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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 06/2022
  • Dr. Connie Voigt

Getreidekrimi in Tunesien: Feuerlöschen im Zeichen der Hydra

Der Ukrainekrieg fordert Tunesiens gelenkten Markt für Getreide heraus. Ein System aus Subventionen, verdeckter Korruption und Reformträgheit zeigt sich nur bedingt reaktionsfähig.

Seit Beginn des Ukrainekriegs, mit dem die Getreideexporte nach Tunesien versiegten, blieben in den Supermärkten die Mehlregale stellenweise leer. © Connie Voigt

Die in Tunesien seit der Unabhängigkeit 1956 verfolgte Getreidepolitik steht im Zeichen von subventionierten Verbraucherpreisen und einem protektionistischen Liberalismus. Das Getreidegeschäft wird weitgehend vom Staat verwaltet – und eben nur verwaltet, nicht effizient kontrolliert. Verdeckte Korruption, Reformlähmung und Beratungsresistenz ergeben – gepaart mit Klimawandel und fehlendem Wassermanagement – einen bitteren Cocktail, der kein Feuer löscht. Die Ukrainekrise fordert das umstrittene Modell heraus.

Seit Beginn des Ukrainekriegs, mit dem die Getreideexporte nach Tunesien versiegten, blieben in den Supermärkten die Mehlregale stellenweise leer. Fragt man heimische Agrarexperten, wie es zu dem derzeitigen Engpass in der Getreideversorgung kommen konnte, heißt es zunächst: „Bei uns ist alles sehr komplex. Man muss die Zusammenhänge erklären, um die Lage zu erfassen.“ Denn im Gesamtbild, so fasst es die unabhängige Agraringenieurin für Landwirtschaftsentwicklung, Rym Ben Zid, zusammen, hätte das Staatsgebiet mit struktureller Hilfe und politischem Willen sowohl das Potenzial wie auch den Nährboden, um die lokale Versorgung zu steigern.

Aktuell gebe es 1 Million Hektar (ha) Getreideanbauflächen, von denen auf 515.000 ha Hartweizen und auf 430.000 ha Gerste angebaut würden, rechnet der Agrarökonom Houssem Eddine Chebbi vor. „Weichweizen wird nur auf 75.000 ha angebaut.“, ergänzt Chebbi, der in einer liberal orientierten Splitterpartei tätig ist.  Theoretisch könnte der Getreideanbau in Tunesien verdoppelt werden. Theoretisch! Aber in Tunesien wurde nie ernsthaft strategische Agrarpolitik betrieben und das Landwirtschaftsministerium arbeitet nicht verzahnt mit dem Finanz- oder Wirtschaftsministerium zusammen, sind sich die beiden Experten einig. „Unser Agrarwesen fristet, solange ich denken kann, ein Schattendasein", sagt Ben Zid, Jahrgang 1964.  

Das erstaunt, denn fast 34 Prozent der Bevölkerung lebt in den ländlichen Gebieten des nordafrikanischen Landes. Die Landwirtschaft zählt in diesen Regionen nach wie vor zur Haupteinnahmequelle und sorgt für etwa 44 Prozent der Beschäftigung. In den vergangenen Jahren trug die landwirtschaftliche Erzeugung aber lediglich mit acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. (FAO 2020)

Sollte Tunesien die Last der Covid-19-Krise und der Agrarpreiskrise infolge des Ukrainekriegs zum Anlass nehmen, seine Vision der Ernährungssicherheit zu überdenken? Die Frage der Ernährungssicherheit sei immer ein Opfer der Dualität zwischen Familienlandwirtschaft und kapitalistischer Landwirtschaft gewesen, meint Ben Zid. Eine ernsthafte Kosten-Nutzen-Analyse, wie sich die Versorgung der Gesellschaft mit eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen im Verhältnis zum Wert der verwendeten heimischen Ressourcen rechnen würde, habe jedoch nie jemand angestellt. Wichtig erscheint der Agraringenieurin, den lokalen Viehbestand durch eine beständige Produktion von Getreidefutter zu stabilisieren – und dies vor dem Hintergrund des Klimawandels, des Wassermangels und des katastrophalen Wasser-Managements.

