Die Klimakrise trifft vor allem Menschen, die am wenigsten zur Erderwärmung beitragen.
Anticipatory Humanitarian Action – Vorausschauende humanitäre Hilfe
Handeln auf der Grundlage von Prognosen und Vorhersagen im Vorfeld von Krisen und Katastrophen und deren unmittelbaren Auswirkungen.

Der Bedarf an humanitärer Hilfe steigt von Jahr zu Jahr. Derzeit sind mehr als 360 Millionen Menschen weltweit auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Viele dieser Menschen sind von lang andauernden Krisen und nachfolgenden Risiken betroffen. In naher Zukunft ist keine wesentliche Besserung in Sicht. Leider setzt humanitäre Hilfe meist erst dann ein, wenn viele Menschen bereits alles verloren haben. Der Ansatz der Welthungerhilfe ist es, wo immer möglich bereits auf der Grundlage von Prognosen und Vorhersagen zu handeln und einzugreifen, bevor Krisen und Katastrophen zu Hunger, Zerstörung und Tod führen.
Definition von Anticipatory Humanitarian Action
Anticipatory Humanitarian Action (AHA) – was so viel bedeutet wie „vorausschauende humanitäre Hilfe“ – ist ein innovativer Ansatz in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Es geht darum, Menschen zu unterstützen, noch bevor eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe Schäden verursacht. Durch genaue Risiko- und Bedrohungsanalysen können wir Gefahren wie etwa Extremwetterereignisse und ihre Auswirkungen immer besser vorhersagen und aufgrund dieser Frühwarnungen Maßnahmen ergreifen, noch bevor eine Katastrophe ihr volles Ausmaß erreicht hat. So wird es Menschen vor dem Eintreten der Katastrophe ermöglicht, rechtzeitig überlebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Erste Pilotprojekte der Welthungerhilfe im Bereich der vorausschauenden humanitären Hilfe wurden im Rahmen des Programms „Forecast-based Action“ zwischen 2019 und Anfang 2023 durchgeführt und umgesetzt.
Video: Anticipatory Humanitarian Action erklärt
Anticipatory Action mithilfe wissenschaftlicher Daten
Auf der Grundlage umfassender Datenanalysen arbeitet die Welthungerhilfe mit Partnern aus der Wissenschaft an der Anpassung und Anwendung von Prognosemodellen, die Katastrophen und ihre Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung abschätzen können. So lassen sich beispielsweise durch die Analyse vergangener Dürreperioden und ihrer Folgen lokale Risikofaktoren identifizieren und Frühwarnindikatoren überwachen. Bei Dürren wird zum Beispiel die Bodenfeuchtigkeit für die Ernte während der Wachstumsperiode als Indikator verwendet. Auf Basis historischer Analysen von Trockenperioden kann ein kritischer Schwellenwert festgelegt werden, der eine Dürre ankündigt.
Wird dieser Grenzwert überschritten und somit eine Frühwarnung ausgelöst, greifen vorab entwickelte Notfallpläne und die Gelder für vorausschauende Maßnahmen werden automatisch freigegeben. In diesen Notfallplänen, den sogenannten „Anticipatory Action Plans“ (AAPs), werden schon vor dem Eintreten einer Krise die Verwendung von Hilfsgeldern, Rollen und Zuständigkeiten festgelegt. Auch die Finanzierung von Hilfsmaßnahmen wird vorab mit Geldgebern, wie dem Auswärtigen Amt, vereinbart. So wird eine schnelle und effiziente Hilfe gewährleistet, noch bevor eine humanitäre Katastrophe entsteht.
Durchführung von vorausschauender humanitärer Hilfe – Schritt für Schritt
- Koordinierung mit nationalen und lokalen Akteuren (lokale Wetterdienste, Behörden für Katastrophenrisikomanagement, Gemeindevertreter*innen, NRO und UN-Organisationen, Geber*innen).
- Risiko-, Expositions- und Anfälligkeitsanalyse: Analyse, um zu verstehen, welche Gefahren bestehen, wie sie vorhergesagt und überwacht werden und wer und was durch deren Auswirkungen gefährdet ist. Dazu gehören auch das frühzeitige Erkennen von Warnzeichen und das, was aus früheren Katastrophen gelernt wurde.
