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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 04/2021
  • Julien Grollier

Welthandelsorganisation: Was kann die neue Chefin anders machen?

An Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala richten sich hohe Erwartungen. Aber ihr Aktionsradius ist begrenzt, denn in der Organisation haben die Mitgliedsländer das Sagen.

Die erste Frau an der Spitze der Welthandelsorganisation: die Nigerianierin Ngozi Okonjo-Iweala bei ihrem Amtsantritt in März in Genf. © WTO / BRYAN LEHMANN

Die Welthandelsorganisation (WTO) hat mit der Ernennung der ersten Frau und der ersten Afrikanerin zu ihrer Generaldirektorin doppelt Geschichte geschrieben. Dr. Ngozi Okonjo-Iweala tritt ihr Amt in einer Zeit vieler offener Streitfragen an, vom Umgang mit den Folgen der Covid-19-Pandemie bis zur Wiederbelebung der WTO als ein wesentlicher Stützpfeiler der weltweiten Handelsregelungen. Es sind hohe Erwartungen, aber Okonjo-Iwealas Möglichkeiten sind beschränkt, denn in der WTO haben die Mitgliedsländer das Sagen.

In ihrer Erklärung nach ihrer Ernennung bekräftigte Okonjo-Iweala ihre Vision, die WTO „wieder aufzubauen und umzugestalten“, damit sie wieder eine wesentliche Regulierungsinstanz für die Weltwirtschaft  sein kann. Die WTO soll für ein starkes, transparentes und faires multilaterales Handelssystem sorgen, das für alle Wachstum  und nachhaltige Entwicklung absichert. Okonjo-Iweala war Mitglied des Uno-Gremiums für die Entwicklungsziele nach 2015, das als Ergebnis die UN-Ziele der Agenda 2030 (SDGs) formulierte. Sie erinnerte daran, dass der Gründungsvertrag der WTO Wert darauf legt, den Lebensstandard aller zu erhöhen, Vollbeschäftigung sicherzustellen und nachhaltige Entwicklung zu fördern.

„Die Präambel sagt schon alles! Bei der WTO geht es um Menschen! Es geht um Arbeit in Würde! Lasst uns diesen übergreifenden Zweck in den Mittelpunkt stellen und Antrieb sein für alles, was wir für das multilaterale Handelssystem erreichen wollen“, sagte sie.

Ernennung

Dem Amtsantritt von Dr. Ngozi Okonjo-Iweala am 1. März 2021 als siebte Generaldirektorin der WTO waren Monate angespannter Unsicherheit vorangegangen. In Washington weigerte sich die Regierung von Donald Trump, dem internationalen Konsens zugunsten der Kandidatin aus Nigeria zu folgen. Die Entscheidung fiel schließlich am 15. Februar, nachdem der neue US-Präsident Joe Biden seine "feste Unterstützung" für die erste Frau und Afrikanerin in dieser Rolle erklärte. Die Ökonomin war zweimal Finanzministerin ihres Heimatlandes und stieg in 25 Jahren bei der Weltbank zur Generalsekretärin auf. Ihre Amtszeit bei der WTO endet am 31. August 2025.

Warum „wieder aufbauen und umgestalten“?

Die WTO nahm am 1. Januar 1995 als Nachfolgerin des provisorischen Handelsabkommens GATT ihre Arbeit auf. Sie sollte für ungehinderte und planbare Handelsströme sorgen und als Forum dienen für Verhandlungen über Handelsregeln, die Überwachung der daraus folgenden Handelsabkommen, die Überprüfung der Handelspolitik von Einzelstaaten, und sie sollte die Handelskapazitäten sich entwickelnder Staaten stärken und Handelsstreitigkeiten ausräumen. 25 Jahre später hat sich das multilaterale Handelssystem auf vielseitige Weise bewährt. Es hat Staaten ein klares Regelwerk für den Austausch von Gütern und Dienstleistungen an die Hand gegeben, bis vor kurzem dazu auch die Mittel, die Einhaltung dieser Regeln durchzusetzen.

Bei den Verhandlungen über eine Aktualisierung des 25 Jahre alten Regelwerks für den Welthandel gab es jedoch seit zwei Jahrzehnten kaum Fortschritte, dafür aber viel Streit unter den Mitgliedstaaten. Seit langem herrschen Meinungsverschiedenheiten über landwirtschaftliche Güter und andere „traditionelle Streitfragen“, über die seit dem Beginn der Doha-Runde 2001 verhandelt wird. Dazu klafft eine immer tiefere Kluft zwischen den Mitgliedern, wie man mit neueren Streitpunkten wie dem Online-Handel umgeht und wie man die WTO und ihre Streitschlichtungsinstanz reformieren sollte.

