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15.08.2023 | Blog

Afghanistan: „Frauen wollen sich nicht unsichtbar machen lassen“

Die Not in Afghanistan ist immens, viele Menschen hungern, Frauen und Mädchen werden aus dem öffentlichen Leben verbannt. Elke Gottschalk, Regionaldirektorin der Welthungerhilfe für Asien, reiste im Juni nach Kabul und berichtet.

In Kabul hat Elke Gottschalk mit Familien gesprochen, die finanzielle Unterstützung der Welthungerhilfe erhalten. © Welthungerhilfe
Elke Gottschalk Regional-Direktorin Asien/Südamerika

Sie waren im Juni in Afghanistan. Wie ist die humanitäre Lage?

Laut Daten des Welternährungsprogramms und anderer UN-Organisationen können sich bis zu 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr gesund ernähren, zwei Drittel der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Afghanistan gehört derzeit zu den sechs schlimmsten Hunger-Hotspots der Welt.

Was hat zu dieser katastrophalen Lage geführt?

Das Land ist von multiplen und komplexen Krisen betroffen. Es herrscht bereits seit Jahren eine Dürre, die Ernten vernichtet. Dazu kam Corona, das Gesundheitssystem ist katastrophal, es gab kaum Prävention und so gut wie keine Impfungen. Viele Menschen starben, vielen Familien hat das den einzigen Ernährer genommen. Und dann – vor knapp zwei Jahren – die Machtübernahme der Taliban. Allein im Jahr 2021 ist die Wirtschaft deshalb um rund 30 Prozent eingebrochen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Lage weiter verschärft, unter anderem durch drastische Preissteigerungen. Das beeinträchtigt auch die Arbeit von Hilfsorganisationen. Zudem reichen die finanziellen Zusagen der internationalen Gemeinschaft bei Weitem nicht aus. Afghanistan ist in Diplomatie und Politik aus dem Fokus geraten.

Internationale Gebergemeinschaft zieht sich zunehmend zurück

Warum nimmt die internationale Hilfsbereitschaft ab?

Vor der Machtergreifung der Taliban wurden rund 75 Prozent der afghanischen Staatsausgaben von der internationalen Gebergemeinschaft finanziert. Diese Mittel standen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung. Denn weil die Taliban die Menschen- und vor allem die Frauenrechte extrem einschränken, ziehen sich immer mehr Geber zurück.

Und die Bevölkerung zahlt die Rechnung?

Ja, leider. Das Welternährungsprogramm, das in den letzten Jahren Millionen Menschen in Afghanistan versorgt hat, hat bekannt gegeben, dass ihnen die Finanzierung für das Land ausgeht, es also voraussichtlich ab Oktober in Afghanistan niemanden mehr versorgen kann. Schon in den letzten beiden Monaten mussten jeweils vier Millionen Menschen aus der Versorgung herausgenommen und Rationen reduziert werden.

Hat die Welthungerhilfe darüber nachgedacht, sich aus Afghanistan zurückzuziehen?

Wir arbeiten seit Anfang der 90er-Jahre in Afghanistan, heute mit 200 nationalen und sechs internationalen Mitarbeiter*innen. Auch unter der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 waren wir vor Ort. Natürlich haben wir uns jetzt gefragt: Was können wir unter den neuen Rahmenbedingungen noch machen? Uns war aber klar: Die Menschen brauchen unsere Unterstützung jetzt dringender denn je. Wir können nicht sagen: Das ist uns zu kompliziert, wir ziehen uns zurück. Wir arbeiten in vielen Ländern unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen und finden immer einen Weg, zu helfen.

Wie arbeiten Sie jetzt dort?

