Pressestatement des Welthungerhilfe-Generalsekretärs Mathias Mogge anlässlich des „UN Food Systems Summit +2 Stocktaking Moment“
Erster UNFSS Bilanzgipfel in Rom: Politischer Wille gefragt – jetzt erst recht!
Der UNFSS Bilanzgipfel soll die Transformationsprozesse in Richtung nachhaltige und gerechte Ernährungssysteme einleiten.
Die Erkenntnis, dass unser globales Ernährungssystem gravierende Mängel aufweist, gab 2021 den Anstoß für den United Nations Food System Summit (UNFSS). Es ist klar, dass wir ohne eine grundlegende Veränderung wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten und konsumieren, die globalen Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen werden.
Ausgerufen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) sollte der als ‚Peoples Summit‘ konzipierte Gipfel diese so dringend benötigten Transformationsprozesse in Richtung nachhaltiger und gerechter Ernährungssysteme einleiten.
Zwei Jahre später war es Zeit für eine erste Bilanz. Drei Tage lang diskutierten vom 24.-26. Juli 2023 2.000 Teilnehmende aus 161 Staaten, darunter 22 Staats- und Regierungschef*innen und über 100 Ministerdelegierte, beim sogenannten UNFSS+2 Stocktaking in Rom über erreichte Fortschritte, vor allem aber bestehende Herausforderungen.
Wie bereits der UNFSS im Jahr 2021 fand auch der diesjährige Bilanzgipfel unter öffentlicher Kritik statt. Unter dem Vorwurf fehlender rechte-basierter Ansätze und Mechanismen zur Rechenschaftspflicht sowie einer zunehmenden privatwirtschaftlichen Einflussnahme hatten zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure und Netzwerke zum Boykott gegen den Gipfel aufgerufen.
Zahl der Hungernden dämpft Erwartungen
Erst wenige Wochen vor dem Treffen in Rom hatte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die neueste Zahl der Hungernden veröffentlicht: 735 Mio. Menschen waren im vergangenen Jahr chronisch unterernährt – das sind 122 Millionen mehr als noch vor der Coronapandemie 2019. Und auch andere aktuelle Ereignisse stehen exemplarisch für die Vielschichtigkeit der globalen Krisen, vor deren Hintergrund der Gipfel stattfand. Nur wenige Tage vor seinem Beginn starben in Kenia über 20 Menschen bei gewaltsamen Protesten, die auch gegen stark gestiegene Lebenshaltungskosten gerichtet waren. Gleichzeitig kündigte Russland das Schwarzmeer-Getreideabkommen einseitig auf.
So überrascht es nicht, dass die Erwartungen an das UNFSS+2 Stocktaking bereits gedämpft waren und VN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede anmahnte, dass die dringend nötige Transformation beschleunigt werden müsse. Andernfalls werden im Jahr 2030 schätzungsweise 600 Millionen Menschen, d. h. 7 % der Weltbevölkerung, trotz aller Anstrengungen immer noch Hunger leiden. Dies liegt sogar über der Anzahl von 2015, womit „kein Fortschritt bei SDG 2 erreicht werde“, so Guterres.
Im Vorfeld des Gipfels hatten 101 Staaten freiwillige Berichte zu ihren nationalen Aktionsplänen (National Pathways) – den strategischen Umsetzungsplänen zur Umgestaltung der Ernährungssysteme in ihren Ländern – eingereicht. Sie lassen jedoch nur unzureichende Rückschlüsse darauf zu, inwieweit die eingeleiteten Maßnahmen bisher tatsächlich die Situation der Menschen verbessert haben, die von den ökologischen und sozialen Folgekosten des globalen Ernährungssystems am stärksten betroffen sind.
Politischer Wille gefragt: Drei Aspekte, die jetzt ernsthaft umgesetzt werden müssen
Im Folgenden wollen wir drei Aspekte beleuchten, die in Rom vielfach diskutiert wurden, und auf deren ernsthafte Umsetzung es jetzt ankommt, wenn die benötigte Transformation noch gelingen soll.