- Wirkungsbasierte Vorhersage und Festlegung des „Triggers“: Ausführen einer wirkungsbasierten Vorhersage (eine Analyse früherer Katastrophen und historischer Schadensdaten), um einen Schwellenwert, den so genannten Trigger, festzulegen. Beispiel: ein bestimmtes Maß an Bodentrockenheit in einer Region, in der es in der Vergangenheit bereits zu schweren Dürren gekommen ist, oder wenn der Wasserstand eines Flusses auf einem von der Gemeinde verwalteten Pegelmesser einen „Warnwert“ erreicht, ab dem vorausschauende Maßnahmen zu ergreifen sind.
- Entwicklung lokal angepasster Notfallpläne (engl. Anticipatory Action Plans oder AAPs) und Auswahl relevanter vorausschauender Maßnahmen. Zum Beispiel Geldtransfers, Verteilung von Hilfspaketen vor dem Einsetzen der Überschwemmungen oder Unterbringung in sicheren Unterkünften bei drohendem Hochwasser.
- Validierung und festgelegte Finanzierung der Notfallpläne durch alle beteiligten Akteure, um die Eigenverantwortung und die erforderlichen Mittelbei einer Aktivierung der Pläne durch Geber zu sichern.
- Beobachtung von Gefahren und Triggern: Regelmäßige Beobachtung von Gefahren- und Triggerinformationen, einschließlich Klima-, Wetter- und Gefahreninformationen in unterschiedlichen Zeitrahmen (z. B. saisonale Klimavorhersagen, wöchentliche Wettervorhersagen und satellitengestützte Daten wie Bodenfeuchtemessungen, die zur Vorhersage von Dürren verwendet werden).
- Freigabe von Finanzmitteln und Aktivierung der Notfallpläne: Wenn der Schwellenwert überschritten wird, werden die Notfallpläne ausgeführt, die im Voraus bereitgehaltenen Finanzmittel freigegeben und vorausschauende Maßnahmen durchgeführt, um die Menschen vor den unmittelbaren und langfristigen negativen Folgen der drohenden Gefahr zu schützen. Zum Beispiel muss sichergestellt sein, dass Kinder weiterhin sicheren Zugang zu Nahrung, Bildung und medizinischer Versorgung haben.
- Beobachtung und Evaluation: Nach einer Aktivierung, müssen die Schwellenwerte und das Trigger-Modell hinsichtlich ihrer Effektivität bewertet, die Folgen der eingetretenen Gefahrenereignisses mit den Prognosen verglichen und wie Relevanz der umgesetzten vorausschauenden Maßnahmen evaluiert werden. Die Ergebnisse und Erfahrungen fließen in die nächsten Analysen ein und Notfallpläne werden bei Bedarf angepasst.
Die Welthungerhilfe ist die erste deutsche Nichtregierungsorganisation, die sich im Bereich Anticipatory Humanitarian Action (Vorausschauende humanitäre Hilfe) engagiert. Der Ansatz des vorhersagebasierten Handelns in der humanitären Hilfe ist ein wichtiger Baustein unserer Arbeit. Zusammen mit Maßnahmen zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der lokalen Bevölkerung und einer gründlichen Katastrophenvorsorge- und Nothilfeplanung unterstützt er unser Bestreben, die Auswirkungen von Krisen, Katastrophen und daraus resultierenden Konflikten abzumildern und so die lokale Bevölkerung vor Notsituationen zu schützen.
"WAHAFA": Welthungerhilfe Anticipatory Humanitarian Action Facility
In Zukunft will die Welthungerhilfe gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen diesen humanitären Paradigmenwechsel hin zu mehr vorausschauendem Denken und Handeln vorantreiben. Die Welthungerhilfe Anticipatory Humanitarian Action Facility (WAHAFA) zielt darauf ab, Katastrophenrisiken zu identifizieren und zu analysieren, die Entwicklung von lokal geleiteten Mechanismen für vorausschauende humanitäre Hilfe zu unterstützen und die Finanzierung zur Umsetzung dieser Mechanismen zu sichern.
