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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 12/2021
  • Charlotte Faltas

Wenn Terrorabwehr und humanitäre Prinzipien kollidieren

Antiterrorgesetze müssen humanitäres Völkerrecht wahren. In der Praxis riskieren Hilfsorganisationen in einem komplexen Rechtsgeflecht Klagen und Sanktionen.

Beobachter im humanitären Raum: Ein Mitarbeiter von Al-Haq, einer kürzlich von Israel verbotenen Organisation. © Al-Haq via Facebook

Die israelische Regierung hat Ende Oktober sechs palästinensische humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NRO) als „terroristisch“ eingestuft und dies mit deren angeblichen Verbindungen zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) begründet. Mitglieder der NRO sollen Hilfsgelder an die PFLP weitergegeben haben. Die Volksfront wird auch von der Europäischen Union und den USA offiziell als Terrororganisation angesehen. Der Beschluss der Regierung wurde von lokalen wie internationalen Menschenrechtler:innen und Organisationen heftig kritisiert und verurteilt, darunter von Amnesty International, Human Rights Watch und den Vereinten Nationen. In den Niederlanden folgten Anfragen im Parlament.

Alle sechs Organisationen kümmern sich seit langer Zeit um die Verteidigung der Menschenrechte und leisten lebenswichtige zivile Unterstützung für die Einwohner:innen des Gazastreifens. Sie stärken zum Beispiel die Rechte von Frauen und Kindern, helfen bei landwirtschaftlichen und Fischereiprojekten, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und leisten Rechtsbeistand für inhaftierte Palästnenser:innen. Ihre Tätigkeit wird zu einem Teil durch eine Vielzahl internationaler Geber finanziert, Deutschland ist einer davon. Frühere Projekte der genannten NRO wurden durch den Zivilen Friedensdienst (ZFD), die GIZ und Brot für die Welt unterstützt (alle gefördert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung/BMZ), außerdem durch medico international, das Mittel von BMZ und Auswärtigem Amt erhält. Dazu flossen Gelder mehrerer deutscher parteinaher Stiftungen, die überwiegend aus Staatsmitteln finanziert werden, an einige der jetzt ins Visier geratenen palästinensischen NRO.

Ihre Einstufung als „terroristisch“ ist ein Beispiel dafür, wie staatliche Anti-Terror-Maßnahmen humanitäre Aktivitäten behindern und sowohl kurzfristige humanitäre Unterstützung wie auch langfristige Entwicklungsprojekte oder LRRD-Bemühungen erschweren. Zugleich hindern sie den Zugang der Zivilbevölkerung zu humanitärer Hilfe und anderer Unterstützung. Der israelische Beschluss schränkt den Spielraum für zivilgesellschaftliches und humanitäres Handeln weiter ein, beklagt auch OCHA, das Büro für die Koordinierung humanitärer Hilfe der UNO. Er verstoße gegen humanitäre Prinzipien, heißt es in einer Erklärung. "Anti-Terrorgesetze müssen in Einklang mit den Verpflichtungen aus humanitärem Völkerrecht und internationalen Menschenrechten stehen, zu denen der Respekt für Rechte der Versammlungs- und Redefreiheit gehört." Legitime humanitäre und Menschenrechtsarbeit dürften davon nicht beeinträchtigt werden.

Unerwünschter Nebeneffekt ?

Die Debatte darüber, ob die Behinderung humanitärer Arbeit durch Maßnahmen gegen Terrorismus nur ein unerwünschter Nebeneffekt ist, oder ob diese bewusst als politisches Machtinstrument eingesetzt werden, wird kontrovers geführt. Ohne Zweifel haben solche Maßnahmen aber greifbare und potenziell verheerende Folgen. Die Abwehr des Terrorismus darf nur in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen des internationalen humanitären Rechts und unter Achtung der Menschenrechte geschehen. Doch in der Realität werden diese häufig unterlaufen. Darauf haben eine Vielzahl internationaler NRO, humanitäre Helfer:innen, Wissenschaftler:innen und Jurist:innen in den vergangenen Jahrzehnten hingewiesen.

