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14.04.2015 | Gastbeitrag

Tödliche Mode

„Meine Tochter hatte Angst, in die Fabrik zu gehen“ – Erinnerungen an den Einsturz des Rana Plaza Komplexes in Bangladesch

Ein Mann sitzt in der Hocke und schaut auf die Trümmer eines Gebäudes
1.334 Menschen starben unter diesen Trümmern. Jeden Tag kommen Angehörige an den Rana Plaza, um zu trauern. © Jens Grossmann
Martina Hahn Journalistin

Ein Unterkiefer mit fünf Backenzähnen, drei links, zwei rechts – mehr ist von dem Menschen nicht übrig geblieben. Der Knochen liegt auf kühlem Stein, zwischen zwei erhobenen Fäusten, Hammer und Sichel. Symbole der Arbeit, der Stärke. Es ist das Mahnmal eines Künstlers, geschaffen wenige Monate nachdem der Tod ins Rana Plaza kam. Doch hier, wo einmal eine Textilfabrik stand, ist dieses Mahnmal auch ein Zeichen der Ohnmacht geworden.

Es war um 9 Uhr morgens, als am 24. April 2013 in Savar, einem Vorort von Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, die Fabrik einstürzte. 1.134 Textilarbeiter – Frauen, Männer, Kinder – starben. Mehr als 2.000 überlebten schwer verletzt. Sie alle hatten gerade die ersten Hemden des Tages vernäht oder Knopfleisten gesetzt, als der Boden unter ihnen einbrach und die Decke auf sie herabstürzte. Unzählige Tonnen Beton, Stahlträger und Nähmaschinen begruben sie. Die Wucht kam aus fünf Stockwerken, drei davon illegal hochgezogen. Irgendwann haben die Helfer aufgehört, die Überreste der Opfer zu bergen. „Tag für Tag finden sie hier noch Knochen“, sagt Rokeya. „Aber die Polizei sagt, sie stammen von Hunden.“

16-Stunden-Schichten für vier Euro im Monat

Rokeya kommt jeden Abend hierher. Die 52 Jahre alte Frau stellt sich vor den Wellblechzaun, der das riesige Grab aus Steinen und Stofffetzen vom Lärm der Straße, den hupenden Bussen und stinkenden Motor-Rikschas abschirmt, und streckt den Vorbeieilenden ein Blatt Papier entgegen. Darauf abgedruckt ist das Bild einer jungen Frau, schön und ernst blickend. Es ist Parvin, Rokeyas Tochter. Auch sie liegt noch immer unter den Trümmern begraben, wie an die 200 weitere Opfer. Eine stille Anklage an diesem lauten Ort.

3.000 Taka, umgerechnet 28 Euro, hat die 25-jährige Parvin pro Monat im Rana Plaza verdient. Dafür hat sie T-Shirts und Hemden für Firmen wie Kik, Primark oder NKD, aber auch für etwas teurere Marken wie Benetton, Adler Moden oder Mango zusammengenäht. Mit ihrem Lohn ernährte sie die Familie. Noch sechs Monate wollte sie hier schuften, Geld zur Seite legen, dann auf die Uni gehen. Jetzt ist sie tot, und ihr Sohn Rubel, sieben Jahre, ist Vollwaise. Parvins Mann starb bei einem Unfall. „Ich weiß, ich bekomme meine Tochter nicht zurück“, sagt Rokeya. „Hier spüre ich ihre Seele.“ Zu Hause, sagt sie, werde sie verrückt.

