Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Seiteninhalt springen Zum Footer springen

  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 12/2023
  • Dr. Theo Rauch

Buchbesprechung: Gegengewicht zur Agrarlobby?

Der renommierte Journalist und Buchautor Bartholomäus Grill hat eine fulminante und informative Anklageschrift gegen den agro-industriellen Komplex geschrieben.

Industrielle Landwirtschaft: Produktivitätssteigerung auf Kosten der planetaren Gesundheit. © FAO/Alessia Pierdomenico

Bartholomäus Grill: Bauernsterben – Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört. München, 2023. Siedler Verlag. 235 Seiten.

Im neuesten Buch des einstigen ZEIT- und SPIEGEL-Korrespondenten Bartholomäus Grill geht es um weit mehr als das allmähliche Aussterben eines Berufsstandes. Auch geht es um mehr als ein Klagelied über den Verlust einer Lebensweise. Zur Disposition steht – der Untertitel verrät es – nicht mehr und nicht weniger als die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen: eine Form des technologischen Fortschritts, die weder Rücksicht nimmt auf die Natur noch auf die Existenzen für jene weltweit zwei Milliarden Menschen, die primär von der Landwirtschaft leben. Gegenstand der Anklageschrift von Grill ist die These, dass die globale Agrarindustrie mit Unterstützung der Agrarpolitik in den meisten Staaten, nicht zuletzt der Europäischen Union, einen Kurs verfolgt, der weder ökologisch nachhaltig noch sozial inklusiv ist.

Es lohnt, sich die Charakteristika jener globalen Agrarwirtschaft, die Gegenstand von Grills Kritik ist, in Erinnerung zu rufen. Deren Wesensmerkmale:

Es handelt sich also um ein System, dessen enorme Produktivitätssteigerungen mit massiven Nachteilen für den ärmeren Teil der Menschheit, auf der Erzeuger- wie auch der Verbraucherseite, für die Tierwelt und für die Natur insgesamt verbunden sind. Das System ist seit Jahrzehnten Gegenstand heftiger Kontroversen. Den meisten Leser:innen dieses Online-Journals sind diese Sachverhalte nicht unbekannt. Auch die PR-Abteilungen der großen Agrarkonzerne und die Bauernverbände sind mit diesen Vorwürfen wohlvertraut. Die Politik erzwingt einige bescheidene Korrekturen. Alternative agrarwirtschaftliche Konzepte machen allmählich Fortschritte. Doch die von Bartholomäus Grill kritisierte, auf hohem Produktivitätsniveau zerstörerische Agrarwirtschaft schreitet weiter voran. Die jüngste Glyphosatentscheidung der EU, die das biodiversitätsvernichtende Pflanzengift für weitere zehn Jahre erlaubt, zeugt davon.

Vor diesem aktuellen Hintergrund ist das Buch von Bartholomäus Grill zu sehen. „Bauernsterben“ leistet einen wichtigen aktuellen Beitrag zu einer hochrelevanten Kontroverse. Das Buch fasst die wichtigen Argumente, anschaulich mit Beispielen unterlegt, in populärer journalistischer Sprache für ein breites Publikum zusammen. Für Insider der Debatte wird es vielleicht nicht viele neue Einsichten bringen. Dafür aber eine nützliche Grundlage für eine wirksamere Öffentlichkeits- und politische Bildungsarbeit. Die Verfechter der Agrarindustrie wird es vermutlich nicht überzeugen. Adressat:innen sind wohl eher jene Teile der agrarpolitisch interessierten Öffentlichkeit, die oft unsicheren kritischen Konsument:innen, die zwischen Argumenten beider Seiten hin und hergerissen sind und unbefriedigt von der Oberflächlichkeit einschlägiger Talkshow-Debatten zu Bett gehen.

Grill ist in mehrfacher Hinsicht ein Kenner der Materie: Als Sohn einer oberbayerischen Bauernfamilie beherrscht er nicht nur das Handwerk des Melkens, sondern hat auch den Niedergang des elterlichen Hofes hautnah erlebt. Als langjähriger Afrika-Korrespondent ist er mit der dortigen kleinbäuerlichen Landwirtschaft und deren Krisen vertraut. Seine Recherchen haben ihn aber auch nach Mindanao, nach Amazonien und in die Zentren der Agrarindustrie im amerikanischen Mittleren Westen geführt. Er kennt sich also aus. Und er leugnet nicht einen Hauch von Nostalgie für die bäuerliche Kultur und Lebensform.