Vor der Machtübernahme waren wir vor allem langfristig in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährungssicherung, Ressourcenschutz und Berufsbildung tätig. Doch die internationalen Geber wollen diese Zusammenarbeit mit den Taliban nicht. Innerhalb von zwei bis drei Monaten nach dem Fall Kabuls haben wir deshalb unsere Arbeit fast komplett auf humanitäre Hilfe umgestellt. Der Bedarf war riesig. Zunächst haben wir hauptsächlich Nahrungsmittel verteilt, dann vor dem Winter Heizmittel und warme Kleidung. Allerdings haben wir bald auf Bargeldverteilungen umgestellt. Das ist einfacher und effizienter und stützt die heimische Wirtschaft.

Ein Junge füttert einen Esel, der einen Karren mit Lebensmitteln zieht.
Ein Junge in Afghanistan füttert seinen Esel und wartet darauf, die Lebensmittel seiner Familie nach Hause zu transportieren. © Glinski/Welthungerhilfe

Mittlerweile haben wir auch neue Projekte aufgenommen, die die Widerstandsfähigkeit der Menschen stärken. Wir stellen Saatgut, Dünger, Hühner, Tierfutter und landwirtschaftliche Geräte zur Verfügung. In sogenannten „Cash for work“-Programmen erhalten Menschen Geld dafür, dass sie soziale Infrastruktur wie Bewässerungssysteme wieder instand setzen. Alle Aktivitäten sind darauf ausgerichtet, dass die Familien wieder selbst Nahrungsmittel produzieren können.

Frauen werden Lebensentwürfe und Zukunftsperspektiven genommen

Seitdem die islamistischen Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen haben, hat sich die humanitäre Lage im Land extrem verschlechtert. Wir unterstützen die Menschen u.a. mit Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Bargeld.

Wie leiden Frauen und Mädchen unter den Taliban?

Für sie hat die Machtergreifung der Taliban katastrophale Folgen. Es gibt besonders radikale Kräfte, die Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen und in den häuslichen Raum zurückdrängen wollen. Sie wollen die Identität der Frauen eliminieren. Darunter leiden diese extrem, es werden ihnen Lebensentwürfe und Zukunftsperspektiven genommen. In Kabul war ich überrascht, Frauen ohne männliche Begleiter auf den Straßen zu sehen. Viele von ihnen tragen nicht Burka, sondern lange schwarze Mäntel und schwarze Kopftücher, einige sogar bunte Tücher. Ihr mutiges Auftreten ist ein Zeichen des Protests. Die Frauen wollen sich nicht unsichtbar machen lassen. Auf dem Land sieht man sicher weniger Frauen auf der Straße, und wenn, dann mit Burka.

Die Taliban verbieten Frauen auch, zu arbeiten...

Ja, als erstes haben die Taliban ihnen verboten, in Ministerien zu arbeiten. Dann wurde Mädchen und Frauen der Besuch weiterführender Schulen und Universitäten untersagt, schließlich wurde ihnen verboten, für Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen zu arbeiten. Wir haben keine einzige Frau entlassen – und das werden wir auch nicht tun. Für diese klare Haltung haben wir auch die Unterstützung unserer Geber.

Bringen Sie die Frauen so nicht in Gefahr?

Das ist tatsächlich ein Dilemma. Viele unserer Mitarbeiterinnen sind die alleinigen Ernährerinnen ihrer oft großen Familien. Sie sind sich des Risikos bewusst, aber sie wollen und müssen arbeiten. Wir haben sie deshalb mit Solarpanelen und Datenpaketen ausgestattet, sodass sie mit ihren Laptops von zu Hause arbeiten können. Aber viele empfinden die erzwungene Isolierung als sehr dramatisch.

Die Taliban setzen das Arbeitsverbot für Frauen also nicht rigoros durch?

Nein. Sie wissen, dass wir Frauen brauchen, um besonders von Hunger betroffene Frauen und Familien zu erreichen. Es sind schwierige Aushandlungsprozesse, und wir bekommen von den Taliban nie etwas Schriftliches und Langfristiges, aber durchaus Zusagen, dass unsere Mitarbeiterinnen an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort an einer Verteilung teilnehmen können.

