmenwechsel eingesetzt, während der ersten 8.000 Lebenstage in das Wohl von Kindern zu investieren. Die „ersten 1000 Tage“, also der Zeitraum von der Zeugung bis zum zweiten Lebensjahr, mit neun Monaten im Mutterleib, gelten als ausschlaggebend für die Gesundheit und Entwicklung des Kindes. Diese Fokussierung ist in vielen Ländern ein notwendiger und gut etablierter Politikansatz. Es wuchs jedoch die Erkenntnis, dass Gesundheit und Ernährung in den folgenden 7.000 Tagen bis zum Beginn des Erwachsenseins mit 21 ebenso bedeutsam sind – um Erreichtes zu bewahren, damit Kinder Entwicklungsrückstände aufholen können, und um auf Phasen der Anfälligkeit einzugehen, vor allem in der Pubertät, dem Wachstumsschub und der Gehirnentwicklung im jugendlichen Alter.

Schulische Gesundheits- und Ernährungsprogramme gehören für Regierungen zu den wirtschaftlichsten Formen, Kinder in diesen 7.000 Tagen zu unterstützen. Schulmahlzeiten verbunden mit ergänzenden Aktionen zur Gesundheitsvorsorge in der mittleren Kindheit und Jugend sind ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der menschlichen Ressourcen, also der Summe aus Gesundheit, Fertigkeiten, Wissen und Erfahrung einer Bevölkerung. 

Nahrhafte Mahlzeiten in Laos. Gesundes Essen macht die Schulen attraktiver. © Bart Verweij / World Bank

Eine gut ernährte, gesunde und gebildete Bevölkerung ist die Grundlage für Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung: In einkommensstarken Ländern wie Deutschland beruhen rund 70 Prozent des nationalen Wohlstands auf der Leistung ihrer Bürger; in vielen einkommensschwachen Ländern erreicht dieser Anteil keine 40 Prozent. Die Ungleichheit hat lebenslange Folgen für die Gesellschaften und den Einzelnen: Menschen können ihr Potenzial im Leben nicht voll ausschöpfen, und folglich kann auch die Gesellschaft als Ganzes ihr Leistungsvermögen nicht erfüllen.

Aus Studien zur Kosten-Nutzen-Analyse ist ersichtlich, dass Programme für Schulmahlzeiten und Schulgesundheit positive Wirkungen in vielen Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Ernährung, bei der sozialen Sicherung und in der landwirtschaftlichen Praxis entfalten. Für jeden Dollar, der in die Bereitstellung von Schulverpflegung investiert wird, kann die Rendite bis zu neun Dollar betragen. Als Bonus können die Programme erstaunlich klimafreundlich sein: Schulspeisungen aus eigenem Anbau, für die Lebensmittel von Bäuer*innen der Umgebung bezogen werden, verkürzen Lieferketten und minimieren die Verschwendung.

Vor COVID-19 hatten Regierungen den Sinn von Investitionen in die 7.000 Tage zunehmend erkannt. So überrascht es nicht, dass die Mittel innerhalb der zehn Jahre vor Ausbruch der Pandemie gestiegen waren. Weltweit werden Schulspeisungen inzwischen zu über 90 Prozent aus heimischen staatlichen Kassen finanziert. So wie die meisten Länder um die Jahrtausendwende die allgemeine, kostenlose und verpflichtende Schulbildung in diesen „7.000 Tagen“ beschlossen, so investierten sie seit 2010 auch zunehmend in Gesundheit, Ernährung und das Wohl der Lernenden in dieser entscheidenden Wachstums- und Entwicklungsphase. Das WFP setzt Schulmahlzeitenprogramme direkt in 59 Ländern um und leistet in 69 Ländern technische Hilfe, um die Regierungen bei der Stärkung ihrer nationalen Programme zu unterstützen.

Was tun für die Erholung von der Pandemie?

Die Schulsysteme kommen weltweit nur sehr langsam wieder auf die Beine. Nach Schätzungen des WFP gingen nach dem Ausbruch der Pandemie im April 2020 rund 370 Millionen Kinder (in 199 Ländern) die Schulmahlzeit verloren. Im Frühjahr 2021 waren noch 252 Millionen (in 93 Ländern) und jetzt, im Jahr 2022, sind es noch immer 204 Millionen (in 50 Ländern). Gemessen an den 388 Millionen Kindern, die vor der Pandemie versorgt waren, bedeutet dies, dass weniger als die Hälfte wieder eine Mahlzeit in der Schule erhalten.