„Die vergangenen Regierungen haben nie über ein alternatives Szenario einer Reduzierung der Exporte nachgedacht“, kritisiert Ben Zid.  Während Exporte Devisen abwerfen, werden sie für den Import von Grundnahrungsmitteln verwendet, deren Volumen über die Jahre ständig zugenommen hat – und das Land in eine Situation der Abhängigkeit bringt. Dies zeigt sich um so akuter in einer Weltlage, in der Länder mit beträchtlichen Devisenreserven und hoher Liquidität effektiv die Vorherrschaft haben.

Zahlungsfähigkeit und Defizite

Nach seiner Haushaltslage und den Import- und Verbraucherdaten wurde Tunesien bereits 2010 zu den meistgefährdeten Ländern für Preisschocks von der Weltbank eingestuft. (Weltbank 2010) Umso tragischer erscheint vor diesem Hintergrund der enorme Anstieg der Getreideimporte, der sich seit 1984 mehr oder weniger ungebrochen fortsetzte. Und Russlands Krieg macht die Situation noch tragischer: Das Land deckt bislang etwa 80 Prozent seines Weizenbedarfs mit Importen aus der Ukraine ab.

Während ukrainische Getreideexporte zur See blockiert sind, stehen drei Monate nach Kriegsbeginn derweil acht Frachter vor der Küste Tunesiens und warten auf die Löschung ihrer Ware. An Bord: Weizen. Doch der kann wochenlang nicht entladen werden, da dem tunesischen Staat die Zahlungsmittel fehlen. Der Grund: der enorme Weltpreisanstieg macht den in der Region "heiligen" Weizen (1) unbezahlbar. Zusätzlich ist dies noch der Entwertung des tunesischen Dinars geschuldet. 

Um die Anlieferung zu garantieren, sagte die Weltbank auf Bitten der Regierung in Tunis zusammen mit der Afrikanischen Entwicklungsbank (AFDB) Ende Mai eine Finanzspritze von 190 Mio. Euro zu, verlautete aus diplomatischen Kreisen. Seit dieser Zusage füllen die Regale sich wieder mit Mehl. Vorübergehend waren sie leergekauft. Die Verbraucher atmen auf – erst einmal. Denn laut dem Landwirtschaftsministerium decken die derzeitigen Getreidevorräte den Bedarf noch bis Ende Juni 2022 für Weichweizen – also für Brot – und bis Mai für Hartweizen und Gerste, die als Viehfutter dienen.

Aber was ist mit der Zeit nach Juni? Berechnungen der tunesischen Zentralbank zufolge wird das Haushaltsdefizit in diesem Jahr 9,7 Prozent des BIP erreichen, drei Prozentpunkte mehr als im Haushaltsgesetz für 2022 vorgesehen. Die regionale Tageszeitung "Le Maghreb" macht die Ursachen in dem drastischen Anstieg der Lebensmittel- und Energiepreise infolge des Ukrainekrieges aus. „Es müssen zusätzliche Finanzierungen her, etwa durch den IWF, um drastische Maßnahmen zu gewährleisten."

Der Agrarökonom Chebbi sieht hinter den Lieferengpässen noch andere Kräfte am Werk. Er vermutet Mechanismen der Mikro-Korruption: „Die Hersteller wollen an den durch das Getreideamt bestellten Importvolumen nichts ändern, um ihre Schattenexporte zu sichern.“ Er spricht damit eine fatale Verkettung an – vor dem Licht der Tatsache, dass der Staat importiertes Getreide subventioniert. 

