Nahrungsmittel für (zu) viele Hungernde
Auf diesen Anblick kann man sich nicht vorbereiten: das gewaltige Camp für Vertriebene bei Bentiu, nahe der Grenze des Südsudans zum Norden des einst vereinten Landes. Beim Anflug mit einer betagten Propellermaschine breitet sich ein gewaltiges Schachbrettmuster aus tausenden Hütten, Lagerhallen, Containern, Wassertürmen und vielen Zäunen aus.
Vor 14 Jahren war ich das letzte Mal im Südsudan. Auch damals war das Land von einer Hungerkrise betroffen, die sich rapide ausbreitete. Der Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden des Landes bildete eine tödliche Allianz mit einer verheerenden Dürre. Damals war es das Dröhnen der Antonov-Bomber, das ganze Regionen in Angst und Schrecken versetzte. Heute sind es marodierende Truppen am Boden, die Dörfer verwüsten und Hunderttausende in die sicheren Camps der Vereinten Nationen treiben. 2011 wurde der Südsudan unabhängig vom Sudan. Seitdem wird die Region von neuen gewaltvollen Konflikten erschüttert. Für die Bevölkerung eine Katastrophe: Auch dieses Mal werden eine schlechte Ernte und viele verlassene Felder zu einer Hungersnot führen – das ist schon gewiss.
Erster Tag in Bentiu: Hunger und Wut
In Bentiu in der südsudanesischen Provinz Unity hat die Welthungerhilfe die Verantwortung für die Nahrungsverteilung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen übernommen. Die Oktober-Verteilung 2016 erreichte rund 188.000 Menschen, in der Mehrheit Frauen und Kinder. Das ist eine Dimension, die mir als „dem Neuen“ im Team Respekt abnötigt, selbst nach Jahrzehnten in der Nahrungsmittelhilfe. Wir sind 30 Kollegen der Welthungerhilfe: Nur vier von uns sind sogenannte „Internationale“, also keine Bürger des Landes. Die Mehrheit der Kollegen sind selbst Vertriebene im nahen Camp. Ich bin der einzige Deutsche. Mein Chef ist ein junger Ökonom aus Burundi. Der hat – mit einem ansteckenden Lachen im Gesicht – den Laden im Griff.
Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft jagt eine Krisensitzung die andere. Es gibt politische Spannungen mit Kenia. Die Repräsentanten der Vertriebenen verlangen kategorisch, alle kenianischen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen aus Bentiu zu entfernen. Wir stecken mitten in einem politischen und praktischen Dilemma. Unser Erfolg beruht einerseits auf unserer Anpassungsfähigkeit und andererseits auf den vielen Talenten in unserem Team. Nationalität als Ausschlusskriterium geht nicht – wir brauchen jede Frau und jeden Mann in dieser schwierigen Situation. Die nächste Nahrungsmittelverteilung ist seit einer Woche überfällig und muss erneut ausgesetzt werden. Eine Eskalation der Emotionen ist nicht mehr auszuschließen – Hunger geht oft mit Wut einher. Das Landesbüro wird in erhöhte Bereitschaft versetzt, schnell auf eskalierende Situationen zu reagieren. Wir können uns auf die Organisation verlassen, denn Krisenmanagement ist gut etabliert im Zusammenspiel zwischen Bonn, Juba und Bentiu.
Dann, an meinem dritten Tag, kommt unerwartet früh die Entwarnung. Die Repräsentanten der Vertriebenen geben Sicherheitsgarantien für die geplanten Verteilungen. Die Angelegenheit um die kenianischen Mitarbeiter wird vertagt, um den Zugang zu der dringend benötigten Nahrung zu ermöglichen. Wir atmen auf. „Nochmal gut gegangen“, wird mir, dem sichtlich nervösen neuen Mitarbeiter, mit einem beruhigenden Schulterklopfen signalisiert. Der Chef der Verteiler mahnt dennoch zu großer Umsicht. Ob die Vertreter die Unruhen unter den Vertriebenen wirklich entschärfen konnten, wird sich bei der Verteilung zeigen. Wir haben nur zwei Tage Vorbereitung, um die Logistik in Gang zu setzen. Das Team macht sich an die Arbeit und tut, was wir hier seit Anfang 2014 tun.
