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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 04/2024
  • Prof. Dr. Christine Wieck, Bettina Rudloff, Prof. Dr. Achim Spiller
Schwerpunkt

Globale Lieferketten: Wie weit sollten unternehmerische Sorgfaltspflichten gehen?

Zum Beispiel für das Recht auf Nahrung? Was Experten dem Bundeslandwirtschaftsministerium für die Umsetzung der EU-Richtlinie zu dem elementare Menschenrecht raten.

Palm oil fruit cut open: red on the outside, white on the inside
Der Industrie für Palmöl werden immer wieder Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. © Tafilah Yusof via Pixabay

Wie viel Verantwortung kann man Unternehmen im Agrar- und Ernährungssektor für Menschen- und Arbeitsrechte sowie den Umweltschutz entlang ihrer Lieferketten zusprechen? Das kürzlich eingeführte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hat diese Frage zunächst für Deutschland beantwortet: Unternehmen einer bestimmten Größe müssen ein Risikomanagementsystem etablieren, das neben dem eigenen Geschäftsbereich auch die unmittelbaren Lieferanten auf den Vorstufen der Wertschöpfungskette abdeckt, sowie mittelbare Lieferanten, wenn Kenntnisse über mögliche Verstöße vorliegen. Gegenstand der Sorgfaltspflichten ist die Einhaltung zentraler internationaler Übereinkommen wie der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (z.B. Verbot von Kinder- oder Zwangsarbeit), bestimmter substanzbezogener Übereinkommen im Umweltbereich (z.B. mit Bezug auf die Handhabung von Quecksilber oder Abfall) und des Sozial- und Zivilpaktes der Vereinten Nationen. Auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU sowie in G7-Staaten zeichnet sich durch die Einführung unterschiedlicher Regelungen eine ähnliche Antwort ab. Die unternehmerische Sorgfaltspflicht wird zunehmend insbesondere auf die Vorstufen der Lieferketten ausgeweitet.

Auf EU-Ebene wurde eine entsprechende Regelung sehr kontrovers diskutiert. Zuvor hatte man sich auf eine Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten noch verhältnismäßig unkompliziert geeinigt. Diese verpflichtet Unternehmen nachzuweisen, dass in ihren Lieferketten für Kakao, Kaffee, Palmöl, Rind, Soja, Kautschuk und Holz keine Verbindung zu entwaldeten Flächen ab einem definierten Zeitpunkt besteht. Der Entscheidungsfindungsprozess zur Richtlinie zu horizontalen menschen- und arbeitsrechtlichen Sorgfaltspflichten (Corporate Sustainability Due Diligence Directive) war dagegen holprig und stand kurz vor dem Scheitern. Kritiker führten neben der darin vorgesehenen zivilrechtlichen Haftung die hohen bürokratischen Kosten, insbesondere für den Mittelstand, als Hauptargument gegen die Ausweitung der unternehmerischen Sorgfaltspflicht auf. Die Anzahl der Geschäftsbeziehungen, die einer Sorgfaltspflicht unterliegen, ist in der Tat sehr hoch, doch gibt es Lösungsansätze, um Unternehmen bei der Umsetzung zu unterstützen und den bürokratischen Aufwand der Sorgfaltspflichten zu minimieren, ohne sie aufzuweichen.

Paradigmenwechsel

Schlussendlich konnten sich die Mitgliedstaaten der EU nach wiederholtem Anlauf auf einen Gesetzestext einigen. Allerdings nur, nachdem Belgien als Ratspräsidentschaft zweimal Kompromisslinien erarbeitet hatte. Insbesondere wurde der Geltungsbereich des Gesetzes eingeschränkt. Statt über 16.000 Unternehmen fallen nach Anhebung der Schwellenwerte bezogen auf Zahl der Mitarbeitenden und Umsatz nur noch ca. 5.400 Unternehmen unter die Richtlinie und müssen verbindlich ihren Sorgfaltspflichten entlang ihrer Lieferkette nachkommen.   