Ein leeres Klassenzimmer in Lagos im Mai 2020. WFP unterstützte die Regierung von Nigeria, während der Pandemie Schulessen zu verteilen. © WFP/Damilola Onafuwa

Etwas musste geschehen. Auf dem UN-Gipfel für Ernährungssysteme im September 2021 in New York gründete eine Gruppe von Ländern die Global School Meals Coalition. Diese Partnerschaft von 61 Ländern und 63 Interessengruppen hat sich vorgenommen, dass jedes Kind bis zum Jahr 2030 in der Schule täglich eine gesunde, nahrhafte Mahlzeit erhalten soll. In ihrer Gründungscharta formulierten die Regierungen drei konkrete Ziele:

Wie diese Ziele erreicht werden, wird von Land zu Land unterschiedlich sein, aber einige Länderbeispiele, die von den Staatsoberhäuptern unterstützt und gesteuert werden, veranschaulichen ein starkes Engagement: So hat sich Ruandas Präsident Paul Kagame zu einer lückenlosen Versorgung der Grundschulen mit Schulmahlzeiten bekannt. Er will die jüngst auf 640.000 Kinder 2020 ausgedehnten Programme auf 3,3 Millionen Kinder bis 2022 ausweiten.

Stellenweise Chefsache 

Benins Präsident Talon hat angekündigt, in den nächsten fünf Jahren 270 Mio. Dollar aus dem Staatshaushalt bereitzustellen, um das nationale Programm auszuweiten. In Senegal, dem ersten Mitgliedsland der SMC-Verpflichtung, wies Präsident Macky Sall seinen Finanzminister an, 2,5 Mio. Dollar für Schulspeisungen im Jahr 2022 bereitzustellen.

Um den Ländern die Umsetzung dieser Zusagen zu erleichtern, hat die Koalition mehrere Initiativen zur Unterstützung gestartet: darunter ein Forschungsverbund für Schulgesundheit und Ernährung an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, der globale Arbeitsgruppen (Communities of Practice) gegründet hat, um Entscheidungträger*innen die besten Erkenntnisse über möglichst wirtschaftliche Programmgestaltungen zur Verfügung zu stellen; eine von der Global Education Commission geleitete Initiative für nachhaltige Finanzierung, die neue Ansätze erarbeiten soll; und eine vom Welternährungsprogramm geleitete Daten- und Monitoring-Initiative, die den Erfolg des Wiederaufbaus verfolgen und bewerten soll.

Auch Deutschland spielt eine wichtige Rolle. Im Juni 2021 richtete die Regierung ein virtuelles Treffen zur „Politik gegen den Hunger“ aus, auf dem eine Gemeinschaft für bewährte Praktiken (Peer-to-Peer Community of Best Practice) vereinbart wurde. Die Teilnehmenden begrüßen die Einführung eines solchen Netzwerkes zum Austausch bewährter Praktiken.

Bis heute bleiben wegen COVID-19 die Schulen in der Welt zu großen Teilen geschlossen. Die Folgen sind katastrophal: Nicht nur wurden 1,5 Milliarden Kinder ihrer Schulbildung beraubt und die schlimmste Bildungskrise der Geschichte ausgelöst. Ihnen wurde auch der Zugang zu Gesundheits- und Ernährungsdiensten verwehrt, die über die Schulen bereitgestellt werden. Vor einigen Monaten hat die Welt beschlossen, etwas dagegen zu tun und die globale Koalition für Schulmahlzeiten ins Leben gerufen. Sie will Länder bei der Zusammenarbeit unterstützen, damit sich diese Lage wieder verbessert. Was sich daraus in den nächsten Jahren ergibt, wird in hohem Maße über die Zukunft der heutigen Kindergeneration entscheiden.

 

Prof. Donald Bundy London School of Hygiene and Tropical Medicine, UK
Carmen Burbano de Lara United Nations World Food Programme, Rome
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