Schattenwirtschaft im Schatten des Protektionismus

Vor der allgemein bekannten und seit Jahrzehnten etablierten Schattenwirtschaft im Land verschließt das "Ministere de Commerce", das Handelsministerium, die Augen. Es gibt de facto auch keine Kontrollen seitens des Wirtschaftsministeriums. Niemand weiß, wie viel von dem lokal produzierten Getreide hochpreisig in die ölproduzierenden Nachbarländer Algerien und Libyen exportiert wird. Chebbi sagt mit Blick auf das 2011 gestürzte Regime: „Unter Ben Ali in der Zeit von 1987 bis 2011 hatten wir eine offensichtliche Makro-Korruption im Land. Nun haben mir eine Mikro-Korruption, die viel verdeckter abläuft.“

Das Land werde durchwandert von den politischen Konservativen, die der Ennahda-Partei angehören. „Sie durchdringen alle Bereiche der Industrie und decken sich untereinander so geschickt, dass keine faktenbasierten Beispiele genannt werden können“, sagt der Ökonom.  Aber es gebe eine offenbar künstliche Nachfrage für weit überzogene Mengen von Weizen seitens der verarbeitenden Industrie.

„Laut Angaben für 2017 bis 2021 wurden im Schnitt 206 kg pro Einwohner eingekauft. Damit würde jeder Haushalt in Tunesien so etwas wie 15 Baguettes pro Tag konsumieren“, rechnet Chebbi vor. Das sei absurd und könne nicht den real verarbeiteten Volumen von Weizen entsprechen. Die bestellten Importe der Groupe Belkhiria, die das dominierende weizenverarbeitende Unternehmen ist, basierten also nicht auf dem realen Bedarf des lokalen Markts. Vielmehr liege die Vermutung nahe, dass Weizen zu beliebigen Preisen auf dem Schwarzmarkt wieder exportiert werde.

Laut Getreideamt hat sich Tunesien bereits im März an alternative Lieferländer wie Argentinien, Uruguay, Bulgarien und Rumänien gewandt, hauptsächlich um ukrainischen Weichweizen zu substituieren, und an Frankreich für Gerste. Ein Preis wurde nicht erwähnt.  Die Preissteigerungen auf dem Weltmarkt lassen jedoch wenig Optimismus zu, was die letztendliche Zahlungsfähigkeit aus eigenen Ressourcen betrifft. Denn bereits im Dezember 2021 lagen vier ausländische Schiffe mehrere Tage auf Reede, die mit importiertem Weizen, Gerste und Mehl beladen waren.

Sie konnten den Handelshafen Sfax nicht anlaufen und ihre Fracht löschen, weil das Getreideamt nicht zahlen konnte. Solch ein Vorfall soll sich in mehreren Häfen des Landes mehr als einmal ereignet haben. Niemand hat verfügbare Angaben – auch nicht dazu, wie viele weitere Frachter auf dem Weg nach Nordafrika unterwegs sind. Klar ist nur, so ein Schiff hat im Schnitt 100.000 Tonnen Getreide geladen.

Subventionierter hoher Brotkonsum

Im Vergleich zu Ägypten und Marokko konsumieren die Tunesier mehr Weizenprodukte und das zum geringsten Preis in der Mittelmeerregion. Seit 1985 hat sich der Konsum von einfachem Backbrot oder Baguette in ländlichen Gebieten fast verdoppelt, während er in städtischen Gebieten laut Statistikamt um 16 Prozent zurückging. Eine Studie des Nationalen Verbraucherinstituts (INC) von 2018 zeigte, dass 900.000 Broteinheiten täglich verschwendet werden. Wenn man der Quelle Glauben schenkt, würde das pro Jahr ein sinnloses Entsorgen von Brot im Wert von etwa 180.000 Dinar (rund 55.600 Euro) bedeuten. Zugleich leiden nach den Worten der tunesischen Frauenministerin zehn Prozent der tunesischen Kinder an Unterernährung.

Hausgebackene Nahrungsmittel aus Mehlteig werden in Tunesien mehrmals täglich verzehrt. Teigwaren in großer Vielfalt sind Hauptnahrungsmittel, das Baguette ist Teil des Alltags. Während der ersten Covid-Ausgangssperre im Frühling 2020 horteten Verbraucher nicht etwa Toilettenpapier, sondern sie kauften Regale mit Mehl und Grieß zur Bereitung von Couscous leer.