In dem von Al-Shabaab terrorisierten Somalia führt eine Soldatin der AMISOM-Truppe bei Binnenflüchtlingen Sicherheitschecks aus, bevor sie für Lebensmittelhilfen anstehen können. © UN Photo/Tobin Jones

Besonders schwer haben es NRO in Gebieten, in denen verbotene terroristische Gruppen aktiv sind – also z.B. in Syrien, Somalia, Nigeria oder den Palästinensergebieten. So konnten in den von Al-Shabaab kontrollierten Regionen Somalias während der Hungersnot von 2011 wegen strenger Anti-Terror-Maßnahmen Hilfe und Nahrungsmittel nur mit großen Komplikationen oder auch teilweise nicht bereitgestellt werden. Humanitäre Helfer:innen berichteten auch von extremen Schwierigkeiten, in den von Boko Haram kontrollierten Regionen Nigerias oder in den von Hamas beherrschten Gebieten Palästinas Zugang für humanitäre Hilfe zu ermöglichen, da jegliche Verhandlungen mit oder substanziellere Kontakte zu Mitgliedern terroristischer Organisationen verboten sind. Derzeit ist ein ähnliches Szenario in Afghanistan zu beobachten, wo strenge Sanktionen gegen die Taliban die humanitären Krise zu verschärfen drohen.           

Eingeschränkte Bewegungsfreiheit

Mohammed Azaiza hat schon seit mehr als zehn Jahren diese Schwierigkeiten erlebt. Er ist Menschenrechtler und Regionalkoordinator für Gisha. Gisha ist eine israelische NGO, die sich für das Recht auf Freizügigkeit der Palästinenser:innen vor allem im Gazastreifen und ihre im israelischen und internationalen Recht garantierten Rechte einsetzt. Azaiza beschreibt, wie Israel 2007 als Folge der de-facto-Machtübernahme der Hamas ein umfangreiches Bündel von Anti-Terror-Maßnahmen in Kraft setzte. Diese veränderten und komplizierten nicht nur seine Arbeit, sondern auch die vieler anderer gewaltfreier Organisationen in der Region – sowohl palästinensische wie israelische und auch von beiden gemeinsam getragene Initiativen. Zu den Maßnahmen gehörten eine komplexe Abfolge militärischer und Anti-Terror-Operationen, Sanktionen gegen das Regime der Hamas und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Zivilisten sowie für den Handel mit verschiedenen Gütern.

Generell sollten die Maßnahmen alle direkten und indirekten Wege blockieren, über die die Hamas finanziell und materiell unterstützt wurde. Aber der Versuch, die Miliz zu treffen, hatte auch für die Bevölkerung Gazas negative Auswirkungen. Gleichzeitig gerieten Geldgeber und humanitäre Organisationen stark unter Druck, so dass verschiedene regionale (humanitäre) Programme unterbrochen oder völlig beendet werden mussten. In dem entstandenen Schutzvakuum aufgrund der Unklarheit, wer die Region kontrolliert, führte das Ausbleiben der Zahlungen zu zusätzlicher Unsicherheit, so Azaiza. Viele Organisationen wollten oder konnten ihre friedlichen Aktivitäten nicht fortsetzen. Damit wurde der Zugang der Zivilbevölkerung zu humanitärer Hilfe erschwert. Derzeit sind 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza von solcher Hilfe abhängig.    