Die harten Auseinandersetzungen um die EU-Richtlinie und der Widerstand aus Teilen der Wirtschaft verweist auf den Paradigmenwechsel, der mit den Lieferkettengesetzen für Unternehmen verbunden ist. Lieferkettengesetze erweitern die Verantwortung der Unternehmen über ihren eigenen Geschäftsbereich hinaus. Die Verantwortung für das Handeln der Lieferanten, erst recht für das Handeln von unmittelbaren Lieferanten auf den Vorstufen der Wertschöpfungskette, war bisher selten Thema des Unternehmensmanagements und rechtlich nicht vorgesehen.

Die bisherigen unternehmerischen Bestrebungen auf freiwilliger Basis, wie Nachhaltigkeitszertifizierungen oder Multiakteurspartnerschaften, haben nicht für eine fundamentale Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gesorgt, siehe z.B. das hohe und zum Teil wieder ansteigende Ausmaß an Kinder- und Zwangsarbeit.

Während die Möglichkeit der Umsetzung der adressierten ILO-Normen in der Diskussion i.d.R. nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, ist in der EU-Richtlinie auch das Recht auf Nahrung als ein elementares Menschenrecht adressiert. Die Umsetzung dieses Rechtes in low and lower-middle income countries (LMIC) wirft besondere Herausforderungen auf. Der folgende Beitrag beinhaltet daher neben einer grundsätzlichen Einschätzung der Sorgfaltspflichtenregelungen auch eine intensivere Diskussion dieser Anforderung, beides basierend auf dem aktuellen Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik und Ernährung (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.

Grundsätzliche Einschätzung der Sorgfaltspflichtenregelungen

Der WBAE begrüßt grundsätzlich die Gesetzgebung zu Sorgfaltspflichten von Unternehmen, mahnt aber auch eine auf Wirksamkeit und Effizienz ausgerichtete Ausgestaltung und Umsetzung der Regelungen für alle Beteiligten auch im Ausland an. Dafür hält der Beirat einen intensiven Dialog mit den internationalen Handelspartnern, insbesondere den LMIC sowie die Bereitstellung von Unterstützungsmaßnahmen für erforderlich.  

Der Aufbau von Risikomanagementsystemen zur Einhaltung grundlegender Arbeitsschutz- und Menschenrechte in den von den Sorgfaltspflichtengesetzen direkt betroffenen Unternehmen ist sinnvoll. Die direkten Kosten sind vergleichsweise überschaubar, da Unternehmen der Agrar- und Ernährungswirtschaft schon viel Erfahrung mit Qualitätssicherungssystemen in komplexen Wertschöpfungsketten haben. Es können aber auch Kosten bei den Vorlieferanten und durch nicht-intendierte Effekte entstehen: Einige Unternehmen könnten deshalb eher einen Rückzug aus Gebieten oder Wirtschaftsbereichen mit schwierigen menschenrechtlichen Situationen („cut and run”) bzw. andere Umgehungsstrategien wählen, statt in die Entwicklung ihrer Lieferanten zu investieren. Zertifizierungssysteme könnten eine wesentliche Rolle in der effizienten und effektiven Umsetzung spielen, weisen aber derzeit noch größere Schwachstellen auf. 

Wirksamkeit und Effizienz der Sorgfaltspflichtenregelungen hängen wesentlich von der konkreten Ausgestaltung der Umsetzung und Kontrolle ab. Hierbei kommt abgestimmten Schnittstellen zwischen Unternehmen und Behörden eine besondere Bedeutung zu, damit Unternehmen nicht unterschiedliche Behörden mehrfach mit Daten versorgen müssen, und umgekehrt. In juristischer Hinsicht wird die Steuerungswirkung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes durch das Fehlen einer Haftungsregelung begrenzt; die europäische Richtlinie sieht diese jedoch nun vor.

Da Sorgfaltspflichtenregelungen ein neues Instrument darstellen, sind Unterstützungsangebote für Unternehmen sowie ein Monitoring und eine Wirkungsüberprüfung der Gesetze notwendig, um Probleme frühzeitig zu erkennen und ggfs. Anpassungen vornehmen zu können. 

