Indien hält bei der Kinderarbeit den traurigen Spitzenplatz
Es gibt Fortschritte. Aber Unterdrückung im Kastensystem und verbreitete Rechtlosigkeit von Arbeitern in der informellen Landwirtschaft erschweren eine entscheidende Wende.
Indien hat in den vergangenen Jahren bemerkenswerte soziale und wirtschaftliche Fortschritte erzielt. An Millionen von Kindern aber ist diese Entwicklung vorbeigegangen. Wohl gibt es Gesetze, die Kinder vor Ausbeutung bewahren sollen, und es gibt Systeme der sozialen Sicherung. Doch der Schutz indischer Kinder vor Kinderarbeit bleibt ein beachtliches Problem.
Weltweit weist Indien die höchste Zahl von Kinderarbeitern auf. Insgesamt arbeiten auf dem Subkontinent rund zehn Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren, davon sind 5,6 Millionen Jungen und 4,4 Millionen Mädchen. Das hat die Volkszählung von 2011 ergeben. Die Daten zeigen nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) auch, dass das Ausmaß der Kinderarbeit zwischen 2001 und 2011 um 2,6 Millionen gesunken ist. Die meisten sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Altersgruppe der 5-14-Jährigen umfasst in Indien insgesamt 260 Millionen Kinder.
Weit verbreitet ist die Schuldknechtschaft verbunden mit Kinderarbeit. Es ist ein System von Zwangsarbeit oder teilweiser Zwangsarbeit, in dem die Eltern des Kindes oder das Kind selbst einen mündlichen oder schriftlichen Vertrag mit einem Geldverleiher schliessen. Mit der Kinderarbeit zahlen die Eltern ihre Kredite zurück. Dies betrifft vor allem Millionen von Kinderarbeitern, die zur Kaste der traditionell unterdrückten Dalit gehören.
Der Kinderarbeit in der Landwirtschaft ist nur schwer beizukommen. Die Unterdrückung ist tief verwurzelt. Verantwortlich dafür sind das Kastensystem, geschlechtsbezogene Diskriminierungen, die Religionszugehörigkeit sowie die Tatsache, dass weite Bereiche der Landwirtschaft informell und weitgehend unorganisiert sind. Sexueller Missbrauch und andere Formen der Ausbeutung von Mädchen und Landarbeiterinnen, sowie Kinderehen in marginalisierten Gemeinschaften sind weit verbreitet. Es ist üblich, dass Mädchen oft unbezahlt im Haushalt arbeiten, die Kinder versorgen und auf den Feldern arbeiten. Für viele von ihnen ist es deshalb unmöglich, die Schule zu besuchen.
Zwangsarbeit beim Zuckerrohr
Global March Against Child Labour (Global March) ist ein weltweites Netzwerk von Gewerkschaften, Lehrerverbänden und Organisationen aus der Zivilgesellschaft, die zusammen gegen Kinderarbeit, Sklaverei und Menschenhandel kämpfen. Dabei konzentrieren wir uns auf Kinderarbeit in globalen landwirtschaftlichen Lieferketten aber auch auf die lokale Ebene.
Nehmen wir das Beispiel Zuckerrohr. Neue Untersuchungen von uns zum Thema Gender und Kinderarbeit haben ergeben, dass beim Zuckerrohranbau Kinderarbeiter aus Familien von Wanderarbeitern von Zwangsarbeit betroffen sind. Sie ziehen regelmäßig zur Ernte in die großen Zuckerrohrstaaten wie Gujarat, Karnataka und Maharashtra. Auch in Uttar Pradesh arbeiten Kinder marginalisierter Bauern auf den Feldern, um ihre Familien zu unterstützen. Ein regelmäßiger Schulbesuch bleibt den meisten verwehrt.
Im Bundesstaat Maharashtra allein machen sich rund 200 000 Kinder und ihre Familien in der Erntesaison in die westlichen Landesteile auf, um auf Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Sie wissen selten, was sie erwartet. Sie sind meistens in provisorischen, unwürdigen Unterkünften in der Nähe von Müllhalden untergebracht, wo es ihnen am Nötigsten wie Wasser, Sanitäreinrichtungen, Strom und medizinischer Hilfe mangelt.
In der Erntezeit schneiden und stapeln ganze Familien mit ihren – meist über sechs Jahre alten Kindern – Zuckerrohr. Sie arbeiten durchschnittlich zwischen 18 und 22 Stunden am Tag und bekommen kaum Schlaf, da sie für das Auf- und Abladen des Zuckerrohrs wach bleiben müssen. Zu essen gibt es nur wenig, da die Frauen übermüdet sind und keine Zeit zum Kochen haben. Die Geschlechterrollen sind klar verteilt: Jungen müssen täglich für 12-16 Stunden schwere Arbeiten auf den Feldern verrichten, Mädchen verrichten den Haushalt, passen auf die Kleinkinder auf und gehen auf die Felder, um ihre Mütter zu entlasten, die ebenfalls bei der Ernte helfen.
Ein ausgeklügeltes und ausbeuterisches System von Schulden, Krediten und Vorauszahlungen zwingt die Familien zur Migration und zur Zwangsarbeit. Eine Alternative haben sie nicht, da es in ihren Dörfern und Städten keine Arbeit gibt. Saisonale Wanderarbeit ist der einzige Ausweg, um Schulden zurückzuzahlen und etwas Geld zu sparen.
Die Situation ist bei anderen landwirtschaftlichen Produkten wie Baumwolle, Tabak, Reis, Obst und Gemüse vergleichbar. 2018 hat Global March die Gewürzwirtschaft untersucht und aufgedeckt, dass dort sogar Fünfjährige in der Sommerhitze mit ihren Müttern für mehr als acht Stunden am Tag auf Chili-Farmen arbeiten. Oft erleiden sie einen Sonnenstich und haben wegen des Staubes der Schoten Atemprobleme.