1. Das Recht auf Nahrung zur Richtschnur machen und auf inklusive Governance setzen
Während im Vorfeld des Gipfels das Recht auf Nahrung keinen zentralen Platz auf der Agenda erhalten hatte, war es erfreulich, dass der Generalsekretär der VN, António Guterres, gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede dessen essentielle Bedeutung bei der Umgestaltung der Ernährungssysteme hervorhob: „This is a gathering about Food Systems, but it is essentially about people in it and the need to fulfill the most basic of human rights: The Right to Food.”
Außer Frage steht inzwischen auch, dass eine inklusive und partizipative Governance – also der Einbezug von Akteur*innen, die eine zentrale Rolle bei der Gestaltung unserer Ernährungssysteme spielen – für eine erfolgreiche Transformation entscheidend ist. Die angemessene Beteiligung verschiedener, gerade auch marginalisierter Akteursgruppen in der Governance der Transformation der Ernährungssysteme bleibt jedoch einer der wesentlichen Schwachpunkte der National Pathways, und auch der VN-Generalsekretär hat eingestanden, dass insbesondere der Einbezug „von Jugendlichen und indigenen Gruppen immer noch begrenzt ist".
Der Frage, wie eine inklusive und partizipative Governance-Architektur gestaltet werden muss und warum nur so das Recht auf Nahrung verwirklicht werden kann, widmeten sich Vertreter*innen von Kleinbauern- und Kleinbäuerinnenvereinigungen und Zivilgesellschaft aus Indien, Kenia und Peru, der deutschen Regierung sowie der VN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Nahrung Michael Fakhri, bei einem Side-Event am zweiten Tag des Bilanzgipfels. Dieses wurde gemeinsam von dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), der Welthungerhilfe, Intercontinental Network of Organic Famers Organisations (INOFO), der Right to Food Coalition Kenya und TMG Research gGmbH ausgerichtet.
Das Recht auf Nahrung und die zugehörigen freiwilligen Leitlinien können dafür sorgen, dass die National Pathways zu wirklichen Umsetzungsplänen werden, betonte Michael Fakhri in seinem Eröffnungsstatement. Weiter wurde deutlich, dass die sub-nationale Ebene dafür entscheidend ist und gestärkt werden sollte. Dies betrifft sowohl lokale Regierungen (z. B. Städte, Gemeinde, Kreise etc.), als auch die Förderung inklusiver Plattformen, die einen Politikdialog zur Transformation der Ernährungssysteme auf Augenhöhe ermöglichen. Gute Beispiele sind die Multiakteurs-Plattformen, wie zum Beispiel der Ernährungsrat Consial in Lima, der Hauptstadt Perus.
Auch BMZ-Staatssekretär Jochen Flasbarth hob bei seinen Schlussworten hervor, dass "inklusive Gesellschaften viel stärker sind" und betonte: "Je mehr Einbindung lokaler Gemeinschaften erfolgt, desto besser werden die Lösungen sein".
Entscheidende Schritte in Richtung einer echten inklusiven und partizipativen Governance-Architektur zu unternehmen, die zudem Silodenken überwindet und Politikkohärenz fördert, war in Rom ein vielfach geäußerter Appell. Die Realität zeigt jedoch, dass es hierfür mehr politischen Willen benötigt, denn in vielen Ländern ist an den Politikentscheidungen zur Umsetzung der National Pathways nach wie vor nur ein exklusiver Kreis an Akteur*innen beteiligt.