Große Plantagen, wie für den Kaffeeanbau hier in Guatemala, fallen als Lieferant in die Sorgfaltspflichten. © Eli Duke https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Kritisch zu betrachten ist, dass die Sorgfaltspflichtenregelungen ein unilaterales Vorgehen Deutschlands bzw. der EU darstellen – trotz vorhandener bilateraler und begrenzt multilateraler Möglichkeiten. Handelspartner wurden während der Erarbeitung der Gesetze nicht konsultiert, obwohl die Gesetze eine extraterritoriale Wirkung entfalten. Nicht nur vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit Europas sind eine Partnerschaftsorientierung und die Einbeziehung von Erfahrungswissen der lokalen Stakeholder auf Seiten der Handelspartnerländer für die weitere Umsetzung elementar. Dies kann zudem verhindern, dass sich auch Handelspartner von europäischen Unternehmen abwenden und die EU in der Folge die Handelspartner verliert und bestehende Menschenrechts- oder Umweltprobleme durch Exporte in andere Zielländer bestehen bleiben. Daher sollten eigene Ansätze der Handelspartner für eine Verbesserung der Situation vor Ort und eine Zusammenarbeit beim Monitoring und bei der Überprüfung der Wirkung der Gesetze unterstützt sowie ernsthafte Anstrengungen für multilaterale Ansätze unternommen werden. 

Insgesamt unterstützt der WBAE jedoch die Einführung von gesetzlichen Sorgfaltspflichten in Lieferketten und empfiehlt deren schrittweisen Ausbau als lernendes System. Dieser schrittweise Ausbau kann neben dem Umwelt- und Klimaschutz auch die Berücksichtigung des Rechts auf Nahrung als unternehmerische Sorgfaltspflicht betreffen.

Schrittweiser Ausbau der Sorgfaltspflichten: Das Recht auf Nahrung

Das Recht auf Nahrung ist ein grundlegendes Menschenrecht, damit jeder Mensch über Zugang zu angemessener, ausreichender und gesunder Nahrung verfügt. Es findet sich bereits in der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die in Art. 25 (1) festlegt: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung...". Im UN-Sozialpakt von 1966, haben sich inzwischen über 170 Staaten völkerrechtlich verpflichtet, dieses Menschenrecht umzusetzen. Darin erkennen die Vertragsstaaten das Recht auf Nahrung in der o.g. Formulierung explizit an und verpflichten sich, “geeignete Schritte” zu unternehmen, “um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten”.

Im Zeitverlauf hat sich eine erweiterte Perspektive auf das Recht auf Nahrung entwickelt, so beinhaltet die Definition der FAO von Ernährungssicherheit Verfügbarkeit, Zugang, Verwendung und Stabilität. Ernährungssicherheit ist gegeben, “wenn alle Menschen zu jeder Zeit physischen und wirtschaftlichen Zugang zu angemessener, gesundheitlich unbedenklicher und nährstoffreicher Nahrung haben, um ihre Ernährungsbedürfnisse und Nahrungsmittelpräferenzen zugunsten eines aktiven und gesunden Lebens befriedigen zu können.

Das Menschenrecht auf Nahrung wird angesichts der Hungerzahlen vielfach, als das „am häufigsten verletzte Menschenrecht” zitiert. Es ist gerade für den Landwirtschaftssektor ein entscheidendes Menschenrecht, da global ein großer Teil der Hungernden Kleinbauern und -bäuerinnen sind.

Weder das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz noch die Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten führt das Recht auf Nahrung explizit in den Referenzabkommen auf, die zur Definition der Sorgfaltspflichten herangezogen werden. Zwar bezieht sich die finale Version der EU-Richtlinie auf den oben genannten Artikel 11 des UN-Sozialpakts, doch ist unklar, inwiefern Unternehmen überhaupt das Recht auf Nahrung entlang ihrer Lieferketten sicherstellen können.

Aufgrund der Komplexität des Rechts auf Nahrung und der unterschiedlichen Konkretisierung der Aspekte von Nahrungssicherheit in Unternehmenspflichten scheint es sinnvoll, zu differenzieren, welche Aspekte unmittelbar in die Sorgfaltspflichtenregelungen aufgenommen werden sollten und welche Aspekte schrittweise konkretisiert werden können und nach Wirkungsprüfung hinzukommen könnten.