Indiens Right to Education Act, ein Gesetz, das Bildung als Grundrecht für jedes Kind zwischen 6 und 14 Jahren anerkennt, scheint für diese fünfjährigen Kinderarbeiter nicht zu gelten. Sowieso ist Kinderarbeit in der Landwirtschaft weitgehend ungeregelt. Der nationale Child Labour Act lässt viele Aktivitäten und Subsektoren unberührt. So verbietet das Gesetz zwar Kinderarbeit unter 14 Jahren, erlaubt aber zugleich, dass unter 14-Jährige in Familienbetrieben arbeiten. Viele sehen dies als Schlupfloch, das das allgemeine Verbot von Kinderarbeit untergräbt.
Kinderfreundliche Dörfer
Das Instrument der Bildung zielt darauf ab, die Geißel der Kinderarbeit zu verhindern, doch trotz des Bildungsgesetzes ist der Einfluss in ländlichen Gebieten begrenzt. Die Waffe ist stumpf, wenn es nicht genug Schulen, Klassenzimmer und Lehrer gibt, Unterrichtsmaterialien fehlen und Kinder nicht auf getrennte Toiletten gehen können. Viele Kinder gehen nicht zur Schule.
Global March wirbt für kinderfreundliche Dorfprojekte, in denen Kinder bis zu 14 Jahren die Schule besuchen und Kinderarbeit verboten ist. Kinder und Erwachsene werden an Entscheidungsprozessen beteiligt, es gibt Kinderparlamente, Jugend- und Frauengruppen. Was dort beschlossen wird, fließt in die Diskussionen mit Behörden und Regierungen, dem Privatsektor, Gewerkschaften und Bauernorganisationen ein: Ziel ist es, Besserungen in der Bildung und der Kinderarbeit sowie Mindestlöhne in der Landwirtschaft herbeizuführen. Unsere Partnerorganisationen implementieren dieses Modell in sechs indischen Bundesstaaten. Damit ist es gelungen, hunderte von Kindern in ländlichen Gebieten zu schützen und zum Unterricht zu schicken.
Die Verantwortung der Unternehmen
Um Kinderarbeit aus den Wertschöpfungsketten zu verbannen, müssen Unternehmen lokale Lieferketten unter die Lupe nehmen. In Indien tätige Firmen sollten sorgfältig prüfen, ob es entlang ihrer Lieferanten und Zulieferer Hinweise auf Kinderarbeit gibt. Wenn Unternehmen dies analysieren, müssen sie geschlechtsspezifische Bedingungen, das Kastensystem und die Menschenrechte berücksichtigen. Sie sollten insgesamt eine klare, nicht-verhandelbare Politik gegen Kinderarbeit umsetzen.
Ein großes Problem ist die massive Informalität, mit der globale wie lokale Interessenvertreter und Entscheidungsträger umgehen müssen, und die in Indien inzwischen zur Norm geworden ist. Denn die Mehrzahl der Tagelöhner, Saison- und Vertragsarbeiter, von denen viele zu den unteren Kasten gehören, arbeiten ohne Verträge und sind vollkommen rechtlos und ohne Schutz.
Deshalb sollten sich Unternehmen für nachhaltige Politik in den Erzeugerländern sowie für lokal oder national bessere Standards für menschenwürdige Arbeit in der Landwirtschaft einsetzen. Dies beinhaltet auch: Verhaltenskodizes für Unternehmen, bis hin zu den Produzenten; die Überwachung durch Dritte; sowie strenge Maßnahmen und Beschwerdemechanismen, um die Rechte von Kindern transparent, rasch und effizient zu schützen. Dort wo Menschenrechte nur wenig gelten, sollten Unternehmen mit Blick auf Kinderarbeit vorsichtiger agieren.
Die Rolle der Verbraucher
Da immer mehr Konsumenten nachhaltige Waren verlangen, sind Unternehmen zunehmend motiviert, aktiver gegen Menschenrechtsverletzungen und Kinderarbeit vorzugehen. Besonders in den USA und der Europäischen Union treffen viele Verbraucher Kaufentscheidungen sehr bewusst. Sie sind auch bereit, höhere Preise für nachhaltige Produkte frei von Kinderarbeit zu zahlen.
So ein “ethisches Kaufverhalten” allein kann aber nicht die Lösung des Problems sein. Denn nur eine begrenzte Gruppe von Verbrauchern kann es sich leisten, mehr für nachhaltig produzierte Waren zu bezahlen. Die Mehrheit will weiter billigere Produkte kaufen.
Die Komplexität von Lieferketten kann dabei kein Argument dafür sein, Kinderarbeit zu rechtfertigen. Auch dürfen unterschiedliche Verbraucherbedürfnisse nicht die Menschenrechte von Millionen Mädchen und Jungen gefährden. Wenn Unternehmen landwirtschaftliche Produkte wie Zuckerrohr beziehen, müssen die Rechte der am meisten marginalisierten Arbeiter und ihrer Kinder umfassend geschützt werden. Für alle Arbeiter, ungeachtet ihres Geschlechts oder ihrer Kaste, sollten Mindestlöhne, menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen und gesetzlich geregelte Arbeitszeiten gelten.
Es ist zu befürchten, dass die Armut unter Millionen von Saisonarbeitern und ihren Kindern wegen der Covid-19 Krise weiter zunehmen wird. Wir brauchen deshalb dringend einen umfassenden Dialog darüber, wie sich ihre Lage entlang der landwirtschaftlichen Lieferkette verbessern lässt. Kinder haben ein Recht darauf, die Schule zu besuchen, und sollten nicht gezwungen werden, auf Bauernhöfen zu schuften.