Rechtliches Minenfeld

Generell bewegen sich NRO mit ihrer humanitären und menschenrechtlichen Arbeit in Terrorabwehr-Kontexten in einem rechtlichen Minenfeld. Juristische Konsequenzen sind häufig unabsehbar. Sie können, wie in dem Beispiel in Israel, auf Sperrlisten gesetzt werden. Sie können unter (inter-)nationalen Anti-Terror-Gesetzen, Sanktionen oder anderen Vorschriften angeklagt und für vermeintliche Verstöße zur Rechenschaft gezogen werden. Da Maßnahmen der Terrorabwehr jegliche Zusammenarbeit mit sowie materielle oder finanzielle Unterstützung von verbotenen terroristischen Organisationen kriminalisieren, sind friedfertige NRO ständig dem Risiko ausgesetzt, gesetzeswidrig zu handeln. So waren auch Oxfam, Norwegian People's Aid und World Vision Ziel von Vorwürfen, entgegen US-amerikanischer Anti-Terror-Gesetze Hamas materiell unterstützt zu haben. Auch kleinere NRO wurden im Sudan und in Äthiopien vor Gericht gebracht.

In den am stärksten von Dürre und Hunger betroffenen Provinzen verteilt der afghanische Rote Halbmond Winterkits und Nahrungsmittelhilfe. © Afghan Red Crescent/Meer Abdullah

Das Umfeld ist zusätzlich komplex, weil Anti-Terror-Gesetze, Sanktionen und daraus folgende Einstufungen auf allen juristischen Ebenen und in unterschiedlichen Rechtsräumen uneinheitlich gehandhabt werden. Die Definitionen für rechtliche Verantwortung und nicht erlaubte Aktivitäten unterscheiden sich deutlich. Und da manche Rechtsprechung extraterritoriale Bedeutung beansprucht, und mehrere Staaten involviert sein können, ist es möglich, dass auch mehrere Terrorabwehrbestimmungen gleichzeitig zur Anwendung kommen. So müssen humanitäre Organisationen in jeder Situation abwägen, an welche Bestimmung(en) sie sich zu halten haben: die von Gebieten oder Staaten im Tätigkeitsbereich, die von finanziellen Geberinstitutionen, die des Herkunftslands der Organisation (oder selbst der Herkunftsländer einzelner Mitarbeiter:innen), oder die von extraterritorial angewandten Gesetzen, die auch für Nicht-Staatsangehörige zu Strafverfolgung führen können.

All das führt zu Bedingungen von großer Unsicherheit und Unklarheit. Hinzu kommt, dass humanitäre Organisationen von Banken und Geldgebern verpflichtet werden, komplexe und umfangreiche Anforderungen und Gesetze gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu beachten. Wer ihnen nicht Folge leistet, riskiert die Auflösung des Vertrages oder das Einfrieren von Vermögen.

Zielkonflikte und Geberdiktate

Administrative und finanzielle Kapazitäten von Organisationen werden duch all diese Anforderungen häufig überfordert. Im Ergebnis werden dringliche Projekte behindert oder verzögert. Humanitäre Organisationen – besonders kleinere lokale NRO – geraten in ein Dilemma zwischen ihrem Mandat und Anti-Terror-Bestimmungen. Humanitäre Mittel folgen keinem bedarfsorientierten Ansatz mehr, sondern folgen Regeln, die die (Geber)staaten diktieren. Zunächst werden Projekte so konzipiert, dass jeglicher Kontakt zu verbotenen Organisationen vermieden wird, dann erst wird berücksichtigt, wo Hilfe am dringendsten nötig wäre. Das Hilfswerk Norwegian Refugee Council bedauert eine Tendenz zur ,,Überprogrammierung’’, einer Häufung von Hilfsprojekten in staatlich kontrollierten Gebieten. Humanitäre Organisationen werden so zur Vermeidung von Risiken und zur Selbstzensur gedrängt. Teilweise werden diese Risiken an lokale Akteure übertragen. Auch müssen Organisationen sich stets um die eigene Reputation sorgen, wenn sie als potenzielle Instrumente des Missbrauchs, der Manipulation oder der Fehlleitung von Geldern angesehen werden.