Ausgebeutet, beschimpft, sexuell belästigt

Wer hat Schuld an der Katastrophe, am Tod ihrer einzigen Tochter? „Ich weiß es nicht“, sagt die Mutter. Kalpona Akter sagt: „Die Fabrikbesitzer und ihre Auftraggeber, die Modekonzerne in Europa und den USA.“ Die Chefin des Bangladesh Center for Workers Solidarity sitzt in ihrem kleinen Büro, der Ventilator kämpft gegen die Hitze an, der Stadtteil West Rampura wirkt noch stickiger und schmutziger als der Slum um das eingefallene Rana Plaza. Ob sich die Lage für die Näher nach dem Unglück verbessert hat? Kalpona, 37, die als Zwölfjährige in dunklen Klitschen 16-Stunden-Schichten für vier Euro den Monat an der Nähmaschine und als Aktivistin ein Jahr im Gefängnis verbrachte, zögert kurz. Lacht dann bitter auf. „Nein.“ Noch immer seien die Löhne in den rund 5.000 Textilfabriken des Landes schlecht. Noch immer werden die vier Millionen Näherinnen und Näher – 80 Prozent der Textilarbeiter sind Frauen – ausgebeutet, beschimpft, sexuell belästigt. Noch immer wurden die Hinterbliebenen der Opfer vom Rana Plaza kaum entschädigt. Nur das Gebäude- und Brandschutzabkommen, im Mai 2013 unterzeichnet, sei ein kleiner Fortschritt, sagt Kalpona.

Eine andere Welt ist möglich – diese Zeilen stehen auf einem der Plakate an der Wand ihres Büros. Über hundert Modehersteller haben das Abkommen bislang unterschrieben. Gefordert haben es die Gewerkschaften und die Kampagne für Saubere Kleidung, ein Netzwerk aus europäischen Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, seit Langem. „Doch kalte Füße bekam die Textilbranche erst, nachdem Tonnen Beton auf die Menschen niederprasselten“, sagt Frauke Banse von der Kampagne.

Es fehlt an unabhängigen Inspektoren

Wenngleich das Abkommen nichts über die Arbeitsbedingungen und Löhne aussagt, werden nun zumindest in Bangladesch erstmals die Fabriken nach einem einheitlichen Sicherheitskatalog geprüft. Doch es fehlt an unabhängigen Inspektoren. „800 haben wir gefordert, 40 sind es derzeit“, kritisiert Kalpona, die Gewerkschaftsführerin. „Was bringt bei einem Brand ein Notausgang, wenn Vorarbeiter ihn verriegeln, damit die Näherinnen tagsüber den Raum nicht verlassen?“ Wer kontrolliert Subunternehmen, die oftmals über Nacht entstehen und genauso schnell wieder verschwinden und die immer dann einspringen, wenn ein Lieferant mit dem Auftrag nicht nachkommt? Welchen Sinn hat ein Gebäude-Check, wenn Arbeiterinnen wie Parvin am Tag vor dem Unglück die ersten Risse in der Wand bemerken, der Vorarbeiter sie aber zwingt, am nächsten Morgen zurückzukehren, weil die Ware binnen weniger Wochen zum Verschiffen bereitstehen muss – die Modezyklen in Europa sind kurz.

„Meine Tochter“, erzählt Rokeya, „hatte Angst, in die Fabrik zu gehen.“ Im Rana Plaza geschah nicht die erste Katastrophe. Und es wird auch nicht die letzte sein, sagt Kalpona in perfektem Englisch. Wohl auch deswegen sträubt sich die Textilbranche, den nach langem Ringen vereinbarten Kompensationsfonds für Lohnausfall und medizinische Hilfe einzurichten. Sie wollen keinen Präzedenzfall schaffen. 28 weltweit handelnden Markenherstellern, darunter C&A ebenso wie Walmart, konnte die Kampagne für Saubere Kleidung bislang nachweisen, dass sie im Rana Plaza fertigen ließen. Fünf davon haben ihren Sitz in Deutschland: Kik, NKD, Adler Modemärkte, Kids for Fashion und Güldenpfennig, ein Zulieferer von Discountern wie Aldi.

30 Millionen Euro für einen Entschädigungsfonds

Viele Konzerne dementierten anfangs, T-Shirts, Schlafanzüge oder Hemden aus dem Rana Plaza zu beziehen – räumten es dann aber doch ein, nachdem sie mit Etiketten aus dem Schutt oder mit Lieferpapieren konfrontiert wurden. Einige wie Primark zahlten die Löhne erst mal weiter, andere finanzierten Hilfsprojekte. Oder sie spendeten direkt: Adler Mode gab der Kampagne für Saubere Kleidung zufolge 20.000 Euro an die Hinterbliebenen, „eine lächerliche Summe“, sagt Frauke Banse. Benötigt werden umgerechnet 30 Millionen Euro für einen Entschädigungsfonds, der eine Art Hinterbliebenenrente zahlen soll.