Brotpreise sind Regierungssache, und nur einmal – 1983 – hob der Staat sie an. Das führte 1984 zur Brotrevolution. Bei den Ausschreitungen gab es Tote, bis der damalige Staatschef Habib Bourguiba mit einem geflügelten Satz die Menschen beruhigte: „On retourne comme on etait", alles bleibt beim Alten. Seitdem blieben die Brotpreise stabil. Man kann auch behaupten, dass die Brotpreise zu den wenigen Dingen gehören, die nach der Revolution 2011 stabil blieben.

Risiko Brotrevolution

Staatlich subventioniert wird das Brot, welches in den Bäckereien hergestellt wird, und auch das Mehl in den Märkten und Supermärkten seit den 70er Jahren – per Gesetzespassus „Loi 72". Für ein Kilogramm Mehl zahlt der Verbraucher 850 millimes, das entspricht etwa 25 Euro-Cent. Ein Baguette kostet 200 millimes, etwa sechs Cent – für den Porschefahrer aus dem Nobelviertel genauso wie für den Tagelöhner vom Bau. Wer arbeitslos ist, ohne Rücklagen, mittellos ohne Unterstützung der Familie, ernährt sich fast ausschließlich von dem Volksnahrungsmittel. 200 millimes macht auch ein Taxifahrer mal für einen Bettler an der roten Ampel locker.

Was wäre also, wenn Staatspräsident Said Subventionen für Brotprodukte lockern würde? Das würde derzeit mehr als eine weitere Brotrevolution entfachen, sagen besorgte Menschen auf der Straße in den besseren Vierteln von Tunis und Politikbewegte. „Verfügbarkeit und der geringe Preis von Weizenprodukten tragen zum sozialen Frieden bei", sagt Rike Sohn, Stellvertretende Leiterin der Abteilung für bilaterale Kooperation an der Deutschen Botschaft in Tunis. „Daher fokussieren wir uns erstmal auf die Reform des Subventions- und Sozialsystems und führen z.B. zusammen mit UNICEF ein Kindergeld ein, das benachteiligte Familien direkt mit einem Dinar pro Kind und Tag unterstützt."

Sabotage der Sabotage

Welche Überlebensstrategien haben die unzähligen Pizzerien im Land die kein Anrecht auf Subventionen haben? Sie backen im weitesten Sinn ihre eigenen Brötchen, weil sie grundsätzlich kein subventioniertes Mehl von den Bäckereien kaufen dürfen. Allerdings wurden die Preise im Großhandel künstlich mal eben verdoppelt: „Im März zahlte ich 15 Dinar für zehn Kilo Mehl. Davor lag der Preis bei 8,80 Dinar", klagt Tarek, der Betreiber einer Pizzeria in Rades, einem verarmenden Mittelschichtenvorort im nördlichen Tunis. „Saboteure machen unsere Wirtschaft kaputt“, schimpft er. „Sobald die Gegenspieler des Präsidenten wussten, dass wir auf eine Getreidekrise zusteuern, kauften sie in großen Mengen Mehl auf und forderten dann den doppelten Preis auf dem Markt. Wir haben hier im Viertel keine Wahl: Wir arbeiten, oder wir gehen zugrunde.“

Wenn sich die Schattenwirtschaft weiter bereichern dürfe, nehme er sich auch das Recht, illegal zu handeln, ergänzt Tarek mit einem Augenzwinkern. Er fuhr eine Strategie, die Rationierung zu umgehen. Kindern aus dem Viertel verspricht er je einen Dinar (33 Cent), wenn sie frühmorgens in verschiedenen Supermärkten je zwei 2 Kilo Mehl kaufen, bevor ab zehn Uhr die Regale leer sind. Täglich hatte er somit genug Päckchen zur Verfügung, um seinen Pizzateig herzustellen. Zur Sicherheit versprach er außerdem dem Sicherheitsangestellten eines Supermarkts freie Pizzen, wenn er mehrere Tage lang morgens zwei Kilo für ihn kaufe. Man müsse sich eben zu helfen wissen, sagt Tarek. „Kurzfristiges Denken und Handeln ist Teil unserer Kultur – und jetzt umso mehr.“