Am Beispiel Gaza schildert Azaiza, welche Hürden die Komplexität der Compliance-Anforderungen für Akteur:innen oder Partner:innen in Gaza auftürmen: Humanitäre Mitarbeiter:innen und Organisationen, lokale Vertragspartner und Händler müssen auf mögliche Zugehörigkeit oder Verbindungen zu terroristischen Organisationen überprüft werden. Dafür haben USAID und NRC Methoden entwickelt, die den Missbrauch von Hilfsgeldern verhindern sollen. Dies gilt nicht nur für Personen, sondern auch für Waren. Ein Beispiel betrifft die Beschaffung von Rollstühlen. Der Geldgeber fordert vor der Kaufgenehmigung, dass der Lieferant abgecheckt, die Lieferwege fortlaufend überprüft und dass die Güter nur über bestimmte (in diesem Fall israelische) Grenzübergänge eingeführt werden – damit die Lieferung nicht von der Hamas für ihre Zwecke missbraucht werden kann. Die Folge sind extreme Verzögerungen und Knappheit von Gerätschaften für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

Eingeschränkter Handlungsspielraum

Schwierigkeiten wie im Gazastreifen beschrieben treten in vielen Gebieten auf, in denen verbotene Organisationen aktiv sind. Ständiger Druck auf humanitäres Handeln schränkt die Handlungsspielräume von Organisationen ein. Eigentlich sollten Anti-Terror-Bestimmungen und humanitäres Handeln ein gemeinsames Ziel haben, nämlich den Schutz der Zivilbevölkerung und gesellschaftlicher Grundwerte. Doch gegenwärtig stehen sie im Widerspruch zueinander. Die Grenzen zwischen politischen, militärischen und humanitären Zwecke werden verwischt.

In Kenia zum Beispiel wurden Anti-Terror-Bestimmungen herangezogen, um zu legitimieren, dass bestimmte regierungskritische NRO verboten werden. Staaten nehmen sich auf diese Weise die Macht zu entscheiden, wer von welcher Organisation Unterstützung erhalten darf. Spenden werden oftmals abhängig von politischen Konflikten und als politische Druckmittel eingesetzt. Damit werden kurz- wie langfristige Perspektiven gefährdet – eine toxische Konstellation. Aktivisten wie Azaiza plädieren deshalb für eine strikte Rückkehr zu den neutralen humanitären Prinzipien, bei denen es um die Wahrung von Menschenrechten geht und politische Ziele möglichst außer Acht bleiben.

Balance finden

Hier die Balance zu finden, bleibt schwierig, aber die Außenpolitik sollte ihre Prioritäten neu ordnen und sich stärker bemühen, die Umsetzung der humanitären Verpflichtungen in den Mittelpunkt zu rücken. Reibungen könnten verringert werden, wenn humanitäre Ausnahmeregelungen in Gesetzen und Bestimmungen vereinheitlicht und generell zivilgesellschaftliche und humanitäre Institutionen einbezogen würden – auf internationaler wie auf nationaler Ebene. Hilfreich wären zudem gemeinsame Lobbyarbeit in diesem Sinne, unabhängige Bewertungen und ein systematisches Berichtswesen zu Auswirkungen und Verstößen, sowie die Verbesserung sicherer Bezahlmethoden für humanitäre Zwecke.

Vordringlich muss wieder eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die Wiederherstellung der internationalen Regeln zum Schutz der Menschenrechte in der humanitären Hilfe geschaffen und von Staaten und der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der Vereinten Nationen, anerkannt werden. Erste Bemühungen sind dazu unternommen worden, so in Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, die verlangen, dass Bestimmungen der Terrorabwehr sich an im internationalen Recht verankerten Schutzmaßnahmen orientieren müssen. Aber das reicht nicht aus. Wenn die Auswirkungen von Anti-Terror-Bestimmungen auf zivile und gewaltfreie Organisationen keinerlei Absichten verfolgen, sollten Regierungen und internationale Institutionen bestehende, mängelbehaftete Regelwerke überprüfen, um unnötigen Schaden und absichtlichen Missbrauch zu vermeiden.

Charlotte Faltas Pollytix Strategic Research GmbH, Berlin
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