WAHAFA wird die aktive Teilnahme deutscher NGOs und ihrer lokalen Kooperationspartner an vorausschauender humanitärer Hilfe fördern, indem sie den Zugang zu allen benötigten Säulen erleichtert: Zum einen werden die teilnehmenden Organisationen eingeladen, sich am Austausch zu beteiligen. Zum anderen erhalten sie finanzielle und konzeptionelle Unterstützung bei der Erstellung von wissenschaftlichen Gefahrenvorhersagemodellen und „Anticipatory Action Plans“. Damit verbunden ist auch eine gesicherte Finanzierung der vorab vereinbarten vorausschauenden Maßnahmen im Falle einer Aktivierung des wissenschaftlichen Frühwarnsystems.
Das Video zeigt die Ergebnisse aus dem vorangegangenen Forecast-based Action-Programm der Welthungerhilfe:
Versicherung gegen die Gefahren des Klimawandels
Im Rahmen des „Anticipatory Action“-Ansatzes kann die Bereitstellung von Mitteln zur Finanzierung von Katastrophenschutzplänen durch eine Klimarisikoversicherung ergänzt werden. Dabei werden vorher festgelegte Versicherungsleistungen ausgezahlt, wenn Frühwarnindikatoren vertraglich festgelegte kritische Schwellenwerte erreichen.
Weil die Versicherungsprämien sehr hoch sind, werden versicherungsbasierte Ansätze jedoch nur bei relativ seltenen extremen Dürren eingesetzt. Als Mitglied des Start Network und aktive Teilnehmende in dessen Komitees und Expertengruppen unterstützt die Welthungerhilfe den Versicherungsansatz der African Risk Capacity (ARC) Replica, welche ARCs gemeinsame Katastrophenrisikoversicherung afrikanischer Staaten zivilgesellschaftlich ergänzt.

...und Katastrophen mit vorausschauender humanitärer Hilfe zuvorkommen.
Vorausschauende humanitäre Hilfe: Effizienter Einsatz von Geldmitteln
Vorausschauende humanitäre Hilfe kann eine der effizientesten Arten der Hilfeleistung sein – denn je weniger Menschen unter den Folgen einer Katastrophe leiden müssen, desto weniger Menschen muss aus akuter Not geholfen werden. Das rettet mehr Menschenleben und spart gleichzeitig Geld, welches wiederum in weitere humanitäre Hilfsprojekte fließen kann. Wenn NGOs es schaffen, in Zukunft mindestens 25 Prozent aller Katastrophen mit vorausschauender humanitärer Hilfe zuvorzukommen, würde das einen immensen Effizienzgewinn bedeuten.
In das noch recht neue Feld der vorausschauenden humanitären Hilfe fließen derzeit aber nur rund zwei Prozent der von den Geberstaaten zur Verfügung gestellten humanitären Mittel. Das ohnehin schon knappe Geld für humanitäre Hilfe wird dringend für die Unterstützung akuter Bedarfe benötigt. Durch die Ausweitung des vorausschauenden humanitären Handelns möchten wir Menschen dabei unterstützen, sich vor Katastrophen schützen zu können und so dazu beitragen, den Teufelskreis der immer weiter steigenden humanitären Bedarfe zu brechen.
Es ist nicht nur eine finanzielle Frage
Die Vorteile einer vorausschauenden humanitären Hilfe gehen über die finanzielle Effizienz hinaus. Durch die Minimierung von Verlusten und Schäden hilft sie den Gemeinschaften, kontraproduktive Bewältigungsstrategien zu vermeiden, wie z.B. den Verkauf von Land und Eigentum, den Schulabbruch von Kindern, die Aufnahme teurer Kredite oder das Auslassen von Mahlzeiten. Dies kann sich langfristig positiv auf Ernährung, Bildung, Gesundheit und die allgemeine Widerstandsfähigkeit auswirken.
Vorausschauende Maßnahmen, wie die Bereitstellung von Bargeld vor einer Dürre oder vorbeugende Maßnahmen vor einer Überschwemmung, können Lebensgrundlagen schützen und Leben retten. Da wir heute in der Lage sind, Gefahren genau vorherzusagen, sind vorausschauende Maßnahmen nicht nur kosteneffizient, sondern auch eine würdevolle und humane Art, Gemeinschaften zu unterstützen, ihr Wohlergehen zu schützen und ihre Zukunft zu sichern.