Rundum-Perspektive

Sein Buch bietet folglich einen Zugang zur Problematik aus verschiedensten Perspektiven. Die ersten Kapitel erzählen anschaulich vom ländlichen Strukturwandel im Nachkriegsdeutschland am Beispiel des Niedergangs des elterlichen Hofes. Dem folgt eine kritische Darstellung der europäischen Agrarpolitik, die diesen Niedergang erst bremste und später beschleunigte. Wie massiv diese Politik von der Agrarlobby beeinflusst wird, ist Gegenstand einer speziellen Analyse. Zwei weitere Kapitel widmen sich den Themen der Förderung des Energiepflanzenanbaus und der weltweiten Degradierung der Böden. In den Afrikakapiteln geht es überwiegend um Reportagen aus Katastrophenregionen, um Dürre, Bevölkerungswachstum, Hunger. Das Thema „Landgrabbing“ wird an Beispielen aus Madagaskar und Äthiopien, aber auch aus dem Ostdeutschland der Nachwendejahre veranschaulicht.

Die eindringliche Darstellung der Folgen des wachsenden Fleischkonsums für Tierwohl, Regenwald und Klima zwingt auch problembewusste Leser, sich einmal mehr mit dem eigenen Konsumverhalten auseinanderzusetzen. Die Reportage über die Gigantomanie in der US-amerikanischen Landwirtschaft vermittelt einen plastischen Eindruck darüber, was wir uns unter „industrieller Agrarproduktion“ vorstellen müssen. Kein Kapitel aber belegt eindrucksvoller die fatalen Folgen der rasant vorangetriebenen Ausweitung der Anbau- und Weideflächen für Natur und Mensch als jenes über die Expansion der Soja- und Rindfleischproduktion an der Regenwaldfront in Brasilien. Weitere Berichte gelten der Landrechtsproblematik, der Monopolisierung der Saatgutversorgung und der grünen Gentechnik.

Das „Bauernsterben“ selbst wird von Grill primär am deutschen Beispiel thematisiert. Hierzulande lässt es sich freilich trefflich darüber streiten, ob es wirklich so problematisch ist, dass Menschen wie der Autor heute wichtige Bücher über den Niedergang der bäuerlichen Landwirtschaft schreiben, anstatt mit eigener Hand Kühe zu melken.

Unterbelichtet bleibt hingegen das Bauernsterben in all jenen Ländern des Globalen Südens, wo es aufgrund von Massenarbeitslosigkeit keine außerlandwirtschaftlichen Erwerbsperspektiven gibt. Dort stellt das unter dem Motto von „Agrarmodernisierung“ oder „ländlichem Strukturwandel“ auch von unseren Entwicklungsagenturen angestrebte Bauernsterben eine echte Bedrohung für die Existenzgrundlage jener Familien dar, die dem Fortschritt weichen müssen. All jene, für die das Prinzip „wachse oder weiche!“ meist nicht ein Weichen in besser bezahlte Jobs bedeutet, sondern in das Elend städtischer Slums oder in Richtung Mittelmeer. Dieses Thema verdient ein eigenes Kapitel in der zweiten Auflage.

In seinem zukunftsorientierten „Was tun?“-Kapitel muss Grill sich nicht der Mühe unterwerfen, eigene innovative Ideen zu entwickeln. An solchen mangelt es nicht. Sie werden auch mit Erfolg realisiert. Der Autor belegt das mit Beispielen aus aller Welt. Grill plädiert zugunsten einer Agrarwende basierend auf kleinbäuerlicher und nachhaltiger Landwirtschaft, Nutzung und Weiterentwicklung von lokalem Wissen, an den jeweiligen lokalen Kontext angepasste Technologien, Ernährungssouveränität auf Grundlage regionaler Lieferketten sowie Vielfalt statt Monokulturen. Von einer Beschränkung auf Öko-Farming ist nicht die Rede. Grill geht vielmehr davon aus, dass eine der steigenden Nachfrage nach landwirtschaftlichen Gütern gerecht werdende globale Agrarwende nicht allein auf Basis herkömmlichen lokalen Wissens zu schaffen ist. Für kreative Produktionsmethoden wie umweltverträgliches, ressourcensparendes „Smart Farming“ zeigt er sich offen.