Man kann also mit den Taliban verhandeln?

Ja, denn "die Taliban" gibt es nicht. Die Dekrete wie das Verbot, dass Frauen nicht bei Hilfsorganisationen arbeiten dürfen, kommen von der politisch-religiösen Führung und dem Emir in Kandahar. Die Hauptstadt der Taliban ist 500 Kilometer von Kabul entfernt. Theoretisch sollen die Ministerien in Kabul umsetzen, was die Führung in Kandahar beschließt, aber das ist nicht immer der Fall. Es gibt bei den Taliban unterschiedliche Strömungen. Wir haben kaum Einblick, was in Kandahar passiert, aber ich gehe davon aus, dass sehr viele Taliban gegen ein Bildungs- und Arbeitsverbot für Frauen sind.

Unter Außenministerin Annalena Baerbock und Entwicklungsministerin Svenja Schulze möchte Deutschland eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik betreiben. Profitieren Frauen und Mädchen in Afghanistan davon?

Leider nicht. Im Gegenteil! Mit der radikalen Einschränkung der Frauen- und Mädchenrechte geben die Taliban Deutschland und anderen Gebern ein Argument, die begrenzten Mittel eher in Ländern einzusetzen, in denen Frauen mehr Rechte haben. Da Frauen und Mädchen in Afghanistan zu den vulnerabelsten Gruppen gehören, leiden sie am stärksten unter den Mittelkürzungen. So erreicht man also genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen möchte. Darum sollte humanitäre Hilfe sich nach der Bedürftigkeit, nicht nach politischen Prinzipien richten.

Was braucht Afghanistan jetzt am dringendsten?

Langfristige internationale Unterstützung. Denn perspektivisch müssen wir von der humanitären Hilfe wieder zu langfristigen Entwicklungsprojekten kommen. Verteilungen sind jetzt zwar notwendig, aber überhaupt nicht nachhaltig. Wir müssen die Menschen wieder in die Lage versetzen, sich selbst besser helfen zu können.

90 % der Bevölkerung können sich nicht mehr gesund ernähren, zwei Drittel der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Elke Gottschalk

Aber dazu muss man mit der Regierung zusammenarbeiten. Wollen Sie mit den Taliban kooperieren?

Mir geht es um die Menschen in Afghanistan, und ich plädiere auch dafür, realistisch zu sein. Die Taliban sind derzeit an der Macht. Mit diesem Faktor müssen wir umgehen. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, Gesprächskanäle offen zu halten und Verhandlungen und Dialog zwischen der Zivilgesellschaft, den Taliban und der UNO zu intensivieren. Für die Entwicklung des Landes wäre es auch sehr wichtig, einen Friedensprozess aufzusetzen. Mir ist klar, dass es keine Friedensverhandlungen geben kann, solange die Taliban nicht international anerkannt sind. Die Fronten im öffentlichen Diskurs sind so verhärtet, dass das derzeit überhaupt nicht zur Debatte steht. Aber die Taliban immer weiter zu isolieren, führt auch in eine Sackgasse.

Haben die Taliban denn überhaupt Interesse an einer langfristigen Entwicklungszusammenarbeit?

Das ist schwer zu beurteilen. Doch in Anbetracht der dramatischen humanitären Situation glaube ich, dass sie in Zukunft von der eigenen Bevölkerung stärker zur Verantwortung gezogen werden. Wir erklären den Taliban deshalb immer wieder: Wie funktioniert Entwicklungszusammenarbeit? Welche Prinzipien hat humanitäre Hilfe? Warum wehren wir uns gegen politische Einflussnahme? Ich habe das Gefühl, dass es zumindest zum Teil erfolgreich ist.

Jetzt spenden und Menschen in Not helfen

Das Interview führte Philipp Hedemann, freier Journalist in Berlin. Es erscheint in der Welthungerhilfe-Magazin-Ausgabe 3/2023

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