Viele Faktoren sind im Spiel, wenn man die Schwierigkeiten bei den WTO-Handelsgesprächen erklären soll. Die Welt hat sich in nur wenigen Jahren deutlich verändert: Tiefe wirtschaftliche und geopolitische Verschiebungen beeinflussen in den WTO-Ländern die Produktion, den Handel und die Machtverhältnisse zwischen ihnen. Die Länge und Komplexität globaler Wertschöpfungsketten hat sich vervielfacht, im digitalen Zeitalter ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Gütern und Dienstleistungen unscharf geworden, neue Geschäftsmodelle sind entstanden, in denen Informationen und Daten die wesentliche Rolle spielen.

Ein Lebensmittelmarkt in Peking. Im Zuge ihres Handelskonflikts mit China haben die USA auch die Welthandelsorganisation blockiert. © FAO / Justin Jin

Rund um die Welt hat sich die wirtschaftliche Bedeutung hin zu den Schwellenländern verschoben, während viele kleinere Entwicklungs- und am wenigsten entwickelte Länder weiter zurückgefallen sind. In der jüngeren Vergangenheit, besonders nach der Finanzkrise von 2008 und ihren Folgen, haben auch populistische Vorbehalte gegen den Freihandel zugenommen und den Boden bereitet für Protektionismus und Handelskriege.

Daher die Notwendigkeit, „wieder aufzubauen und umzugestalten“, wie es Okonjo-Iweala nannte. Internationale Regeln und nationale Politik, die Handel und Märkte bestimmen, müssen angepasst, geschärft oder erst geschaffen werden, um mit Veränderungen Schritt zu halten, die wir in solch drastischer Form seit der Industriellen Revolution nicht erlebt haben.

Das sind viele Herausforderungen für die neue WTO-Generaldirektorin – aber die größte ist die Covid-19-Pandemie, die mittlerweile mehr als 200 Staaten erfasst hat. Sie stellt das öffentliche Gesundheitswesen, die Beschäftigung und den Handel global auf die Probe. Einige Staaten haben Handelsbeschränkungen angeordnet, um ihre Volkswirtschaften zu schützen. Bei der Erholung nach der Pandemie wird es dann auf kluge Handels- und Investitionspolitik ankommen.

Ein Frachter im spanischen Hafen Vigo. Der Welthandel ist in der Corona-Krise zurückgegangen. © FAO / Miguel Riopa

Hohe Erwartungen?

Okonjo-Iwealas bisherige Karriere war eindrucksvoll, doch man sollte realistische Erwartungen haben, wie viel die Generaldirektorin bei der Neuformulierung der globalen Handelsregeln erreichen kann. Die WTO wird allein von ihren Mitgliedern geführt, es liegt nur bei den Mitgliedsstaaten, Dinge in Gang zu setzen, die Agenda und die Prioritäten zu bestimmen und am Ende über Reformen und neue Regeln zu entscheiden. Die Generaldirektorin an der Spitze des WTO-Generalsekretariats hat kein formales Zugriffsrecht auf die Tagesordnung und Themen oder den Inhalt von Verhandlungen. Ihr (oder ihm) wurde die Rolle eines „ehrlichen Maklers“ anvertraut, um den Mitgliedern zu helfen, falls Diskussionen festgefahren sind. Die Position soll die härtesten Konfliktpunkte identifizieren, die Suche nach machbaren Lösungen unterstützen, und einen inklusiven, transparenten und demokratischen Prozess sicherstellen.

Diese „Soft Power“ in den Händen der Generaldirektorin kann dennoch Wichtiges bewirken. Sie war etwa entscheidend im Vorfeld der Verabschiedung der ersten multilateralen Übereinkunft in der Geschichte der WTO, dem Trade Facilitation Agreement (TFA) von 2013, auch Bali-Paket genannt. Gerade im Kontext sich wandelnder Machtkonstellationen und zunehmender Rivalitäten zwischen den wichtigen Mächten muss die Generalsekretärin das Vertrauen aller 164 Mitgliedsregierungen als unparteiische Schlichterin mit offenem Ohr für alle Beteiligten haben. Dies ist Okonjo-Iweala in ihrer bisherigen Laufbahn gelungen. Mehrfach hat sie Einigungen herbeigeführt, von denen alle Seiten profitiert haben.