Kritiker der Subventionspolitik fordern, stattdessen die lokale Produktion, also die Bauern, staatlich zu unterstützen. So könne der heimische Agraranbau angetrieben, der Weizenanbau mit höheren Erlösen lukrativer gemacht werden. Denn im Gegensatz zu den Nachbarländern Algerien und Libyen verfügt Tunesien über keine Öleinnahmen, um die Inflation der Getreidepreise langfristig bei Bedarf immer wieder abzufedern. Der Präsident des Arbeitgeberverbands CONECT-AGRI weist zudem darauf hin, dass Tunesien aus der Schwarzmeerregion vor allem Weichweizen für die Herstellung von Brot beziehe. „Wir selbst sind ein Land mit einer Hartweizentradition zur Herstellung von Pasta-Produkten", sagt Bechir Mestiri.

Fehlen einer klaren Agrarpolitik

Im Jahr 2021 importierte Tunesien 2,5 Millionen Tonnen Getreide. (s. Grafik) Ungefähr die Hälfte davon entfiel auf subventionierten Brotweizen. Ergebnis einer verfehlten Politik, meint Imed Ouadhour, Generalsekretär der tunesischen Bauerngewerkschaft für die Region Bizerta (SYNAGRI). „Wenn wir eine klare Agrarpolitik hätten, wären wir nicht in dieser Situation", sagt Ouadhour, der selbst Getreidebauer ist. „Der Staat hat sich nie an Debatten der Ernährungssicherheit in Tunesien beteiligt.“ Aber die Regierung fördere den Anbau von Hartweizen.

„Das Getreideamt bestimmt den Preis von 100 Dinar pro Doppelzentner Hartweizen und 80 Dinar pro Doppelzentner Weichweizen“, erklärt Ouadhour. „Auf diese Weise zwingen wir die Landwirte, eher Hartweizen anzubauen.“ Dabei sei der Prozess der Erzeugung derselbe. Wenn der Krieg in der Ukraine andauert, erwartet der Getreidebauer ein reales Risiko für die Weizenversorgung. Das werde Tunesien aufgrund der sinkenden Produktivität des heimischen Agrarsektors und der Auswirkungen des Klimawandels nur schwer bewältigen können.

Volatile Ernten

Denn von dem Konflikt in der Ukraine betroffen ist auch die Versorgung mit Futtermitteln für die Viehhaltung. „Der Preis für Gerste ist in Tunesien stark gestiegen“, betont Bechir Mestiri. Sie werde für Tierfutter verwendet: Schafe, Rinder, Geflügel und sogar Zuchtfische. Bei steigender Nachfrage für Nahrungsmittel aufgrund der wachsenden Bevölkerungszahl (Verdreifachung seit 1956 auf 12 Millionen), schrumpfen die landwirtschaftlichen Flächen. In Bizerta im Norden des Landes beobachtet Imed Ouadhour in nur wenigen Jahren einen Rückgang von 95.000 auf 91.000 Hektar.

Das hat mit Problemen der Bodenerosion zu tun, und damit, dass Familienbetriebe die extremen Schwankungen in den Ernteerträgen nur schwer abfedern können. Der Nettoprofit pro Hektar liegt bei 600 Dinar in einem schlechten Jahr und bis zu 15.000 Dinar in einem – sehr seltenen – Spitzenjahr. Das Klima ist in Tunesiens Mikrowetter von zunehmend erratischen Regenfällen an unvorhersehbaren Orten geprägt. Das bedeutet: Kein Betrieb kann verlässlich budgetieren. Banken nehmen auf Missernten keine Rücksicht und vergeben Kredite nur gegen die Sicherheit regelmäßiger Erträge. Immer mehr der 70.000 Kleinbauernfamilien werden durch die volatilen Wetterkapriolen an die Armutsgrenze getrieben.

Qualität der Agrikultur

Forscher von ICARDA, die auf Trockenzonen spezialisiert sind, arbeiten mit Kleinbetrieben von bis zu zwölf Hektar Flächen daran, regionale Monokulturen mit variierendem Fruchtfolgeanbau aufzubrechen und die Resilienz der Nährböden mit permanenter Bodenbedeckung durch Leguminosen zu verbessern. Kofinanziert vom internationalen Fonds IFAD und der deutschen Entwicklungsorganisation GIZ sollen Saatgutmaschinen eingesetzt werden. Doch die Kooperation ist nicht einfach – schätzungsweise 70 Prozent der Kleinbauern insbesondere im Süden sind Analphabeten, was die Kommunikation für die Modernisierungshilfe der Betriebe erschwert.