Unverzichtbare Voraussetzung für solch eine nachhaltigkeitsorientierte Agrarwende ist für ihn eine Änderung der EU-Agrarpolitik zugunsten einer gemeinwohl- bzw. ökologischen Subventionierung, einer Steuerpolitik, welche die wahren Umweltkosten einpreist und einer flächenbezogenen Begrenzung der Tierhaltung. Fehlen nur die politischen Mehrheiten zur Durchsetzung solcher altbekannten Forderungen.

Anklageschrift

Grills Buch ist eine Anklageschrift. Eine Anklage gegen die Produktionsschlacht der „Agrarkrieger“, gegen die „Grüne Revolution“. Hierfür liefert er reichhaltiges und überzeugendes Beweismaterial. Dabei bleibt leider wenig Raum für Differenzierungen und Ambivalenzen. Durch die Fokussierung auf belastende Indizien entsteht auch ein schiefes Bild der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in weiten Teilen Afrikas: Die afrikanischen Bäuerinnen und Bauern kommen fast nur als Opfer vor. Opfer von Dürrekatastrophen, Land-Grabbing, korrupter Politik. Was bei solch katastrophistischen Erzählungen untergeht: Dass diese Bäuerinnen und Bauern es in den vergangenen sechs Jahrzehnten trotz aller Widrigkeiten und mit Hilfe einer selektiven Übernahme agrartechnischer Neuerungen geschafft haben, die Nahrungsmittelproduktion in Einklang mit dem Bevölkerungswachstum etwa zu verdreifachen. Dass sie damit trotz Importkonkurrenz meist über 90 Prozent zur Nahrungsmittelversorgung der afrikanischen Bevölkerung beigetragen haben.

Der Duktus der Anklageschrift führt teilweise auch zum Vortrag widersprüchlicher Thesen. So sind die meisten Kapitel von der Story einer generellen Knappheit der natürlichen Ressourcen geprägt. Von einer Welt, in der man zwischen „Teller und Tank“ entscheiden muss, in der Exportfrüchte stets zulasten der Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln gehen. Erst auf den letzten Seiten erfährt man in einem anderen Zusammenhang, dass Afrikas landwirtschaftliche Ressourcen noch untergenutzt sind und dass dies nicht zuletzt der Überflutung der afrikanischen Städte mit Agrarprodukten seitens der globalen Agrarindustrie geschuldet ist. Da fragt der kritische Laie – und auch der Anwalt der Verteidigung – natürlich: „Was nun? Handelt es sich nun um ein Produktions- oder um ein Absatzproblem? Um Ressourcenverknappung oder fehlende bzw. fehlgesteuerte Nachfrage?“ Die einfache, dem Autor nicht unbekannte, aber für eine Anklageschrift wohl zu differenzierte Antwort ist: Mancherorts trifft eher das Eine, andernorts eher das Andere zu. Die meisten bäuerlichen Familien Afrikas leiden aber mehr unter mangelnder Nachfrage und niedrigen Erzeugerpreisen als unter dem Zwang, ihre Nahrungsmittelproduktion zugunsten von Cash Crops einschränken zu müssen. Nicht wenige wären froh, wenn sie mit Energiepflanzen ein wenig Bargeld verdienen könnten.

Trotz derartiger, für Wutausbrüche nicht unüblicher, argumentativer Schwächen gilt: Bartholomäus Grill gibt mit seiner pointiert und mit journalistischer Brillanz formulierten, anschaulich und faktenreich belegten Anklage der Kritik an fatalen agrarpolitischen Irrwegen eine klare und weit – auch bei den nicht schon „Bekehrten“ – vernehmbare Stimme. Es ist dem Autor – und uns – zu wünschen, dass das Buch die öffentliche Debatte bestimmt und so ein Gegengewicht zum Einfluss der Agrarlobby erzeugt. Damit in Zukunft eine Bundesregierung nicht mehr der weiteren Verbreitung umweltzerstörender Pflanzengifte durch Stimmenthaltung in Brüssel Tür und Tor öffnet.

Dr. Theo Rauch Zentrum für Entwicklungsländerforschung, Geographisches Institut der FU Berlin

Dr. Theo Rauch ist außerplanmäßiger Professor am Zentrum für Entwicklungsländerforschung am Geographischen Institut der FU Berlin und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema „Ländliche Entwicklung“.

Das könnte Sie auch interessieren