Okonjo-Iweala hat für die ersten hundert Tage ihrer Amtszeit die folgenden Prioritäten genannt:

Problemfeld Covid-19

Die Herausforderungen für die WTO haben sich durch die Covid-19-Pandemie noch potenziert. Viele Länder sind wirtschaftlich um Jahre zurückgeworfen. Um eine Erholung zu ermöglichen, muss die globale Gemeinschaft ihre Zusammenarbeit intensivieren, damit alle Länder gerechten und bezahlbaren Zugang zu Impfstoffen, Therapien und Diagnosemöglichkeiten haben. „Die WTO kann und muss dies entschlossener beobachten und ihre Mitglieder ermutigen, Exportrestriktionen und -verbote zu verringern oder zu beseitigen, die die Lieferketten für medizinische Güter und Geräte behindern“, sagte Okonjo-Iweala. Ein heikles Thema.

Vor ihrer Ernennung war sie gefragt worden, wie dies gelingen kann. Sie sagte, sie hoffe von ihrer Erfahrung als Vorsitzende der GAVI-Impfallianz zu profitieren, wenn sie mit anderen Gruppen und Organisationen zusammenarbeiten wird. Sie plädierte für die Beseitigung von Barrieren beim Zugang zu lebensrettenden Medikamenten und Impfstoffen bei gleichzeitiger Beachtung geistiger Eigentumsrechte. Indien und Südafrika haben mittlerweile vorgeschlagen – und erhielten dafür Unterstützung von Dutzenden Entwicklungsländern –, dass der Patentschutz für Impfstoffe vorübergehend aufgehoben wird, damit diese auch in ärmeren Ländern in großen Mengen produziert werden können. Wichtige Industrieländer mit bedeutenden Pharma-Unternehmen wie Großbritannien, die Schweiz, die EU und die USA, haben sich dem aber bislang widersetzt.

Reform der Schiedsinstitution

Eine wichtige Priorität ist die Rückkehr zu einer funktionierenden Berufungsinstanz für Streitfälle im Welthandel. Diese ist seit 2019 lahmgelegt, was die Fähigkeit der WTO untergräbt, Handelsdispute aufzulösen. Ursache für die Blockade war die Weigerung der US-Regierung von Donald Trump, vakante Richterstellen zu besetzen. Die USA warfen der WTO vor, dass Entscheidungen zu lange dauerten, dass das Gremium seine Befugnisse überschritten habe, aber auch, dass es zu duldsam mit mutmaßlichen Verstößen der Volksrepublik China und anderer Staaten gegen die Begrenzung von Staatshilfen für Unternehmen sei.

Okonjo-Iweala hatte noch als Kandidatin auf den Chefposten gesagt, wie dringend ein Ende dieser Blockade und eine Klärung der Streitfragen sei. Sie beabsichtige, auf den bisherigen Vorschlägen etwa aus dem Walker-Prozess aufzubauen und verwies auf bereits erzielte Zwischenschritte wie das Interimsabkommen MPIA (Multi-Party Interim Appeal arrangement), das von 19 Staaten u. a. aus der EU vorgeschlagen worden war und von der EU schon als Alternative zum WTO-Mechanismus genutzt wird. Ihr ist durchaus bewusst, dass die ärmsten Länder besondere Anforderungen für die Streitschlichtung stellen: „Wir brauchen ein System, das das Vertrauen aller gewinnt, auch der kleinen Entwicklungs- und am wenigsten entwickelten Länder, für die es bisher schwierig zu nutzen war“, sagte sie den Mitgliedern in ihrer Antrittsrede.

Aktualisierung des WTO-Regelwerks

Das Regelwerk der WTO hinkt in vielen Punkten anderen, moderneren Handelsabkommen hinterher. Diese berücksichtigen bereits wirtschaftliche Innovationen wie den Online-Handel, der durch die Covid-19-Pandemie enorm an Bedeutung zugenommen hat. Darüber und über einige weitere Fragen wird von den Staaten auf vielen Ebenen diskutiert. Für Okonjo-Iweala hat dies dem internationalen Handelssystem neuen Schub verliehen. Da sie auch Vizevorsitzende der Globalen Kommission für Wirtschaft und Klimafragen ist, finden letztere ihr besonderes Interesse: „Wir sollten auch sicherstellen, dass die WTO die grüne und Kreislaufwirtschaft nach besten Kräften fördert, und dass sie sich mit mehr Aufmerksamkeit den Zusammenhängen von Handel und Klimawandel widmet.“