Die Nahrungsmittelverteilung beginnt
Dann ist es soweit, mit einer Woche Verspätung können wir die erste Dezember-Verteilung im Vertriebenencamp Bentiu realisieren. Über 120.000 Menschen suchen hier derzeit Schutz vor militärischen Auseinandersetzungen und den gefährlichen Banditengruppen im Land. Die Sicherheit der Vertriebenen gewährleistet ein Blauhelmkontingent aus der Mongolei, Ghana und Indien. Innerhalb des Camps und in einem Radius von über 100 Kilometern verteilt die Welthungerhilfe seit 2014 Nahrungsmittel an die Geflüchteten, die Zahl der Hilfsbedürftigen ist seither immer weiter gestiegen. Die unsichere Lage beschränkt uns zudem auf einen immer kleineren Radius – dadurch verschärft sich die Situation weiterhin, denn die Menschen suchen hier ebenso Schutz vor Hunger.
Um die Verspätung der Verteilung auszugleichen, versuchen wir unsere tägliche Verteilungsleistung von 12.000 auf 15.000 Empfänger zu steigern. Wir treffen uns mit den Logistikern des World Food Programme der Vereinten Nationen, um abzuklären, ob die Rotationsgeschwindigkeit der kleinen Flotte von acht LKW ausreicht und wir genügend schnell laden und entladen können. Weil die südsudanesischen Straßen nach der Regenzeit noch nicht ausreichend getrocknet sind, müssen alle Nahrungsmittel von speziell ausgerüsteten Transportflugzeugen abgeworfen werden. Auch hier entstehen Engpässe und Verluste, die nur mit einem hohen finanziellen Aufwand aufgefangen werden können. Die Zusicherung erfolgt nach kurzer Beratung: wenn die ersten acht LKW am Abend des Vortages beladen werden und wir an der Verteilstation genügend Leute zum Entladen bereitstellen, könnte es klappen.
Unser Verteilungsleiter gibt zu bedenken, dass die Steigerung der täglichen Leistung für die Verteiler von Bohnen, Öl und Salz von Nachteil ist, denn sie werden tageweise bezahlt. Bisher waren 12.000 Rationen das Maximum. Bei einer Erhöhung auf 15.000 müssten sie also für das gleiche Geld rund 25 Prozent mehr leisten. Der Taglohn kann nicht erhöht werden, denn sonst bricht ein wichtiger Konsens mit allen anderen Hilfsorganisationen zusammen. Eine Lösung ist jedoch schnell gefunden und später in längeren Verhandlungen mit den Arbeiterführern wird diese auch akzeptiert: Trotz der erhöhten Leistung bleibt der Taglohn konstant, aber jeder Tag, der im Vergleich zur früheren Leistung eingespart werden kann, wird als Prämie am Schluss vergütet. So bleibt das Einkommen der Arbeiter stabil.
Gegen Hungersnot Schlange stehen
Um drei Uhr nachts reihen sich erste Gruppen von Frauen auf. Sie möchten die Verteilung als Erste erreichen, um noch in der morgendlichen Kühle die Säcke nach Hause zu schleppen. Das Scannen der Barcodes beginnt erst um sieben Uhr – jede Familie hat eine Plastikkarte von der alle Informationen abgelesen werden. Stellt man sich sehr früh an, kommt man mit seinen Rationen aus der Verteilstation, bevor die Tageshitze das Warten ohne jeden Schatten zur Qual macht. Unsere irische Partnerorganisation in der Alliance2015, CONCERN, verteilt Seife und Hygiene-Slogans und stellt 600 Liter Wasser für die wartenden Frauen zur Verfügung und für die Arbeiter, die schweißüberströmt Säcke schleppen.
Wenn es beim Scannen der Plastikkarten keine Probleme gibt – zum Beispiel bei doppelt ausgestellten oder ungültigen Karten – haben wir immer nur kleine Schlangen vor den Verteilstationen. Zuerst für Bohnen (15 kg), dann Salz (1,5 kg) und Zucker (3 kg), und zum Schluss Öl (9 Liter) und Sorghum (200 kg). Was sich viel anhört muss einen Monat lang für rund 20 Personen reichen.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das uns jeden Tag 18 Lastwagenladungen zur Verfügung stellt, bleibt notgedrungen hinter den internationalen Normen zurück. Diese liegen etwa 30 Prozent höher – aber man kann nur das transportieren und verteilen, was von der internationalen Gebergemeinschaft auch finanziert wird. Und so mischt sich unsere Freude über die vielen lachenden Gesichter derer, die beladen mit den dringend benötigten Lebensmitteln zu ihren Hütten laufen, mit der bitteren Gewissheit, dass über Weihnachten trotzdem viele hungrig bleiben.
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