2. Fortschritte bei der Messbarkeit von Transformation schaffen
Um den Fortschritt bei der Transformation von Ernährungssystemen zu messen, bedarf es eines umfassenden, vergleichbaren und gleichzeitig anwendbaren Monitoring-Ansatzes. Ausgangspunkt müssen dabei bereits bestehende SDG-Indikatoren sein. Obwohl inzwischen Prozesse und Indikatoren zur gemeinsamen Nutzung entwickelt werden (z. B. Food Systems Countdown Initiative) und einzelne Staaten schon Monitoring Systeme etabliert haben, ist eine Einigung auf globaler Ebene auf gemeinsame Indikatoren noch nicht in Sicht. Diese ist jedoch von entscheidender Bedeutung, um die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen, Datenlücken zu identifizieren und mehr Verbindlichkeit herzustellen. Die Frage der Rechenschaftspflicht und Verbindlichkeit bleibt eine der großen Schwachstellen des UNFSS-Prozesses, der im Gegensatz zu anderen VN-Gipfeln keine unter den Mitgliedstaaten verhandelte Abschlusserklärung oder Vereinbarung vorsieht.
Wie steht es um die Hungersituation weltweit? Wurden Fortschritte erzielt oder sind Rückschläge zu verzeichnen? Der Welthunger-Index liefert eine umfassende Berechnung und Bewertung der globalen Hungersituation.
3. Innovative Ansätze zur Nachverfolgung und Hebelung von Finanzströmen
Im Rahmen des Bilanzgipfels wurde das Financial Flows to Food Systems Tool (3F) vorgestellt, ein innovativer Ansatz zur Verfolgung privater und öffentlicher Finanzströme im Zusammenhang mit der Transformation von Ernährungssystemen. Erste Auswertungen des 3F-Tools zeigen, dass Investitionen in langfristige Transformation hinter kurzfristiger Krisenhilfe zurückbleiben. Eine verlässliche Gestaltung der Entwicklungsfinanzierung mit langfristiger Perspektive ist jedoch für die angestrebte Umgestaltung der Ernährungssysteme unerlässlich. Eine stärkere Umsetzung des Nexus zwischen Nothilfe, Entwicklungs- und Friedensmaßnahmen (‚HDP-Nexus‘) kann dabei helfen, die Investitionen in kurzfristige Krisenhilfe auch für die langfristige Transformation nutzbar zu machen. Die Hebelung weiterer Finanzströme, wie der Klimafinanzierung, ist ebenfalls zentral. Besonders wichtig und noch zu wenig genutzt ist die Umwidmung von Subventionen zugunsten nachhaltigerer und gesünderer Produktions- und Konsumentscheidungen – diese sogenannte ‚Repurposing-Agenda‘ wurde zu Recht in zahlreichen Veranstaltungen umfassend thematisiert. Ein auf dem Gipfel wenig beachtetes Thema war das der sozialen Sicherungssysteme. Soziale Sicherungssysteme sind unabdingbar, um es Menschen zu ermöglichen, der Armutsfalle zu entkommen und produktive Akteur*innen im Ernährungssystem zu bleiben.
Transformation der Ernährungssysteme: Politischer Wille gefragt
Es bleibt viel zu tun. Alle Akteur*innen, vor allem aber die Regierungen, müssen ihre Anstrengungen verstärken, um die Transformation unserer Ernährungssysteme als wichtigen Motor für die Erreichung der SDGs zu beschleunigen. Dafür ist auch politischer Wille gefragt. Das Recht auf Nahrung muss hierbei als Richtschnur dienen. Im kommenden Jahr feiern die freiwilligen Leitlinien zu diesem zentralen Menschenrecht ihr 20. Jubiläum – ein Anlass, um an ihre Wichtigkeit zu erinnern. Eine Stärkung der subnationalen Ebene, insbesondere durch die Einbindung lokaler Regierungen und inklusiver Plattformen, ist erforderlich, um eine demokratische Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Die Förderung von und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in Partnerländern bleibt dabei zentral, da lokale Ansätze und eine starke Zivilgesellschaft die Voraussetzung dafür sind, dass subnationale und marginalisierte Perspektiven Gehör finden.