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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 12/2020
  • Sandra Weiss

Mehr Umweltdemokratie für Lateinamerika?

Der Vertrag von Escazú tritt im Februar in Kraft. Lateinamerikas Umweltschützer haben lange für das erste regionale Umweltabkommen gekämpft und sehen es als Meilenstein. Aber die Elite mauert.

Gegen den Bau des Staudamms von Belo Monte im Amazonasgebiet Brasiliens gab es viel Widerstand und immer wieder juristisch verfügte Baustopps. Letztlich setzte die Regierung das Vorhaben durch. © Sandra Weiss

Mit 38 Jahren gehört die mexikanische Senatorin Veronica Delgadillo zur jüngeren Politikergeneration ihres Landes. Aber einen Erfolg kann sie sich bereits ans Revers heften: Ihr Lobbying für die Verabschiedung des Escazú-Vertrags zeitigte Früchte. Am 5. November ratifizierte der Senat den Vertrag, der voll ausgeschrieben „Regionalvertrag über Zugang zu Justiz, Information und öffentlicher Teilhabe in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik“ heißt. Weil sich das keiner merken kann, trägt er den Beinamen des costaricanischen Städtchens, in dem er unterzeichnet wurde. „Das ist ein großer Sieg für den Umweltschutz“, sagte Delgadillo nach der Sitzung. Es war die elfte Ratifizierung. Nun tritt das erste regionale Umweltabkommen für Lateinamerika innerhalb von 90 Tagen in Kraft.

In Mexiko ging der Vertrag einstimmig durch den Senat, aber nicht überall lief es so glatt. 24 der 33 Staaten der Region haben ihn unterzeichnet. Neben Mexiko ratifizierten ihn bereits die Parlamente von Argentinien, Antigua und Barbuda, Bolivien, Ecuador, Guyana, Nicaragua, Panama, San Vicente und die Grenadinen, Saint Kitts und Nevis und Uruguay. Wichtige Länder fehlen wie die Amazonas-Anrainer Brasilien, Kolumbien, Venezuela, Peru oder auch der Umwelt-Brennpunkt Honduras, wo 2016 die Umweltschützerin und Goldman-Preisträgerin Berta Cáceres wegen ihres Widerstandes gegen einen Staudamm ermordet worden war.

Kolumbien und Brasilien haben zwar unterzeichnet, nach den jeweiligen Regierungswechseln stoppten die neuen, rechten Staatschefs den Ratfizierungsprozess aber. Chile war einer der wichtigsten Impulsoren des Vertrags, aber dann wurde der konservative Unternehmer Sebastián Piñera gewählt, der nicht einmal seine Unterschrift unter das Abkommen setzte.

Unter Brasiliens rechtem Präsidenten Jair Bolsonaro hat die Brandrodung in Amazonien deutlich zugenommen. So wird Land urbar gemacht für Rinderzucht und Soja. © Sandra Weiss

Denn der Vertrag ist mächtigen Lobbies ein Dorn im Auge, weil er mehr staatliche Transparenzpflichten und mehr Teilhabe der Bevölkerung in der Umweltpolitik vorsieht. Umweltschützern billigt er wegen ihrer Verteidigung des Gemeinwohls einen besonderen Rechtsstatus zu. Das ist ein Politikum auf dem ressourcenreichen Subkontinent, wo so viele Umweltschützer ermordet werden wie sonst in keiner anderen Region.

Immer tiefer und immer skrupelloser dringen Monokulturen, Ölfirmen, Bodenspekulanten und Bergbauunternehmen in die letzten Naturparadiese des Kontinents vor, im Windschatten von Gesetzeslücken, Gewalt und Korruption. Bauern, Indigene und Umweltaktivisten stellen sich den Zerstörern mutig aber schutzlos in den Weg. Von den 212 im Jahr 2019 weltweit ermordeten Umweltschützern, stammten der Organisation Global Witness zufolge 148 aus Lateinamerika. Spitzenreiter der Gewalt war Kolumbien mit 64 Morden.