Viele Entwicklungsländer beteiligen sich bislang nicht an dieser Debatte. Sie begründen dies damit, dass sie sich nicht von neuen Regeln die Hände binden lassen wollen, bevor sie selbst auf dem Gebiet eigene Politik entwickeln konnten. Zu diesem Punkt betonte die neue Generalsekretärin: „Um es einigen Entwicklungs- und am wenigsten entwickelten Ländern zu ermöglichen, sich an den Verhandlungen über Online-Handel zu beteiligen, müssen wir Partnerschaften mit Regierungen und anderen Organisationen bilden, um die digitale Kluft zu überbrücken.“

Blockade der multilateralen Gespräche auflösen

Der multilaterale Verhandlungsprozess der WTO mag ins Stocken geraten sein, aber er ist nie ganz aufgegeben worden. Das sollte man auch vermeiden. Mehrere Verhandlungsthemen sind für Entwicklungs- und am wenigsten entwickelte Länder von entscheidender Bedeutung - darunter die Fischereisubventionen oder die Landwirtschaft. „Die Arbeit der WTO auf neuen oder innovativen Gebieten bedeutet nicht, dass traditionelle Themen wie die Landwirtschaft vergessen werden“, versicherte Okonjo-Iweala.

Der Stillstand des Verhandlungsprozesses verweist auch auf ein heißes Eisen, das bisher niemand anpacken wollte: Was genau definiert den Status als Entwicklungsland? Ein Land, das ihn beanspruchen kann, erhält eine gewisse Flexibilität, wie es die vereinbarten Regeln umsetzt und unterliegt weniger strengen Einschränkungen als entwickelte Länder. Das wird das Prinzip der „Sonder- und Vorzugsbehandlung“ (Special and Differential Treatment, SDT) genannt. Ob ein Land als Entwicklungsland gelten soll, bestimmen die Mitgliedsstaaten selbst. Doch da inzwischen große Schwellenländer offen in Konkurrenz zu den entwickelten Staaten stehen, haben letztere die Legitimität der Sonderbehandlung infrage gestellt.

Okonjo-Iweala hat in dieser Frage als Lösung vorgeschlagen, dass manche Schwellenländer sich dazu verpflichten, zukünftig freiwillig auf einige der Sonderrechte zu verzichten.

Arbeiter entladen Zwiebeln. Afrikanische Exporte in die EU bleiben aufgrund vieler Auflagen unter ihrem Potenzial. © AU

Zu den immer noch offenen „traditionellen Themen“ der WTO-Verhandlungen zählt die Landwirtschaft, die für viele Entwicklungs- und am wenigsten entwickelte Länder besonders wichtig ist. „Es ist für sie entscheidend, den Marktzugang für Exportprodukte zu verbessern. Die wachsenden Zuschüsse, die Mitgliedsstaaten im eigenen Land gewähren, müssen diskutiert werden, damit auch kleine Landwirte eine Chance bekommen mitzuhalten“, sagte die neue Generaldirektorin.

Sowohl der Handel mit landwirtschaftlichen Gütern als auch die Ernährungssicherheit haben unter Covid-19 gelitten, da es ab März 2020 zu Handelshemmnissen durch Exportbeschränkungen kam. Dies hatte Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit in vielen Entwicklungsländern. Besonders in Staaten, die von Nahrungsmittelimporten abhängen,  wuchs die Besorgnis über den erschwerten Zugang armer Verbraucher zu Lebensmitteln. Ein kürzlich veröffentlichtes Papier von CUTS, das sich auf mehrere Quellen aus der WTO, der Weltbank und dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) stützt, kommt zu dem Schluss, dass 32 Länder während der Covid-19-Pandemie Exportbeschränkungen für Lebensmittel verhängten.

Eine Gruppe von fast 80 WTO-Mitgliedern gab im Januar eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie zusagten, den vom Welternährungsprogramm (WFP) für humanitäre Hilfe gekauften Lebensmitteln keine Beschränkungen aufzuerlegen. Obwohl dieser Text nur für Einkäufe des WFP gilt, ist er für die kommenden Krisen bereits ein positiver Schritt in Richtung Ernährungssicherheit. Vor der diesjährigen Ministerkonferenz wird es für die WTO und ihre neue Generaldirektorin zu einem der ersten Tests werden, ob sie alle Mitgliedstaaten für diese Initiative gewinnen kann.

Julien Grollier CUTS International, Geneva

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