Der Staat stellt bislang Saatgut zur Verfügung, das nicht klimaresistent ist. ICARDA will dem laut Innovation-Manager Udo Rüdiger gegensteuern und versucht, die Bauern von mehr Mischkulturen oder Leguminosen zu überzeugen. Man stoße „aber leider häufig auf Beratungsresistenz“. Auch bei der Verwüstung lege die Regierung zu wenig Gewicht auf die Fähigkeit der Böden, Wasser aufzunehmen. Der Humusgehalt müsste staatlicherseits gesichert und Erosionsschutz gewährleistet werden.

Ein anderes tiefgreifendes Problem ist das mangelhafte Wassermanagement des Staates. Theoretisch subventioniert die landwirtschaftliche Investitionsbehörde APIA zu 50 Prozente Geräte wie etwa Bewässerungsschläuche. „In der Praxis wartet der Bauer mindestens drei Jahre auf diese Schläuche und bleibt auf dem Trockenen“, sagt Rüdiger. Der Grund: administrative Lähmung, also letztendlich Missmanagement der Regierung, die ihre Kleinbauern weiter verarmen lässt.

Und jetzt?

Nach internen Quellen einer internationalen Organisation ist die Finanzierung für den Einkauf von Getreide im Umfang von 800.000 Tonnen zum Preis von ca. 351 Mio. Dollar vertraglich abgeschlossen. Das würde die Versorgung bis August sicherstellen. Offen bleibt die Zahlungsfähigkeit. Auch für die Restmonate des Jahres 2022 sind angeblich noch keine Verträge abgeschlossen, aber der kommunizierte Bedarf des Imports für September bis Dezember liegt bei über 1 Million Tonnen Getreide. Nach derzeitigem Preisstand ist auch offen, wie diese rund 420 Mio. Dollar aufgebracht werden – also insgesamt fast 800 Mio. Dollar.

Was die lokalen Erntevolumen 2022 hergeben werden, ist unsicher, „Mitte August werden wir wissen wie die diesjährige Ernte aussieht“, sagt Agrarökonom Chebbi. Er ist jedoch eher pessimistisch.

Deutsche Entwicklungspolitik will den Anbau von Gerste als Futtermittel unterstützen. Die GIZ kooperiert mit dem staatlichen Büro für Tierhaltung für eine effizientere Saatgutproduktion. Während zum Beispiel im Süden Tunesiens der Grundwasserspiegel sukzessive um 200 Meter absinkt, geht Gerstensaat bereits bei Niederschlägen von nur etwa 300 mm pro Jahr auf. Im Rahmen der Getreidekrise ist mit 2,5 Mio. Euro zusätzlich zu rechnen, um die Kooperation mit den tunesischen Partnern in der Vieh- und Weidewirtschaft voranzutreiben.

Wegen der extrem gestiegenen Futtermittelpreise mussten auch 56 Prozent der tunesischen Milchproduzenten einen Teil ihres Viehbestands verkaufen. Das ergab eine Umfrage zu den Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die Milchwirtschaft. 90 Prozent der Milcherzeuger erwarten dementsprechend in nächster Zeit eine Verschlechterung der Versorgung. Sie fordern nun die Anhebung der Verkaufspreise für die Erzeuger sowie eine geringere Zahl der Zwischenhändler bei der Distribution von subventioniertem Viehfutter. Außerdem solle der Bauernverband in die Kontrolle der Futterzuteilung einbezogen werden. Ein weiterer Kopf der staatlich verwalteten Hydra, den man am liebsten nicht abschlagen möchte.

(1) "Le ble est un benediction" ist eine feststehende Redewendung in der Region – eine Art Heiligsprechung wie im biblischen Sinne. Umso wichtiger erscheint damit eine gesicherte Versorgung.

Dr. Connie Voigt freie Publizistin in Tunis & Bremen

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