Einziges Abkommen dieser Tragweite

Escazú ist bislang das einzige regionale Umweltabkommen dieser Tragweite und könnte weltweit Schule machen. Artikel neun des Vertrags stellt Umweltschützer fortan unter besonderen Schutz. „Wenn ein Umweltschützer eingeschüchert wird, war das für die Ermittler bislang ein Delikt unter vielen“, erläutert die Ecuadorianerin Naty Green, Sekretärin des Internationalen Umweltgerichtes für die Rechte der Natur. „Mit dem Vertrag von Escazú genießen diese Delikte eine höhere Priorität und sind als schwer einzustufen. Sie können nicht so einfach zu den Akten gelegt werden.“ Das ist eine Neuheit.

Umweltschützer demonstrieren gegen den Raubbau im brasilianischen Porto Velho. Ihnen stehen mächtige Geschäftsinteressen gegenüber, viele von ihnen riskieren ihr Leben. © Sandra Weiss

Einzig in Ländern wie Mexiko und Kolumbien gab es bisher schon für Journalisten und Menschenrechtler einen ähnlichen Status. Sie haben die Möglichkeit, nach Morddrohungen staatlichen Schutz einzufordern. Allerdings funktionieren in beiden Ländern die Programme unzureichend, weil der Staat nur wenig Geld und Personal zur Verfügung stellt. Oft gibt es handfeste Interessenskonflikte. Denn in der Hälfte der Fälle – so hat es die UN-Menschenrechtsorganisation ermittelt – steckten Staatsdiener oder Politiker hinter den Drohungen.

Wichtige Neuerung: Beweisumkehr

„Diese Schutzmechanismen sind außerdem nur reaktiv“, ergänzt Andrea Cerami vom mexikanischen Umweltrechtszentrum (Cemda). „Escazú verpflichtet den Staat dagegen zu einer Präventionspolitik, also dazu, es gar nicht erst zu Drohungen kommen zu lassen.“ Weitere juristische Neuerungen sind aus ihrer Sicht die Beweisumkehr – also nicht mehr Betroffene müssen einen Umweltschaden nachweisen, sondern am Pranger stehende Unternehmen müssen darlegen, dass sie nicht Verursacher eines Umweltproblems sind. Mexikos Unterhändler brachten außerdem Anspruch auf Entschädigung für Umweltopfer ein – eine Initiative, die sich am heimischen Gesetz für die Opfer des Drogenkriegs orientiert.

Bergbau in Peru
Beim Bergbau in Peru haben Kleinbauern das Nachsehen. Ihnen gräbt der Tagebau buchstäblich das Wasser ab und verpestet die Luft. © Sandra Weiss

Auch die Mitwirkungsrechte der lokalen Bevölkerung werden gestärkt und ausgeweitet. Schreibt beispielsweise Art. 169 der ILO-Konvention die vorherige Befragung indigener Völker zu Großprojekten auf ihrem Territorium vor, so weitet Escazú dieses Recht auf alle Betroffenen aus. Sie sollen nicht nur einmal in unübersichtlichen Versammlungen oder manipulierten Plebisziten befragt und dann vergessen werden, sondern permanent Einsicht verlangen können in die Planungen. Damit wird auch die gängige Praxis verhindert, dass die Behörden ein Umweltgutachten absegnen, und die Firmen dann im Nachhinein oft gravierende „technische Änderungen“ vornehmen. Überdies werden Staaten verpflichtet, Daten und Studien zeitnah (weniger als 30 Tagen) und vollständig offenzulegen. Dies soll die Verzögerungs- und Verschleierungstaktik von Behörden aushebeln.

Senatorin Delgadillo glaubt, dass der Vertrag den Druck auf die Regierungen erhöht: „Zwar haben viele Länder schon Umweltgesetze, aber es mangelt an der Umsetzung, und je mehr Instrumente wir haben, umso besser“, sagt sie. Rubio Coudo von der peruanischen NGO Aidesep sieht eine wichtige Errungenschaft auch darin, dass die Amazonasvölker Anspruch auf eine Rechtssprechung bekommen, die ihre Sprache und Kultur berücksichtigt, also beispielsweise das Anrecht auf Übersetzer und anthropologische Gutachten vor Gericht. Bislang war es so, dass sich Politiker, Journalisten und Richter darüber mockierten, wenn Indigene sich wie im peruanischen Cajamarca gegen die Erweiterung einer Goldmine wehrten, weil dadurch ein „heiliger Berg“ zerstört worden wäre.