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat berechnet, wie viel jeder einzelne tote oder nach dem Unglück arbeitsunfähige Näher noch verdient hätte, wäre er nicht getötet, verstümmelt, gelähmt worden. Die 28 Konzerne sollen unter sich ausmachen, wie die Millionen zusammenkommen – doch gerade das sei das Problem, sagt Gisela Burckhardt, eine andere Vertreterin der Kampagne für Saubere Kleidung. „Es bleibt freiwillig.“

Mindestlohn ist armselig und reicht nicht zum Leben

Der staatliche Mindestlohn lag, als das Rana Plaza einstürzte, bei umgerechnet 28 Euro im Monat. Dann haben ihn die 350 Abgeordneten auf 49 Euro erhöht, nicht viel bei einer Inflationsrate von mehr als 20 Prozent. „Das ist noch immer armselig und reicht nicht zum Leben“, sagt Kalpona. Aber es lockt Investoren. Wo Gehälter und Umweltstandards niedrig sind, lassen Firmen gerne produzieren. Menschenrechtsorganisationen haben berechnet, dass 174 Euro in Bangladesch ein fairer, ein existenzsichernder Mindestlohn wären.
Die Modehäuser und Handelsketten in Deutschland, den USA, Spanien oder Japan könnten sich künftig bei ihren Vertrags- und Preisverhandlungen mit den Zulieferern an diesem Lohnniveau orientieren – und diesen durchsetzen. Textilkonzerne können sich nicht mehr darauf berufen, es gäbe kein international anerkanntes Berechnungsmodell. Sie könnten sich eine gerechte Zahlung leisten, sagt die Kampagne für Saubere Kleidung.

Doch die Forderungen nach einem angemessenen Mindestlohn werden in Bangladesch im Tränengas erstickt. Wie im Dezember 2013, als Demonstranten die Erhöhung auf umgerechnet 74 Euro forderten. Aber Unruhen gefährden Devisen, Privilegien und verscheuchen Investoren – das Land ist abhängig vom Verkauf der Kleidung: Bangladesch ist der zweitgrößte Textilexporteur, gleich nach China. Zwei von drei Teilen landen in Europa.

Angst vor einem Boykott

Und so wird hier, im größten Parlamentsgebäude der Welt, keiner ernsthaft etwas tun, weder gegen die lokalen Fabrikbesitzer, die sich nicht an die Bestimmungen halten, noch gegen die Manager der westlichen Modeunternehmen, die die Preise drücken. Man gefährdet lieber die eigenen Menschen als die wirtschaftlichen Aussichten.

Es wird dunkel an dem Ort, an dem einmal das Rana Plaza stand. Rokeya blickt zu dem Zaun hinüber, hinter dem irgendwo die Leiche ihrer Tochter liegen muss. Sie will sich verabschieden, sie weint. Ein paar Frauen haben sich zu ihr gesellt, auch sie kommen fast jeden Tag her, auch sie trauern. Ayesha etwa, selbst Näherin, ihre Schwester Rehana wurde nur siebzehn Jahre alt. „Viele von uns können nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben“, klagt die junge Frau. „Die Textilfabriken sind der einzige Ort für uns.“

Trotz der miesen Löhne, trotz der Gefahr. Auch deswegen träfe sie ein Boykott der T-Shirts oder Jeans aus Bangladesch hart – und er träfe die Falschen. „Nur wegen der Käufer in Europa haben wir etwas zu essen“, sagt Rokeya. „Boykott ist keine Lösung“, sagt auch Kalpona. „Wir brauchen diese Jobs hier, aber wir wollen würdig bezahlt werden.“ Die Nacht senkt sich herab, die Frauen gehen heim. Sie werden am nächsten Tag wiederkommen, zu ihren Toten, die keine Ruhe finden.


Dieser Beitrag entstand 2014 nach einer Reise von Martina Hahn nach Bangladesh. Anlässlich des 2. Jahrestags der Katastrophe stellte uns die Journalistin und Buchautorin ihre Reportage freundlicherweise zur Veröffentlichung im Welthungerhilfe-Blog zur Verfügung.

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