Arbeiter in einer Fabrik für Orangensaft. Stiftung Warentest hat 2023 Hungerlöhne auf Orangenplantagen in Brasilien kritisiert. © ChristlicheInitiativeRomero / CIR

Der Food Security Standard (FSS) kann dabei als wertvolle Grundlage dienen. Er wurde von der Welthungerhilfe und dem WWF in Kooperation mit dem Zentrum für Entwicklungsforschung und mit Unterstützung des BMEL entwickelt und bietet eine Zertifizierung entlang der vier angesprochenen Dimensionen von Ernährungssicherheit. Dabei enthält der FSS teilweise Kriterien, die die Sorgfaltspflichten gemäß Lieferkettensorgfaltspflicht abdecken, etwa die Regelungen der ILO-Kernarbeitsnormen. Damit bietet der FSS eine mit dem deutschen Lieferkettengesetz kompatible Zertifizierung, ergänzt um zusätzliche Aspekte, die speziell auf Ernährungssicherheit abzielen.

Kriterien im FSS, die einen sehr direkten Zusammenhang zu unternehmerischem Handeln haben, sollten ebenfalls explizit als unternehmerische Sorgfaltspflichten eingestuft werden. Ein Beispiel dafür ist die Gewährleistung der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln am Arbeitsplatz bei abhängig Beschäftigten. Darüber hinaus könnten weitere Regelungen, wie etwa Bildungsprogramme für gesundheitsförderliche Ernährung in Unternehmen als freiwillige Maßnahmen betrachtet und im Sinne eines lernenden Systems Erfahrungen damit gesammelt werden. Insgesamt kann der FSS eine wichtige Rolle dabei spielen, die Wahrnehmung von Verletzungen bezüglich des Rechts auf Nahrung zu stärken. 

Grundsätzlich bedingen Löhne und unternehmerische Einkommen, die kein existenzsicherndes Niveau erreichen, viele der bestehenden Menschen- und Arbeitsrechtsrisiken in agrarischen Wertschöpfungsketten – wie auch das Recht auf Nahrung. Daher sollte die Einhaltung von Mindestlöhnen ein zentraler Bestandteil der Sorgfaltspflichtenregelungen sein. Noch weitergehender ist die EU-Richtlinie: Hier werden existenzsichernde Löhne und Einkommen als unternehmerische Sorgfaltspflicht im Anhang definiert. Sie könnten – wenn umsetzbar – ein zentraler Einflussfaktor auf die Ermöglichung des Rechts auf Nahrung entlang globaler Lieferketten sein. Allerdings sind die Höhe von Mindestlöhnen und gerade auch existenzsichernde Löhne und Einkommen eng verknüpft mit Wettbewerbsfragen und Marktentwicklungen und daher in der Umsetzung oft noch mit Schwierigkeiten behaftet.   

Daher fokussieren die Überlegungen des WBAE, wie eine konkretisierte Einbindung des Rechts auf Nahrung in unternehmerische Sorgfaltspflichten gelingen kann, eher auf Verfügbarkeit und Zugang und partnerschaftliche Weiterentwicklung. Sie sind in den folgenden Empfehlungen des WBAE zusammengefasst:

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Recht auf Nahrung ein elementares Menschenrecht ist, weshalb es sinnvoll erscheint, dieses in die Lieferkettensorgfaltspflichten der Unternehmen fest zu etablieren. Ansatzweise ist dies in der EU-Richtlinie der Fall. Für eine weitergehende Verankerung und Umsetzbarkeit dieses Menschenrechts in unternehmerischen Sorgfaltspflichtenregelungen ist es aber wichtig, eine konkretere und unternehmensbezogene Spezifizierung dahingehend vorzunehmen, wie Unternehmen dem Schutz dieses Menschenrechts nachkommen können. Dies würde dann einen bedeutenden Fortschritt darstellen.

Prof. Dr. Christine Wieck Universität Hohenheim & Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik und Ernährung beim BMEL
Dr. Sarah Iweala Universität Göttingen
Portrait Bettina Rudloff.
Bettina Rudloff Stiftung Wissenenschaft und Politik
Prof. Dr. Achim Spiller Universität Göttingen & Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik und Ernährung beim BMEL

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