Die Eliten mauern

Die Gegner des Abkommens finden sich im Agrar- und Rohstoffsektor, im Militär und in konservativen Parteien. Sie führen vor allem drei Argumente ins Feld. Der Vertrag sei eine Vorstufe zur Internationalisierung Amazoniens, man verliere Souveränität. Gemeint sind Kontrolle und Verfügungsgewalt über Bodenschätze und Ressourcen wie Wasser und Holz. Zum zweiten werde die wirtschaftliche Entwicklung behindert. Prozesse würden durch entstehende Hürden für die Ausbeutung von Bodenschätzen verlangsamt, etwa Genehmigungsverfahren oder die Beteiligung der Bevölkerung. Und drittens sei das alles bereits in heimischen Gesetzen geregelt – der Vertrag damit also überflüssig.

Das waren auch die Kernargumente des offenen Briefes, den der peruanische Unternehmerverband Confiep im Juli veröffentlichte oder die kolumbianischen Viehzüchter und Bananenproduzenten anführten, um den Ratifizierungsprozess zu stoppen. Ähnlich argumentierten die peruanischen und chilenischen Streitkräfte. Ein etwas kurioseres Argument kommt aus fundamentalistischen Kirchenkreisen, katholischer und evangelikaler Ausrichtung. Der Vertrag predige Gender-Ideologie und fördere durch die Hintertür Abtreibung und Euthanasie, sagte beispielsweise der Erzbischof von Asunción, Edmundo Valenzuela. Zwar ohne jeglichen Beweis – aber der Einwand reichte aus, dass Paraguays Regierung den Ratifizierungsprozess stoppte.

Furcht vor Umweltdemokratie

Diese Argumente seien widersprüchlich und grundlos, so Gabriela Burdiles von der chilenischen NGO Fima. „In dem Vertrag wird klar gesagt, dass jeder Staat die Souveränität über sein Territorium behält, und dass alles mit nationalen Gesetzen geregelt werden soll. Es geht nicht um Rohstoffe, sondern um Teilhabe an Entscheidungen.“ Letztlich, glaubt sie, fürchten Regierungen und Investoren die „Umweltdemokratie”. Gerade in Folge der Rezession durch die Corona-Pandemie seien viele Regierungen bestrebt, Umweltregulierungen auszuhebeln und Genehmigungsprozesse zu beschleunigen. „Escazú ist für sie ein Entwicklungshindernis.“

Kritik kommt aber auch von ganz links. „Der Vertrag ist voller Versprechungen, die Regierung würden künftig das und das garantieren, ermöglichen oder überwachen“, konstatiert der Umweltschützer Gustavo Castro von der mexikanischen Basisbewegung Otros Mundos. “Jegliche Verbindlichkeit wird (aber) relativiert durch Worte wie 'auf der Grundlage interner Gesetze', 'gemäß nationaler Prioritäten' usw“, kritisiert Castro. „Das überlässt letztlich die Umsetzung dem Gutdünken der jeweilig amtierenden Regierung.“ Auch gäbe es keine regionale Instanz, moniert der Umweltschützer, die über Konflikte entscheide. „Letztlich ist das ein weiterer Vertrag aus der langen Reihe der Abkommen für eine nachhaltige Entwicklung, welche im derzeitigen kapitalistischen System aber unmöglich ist“, folgert der Freund der ermordeten Cáceres.

Er trifft damit durchaus einen wunden Punkt. Wie man sich aus der Verantwortung stiehlt, wissen Lateinamerikas Regierungen und Eliten sehr gut. Mexikos linke Regierung klassifizierte gerade beispielsweise eine Machbarkeitsstudie für ein großes Verkehrsinfrastrukturprojekt durch die Halbinsel Yucatán als „sicherheitsrelevant und damit geheim“. In Kolumbien zog die rechte Regierung bis vors Oberste Gericht gegen lokale Volksbefragungen, in denen sich die Bevölkerung gegen Bergbau in ihren Gemeinden aussprach. Die Verfassungsrichter gaben der Regierung recht: Bodenschätze gehörten der Nation, lokale Plebiszite könnten darüber nicht befinden.

Für die Umweltrechtlerin Cerami ist Escazú daher ein Schritt in die richtige Richtung, aber lange kein Anlass, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. „Nun werden wir dem Vertrag Leben einhauchen“, verkündet die Mexikanerin.

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