Building Back Better
Haiti kann mehr, die Vergangenheit hat es gezeigt
Eine Woche sind wir durch das zerstörte Haiti gereist. Wir haben die Menschen in den Flüchtlingslagern besucht, den Verteilungen beigewohnt, Gespräche mit Ministern geführt. Und am Ende dieser aufwühlenden Reise bleibt uns die bittere Erkenntnis: Haiti muss anders, kann anders werden: Denn bis vor ungefähr vierzig Jahren war Haiti ein attraktiver Spot mit blühendem Tourismus und einer florierenden landwirtschaftlichen Produktion. Ein Leben wie dieses haben die Menschen des Inselstaates nicht verdient.
Wir erkunden diese fruchtbare Insel und können die Fragen nicht verdrängen, warum hier soviel Armut und Hunger herrscht. Warum die Häuser nicht so stabil sind wie in Chile, wo ein weit schlimmeres Beben viel weniger Opfer verursacht hat.
In den vergangenen Wochen haben die Aufräumarbeiten begonnen. Wer durch die Straßen von Port-au-Prince, Jacmel oder Petit-Goâve fährt, sieht überall Räumtrupps mit Hacken, Schubkarren, Schaufeln, Besen. Die Arbeit schafft ein kleines bisschen Aufbruchstimmung auf dem Weg zurück in die Normalität. Und sie bringt den Menschen ein Einkommen durch sog. Cash-for-Work-Programme: Schutt wird geräumt gegen Bezahlung, damit die Menschen ein erstes Einkommen nach der Katastrophe haben.
Doch all das reicht uns nicht. Wir setzen uns jetzt schon damit auseinander, wie wir aus dem Desaster eine Chance machen können: Ein Wiederaufbau des Landes ist das falsche Ziel – wer will schon in den Verhältnissen leben die vor dem zerstörerischen Beben herrschten? Vielmehr braucht es einen Neuanfang mit dem Ziel, dieses Land aus dem so unnötigen Elend herauszubringen, die Landschaften wieder blühen zu lassen, den Menschen Perspektiven zu schaffen. ‚Building Back Better‘ – hier sollte der Anspruch internationaler Katastrophenhilfe, der so oft formuliert wird, endlich eingehalten werden.
Die Herausforderungen sind riesengroß. Haiti war schon vor dem Erdbeben ein schwacher Staat. Jetzt fehlen an den Schaltstellen die Personen, die für den Neuanfang dringend benötigt würden. Zahlreiche gut ausgebildete Männer und Frauen, die wichtige Positionen inne hatten, kamen ums Leben. Hunderttausende junge Menschen sind vor den Folgen des Desasters geflüchtet. Port-au-Prince ist zerstört, die Wälder sind abgeholzt, das Land ist hoch verschuldet, es gibt wenig Infrastruktur für Wasser, Strom, Kommunikation, Mobilität. Und auch die internationale Gebergemeinschaft in Haiti hat es hart getroffen. Sowohl bei den Vereinten Nationen als auch bei der Europäischen Gemeinschaft kamen ranghohe Vertreter ums Leben. Sie verloren Familienangehörige oder leiden noch heute an den Folgen dieses traumatischen Erlebnisses. Nicht zuletzt wurden viele wichtige Dokumente, Akten und Daten zerstört.
In diesen Tagen reichen sich Staatschefs bei der haitianischen Regierung die Klinke in die Hand: der kanadische Premierminister Stephan Harper, der französische Präsident Nicolas Sarkozy oder die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Auf der internationalen Konferenz für Wiederaufbau am 31. März in New York werden sicher hohe Finanzzusagen gemacht. Hier und da war von einem “Marshall-Plan” für Haiti die Rede. Aber ist das wirklich realistisch? Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war im Zentrum der politischen Interessen der Supermächte. Und auch wenn die Industrie in großen Teilen zerstört war, so konnte man an die Wirtschaftsmacht, die Deutschland vor dem Krieg war, wieder anknüpfen.
Und Haiti? Nach wechselnden Diktaturen, Jahren der Instabilität und der internen Querelen gab es vor dem Erdbeben Zeichen des Aufbruchs und der Stabilisierung: eine neue Regierung, eine verstärkte UN-Präsenz, aufgefrischte ökonomischer Aktivität in der Hauptstadt. Daran muss die internationale Gemeinschaft anknüpfen. Mit Mitteln für eine langfristige, nachhaltige Entwicklung, welche jetzt zum Beispiel schon in Cash-for-Work-Programmen unmittelbar den Armen zugute kommen. Und welche die Potenziale des ländlichen Raumes fördern sollten, damit nicht noch mehr Menschen in den Moloch Port-au-Prince ziehen müssen, weil sie auf dem Lande noch kein Einkommen erzielen können.
Also heißt es, nicht schnell viel Geld ausgeben, sondern auf gut geplante, langfristig angelegte Programme zu setzen. Es ist nicht unmöglich. Vor mehreren Jahrzehnten lebten die Menschen in Haiti ein anderes Leben, ein besseres. Viele Touristen strömten in das Land und sorgten für mehr Wohlstand. Die Erträge der Landwirtschaft waren üppig. All das sollte sich die internationale Gemeinschaft immer vor Augen halten. Denn die Menschen in Haiti haben genug gelitten.
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Viele Grüße,
Wolfgang Jamann