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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 12/2023
  • Paola Sánchez Méndez

Dekolonisierung des Ernährungssystems über Nichtregierungsorganisationen

NRO spielen eine zentrale Rolle, um aus dem Erbe ungleicher Machtverhältnisse gerechtere und menschenwürdigere Strukturen vom Acker bis zum Teller zu schaffen.

Lichtspektakel zum Welternährungstag 2023 in Santiago de Chile, organisiert von der FAO und über YouTube in ganz Lateinamerika verbreitet. © Alan Feret FAOAmericas via Flickr

In diesem Artikel soll die Schlüsselrolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Durchbrechung kolonialer Macht- und Gewaltstrukturen im Welternährungssystem untersucht werden, also die zentrale Rolle, die diese NRO spielen, um ein gerechteres und menschenwürdigeres Ernährungssystem zu schaffen – von der Produktion bis zur Verteilung der Ressourcen. Die Fragestellung der Recherche lautet: Welche Bedeutung hat die Förderung von Dekolonisierungsprozessen durch NRO auf globaler Ebene im Ernährungssystem?

Die FAO definiert Ernährungsunsicherheit als einen "Mangel an regelmäßigem Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Nahrung für ein normales Wachstum und Entwicklung sowie für ein aktives und gesundes Leben". Sie weist darauf hin, dass "dies auf die mangelnde Verfügbarkeit von Lebensmitteln und/oder den Mangel an Ressourcen zur Beschaffung von Lebensmitteln zurückzuführen sein kann" (FAO, 2013). Dies sind die Leitplanken für die Arbeit von NRO im Ernährungssektor. Sie vermitteln jedoch nicht, wie die kolonialen Verhältnisse aussehen, unter denen Lebensmittel um den Preis von Ausbeutung von Arbeitskräften oder der Umwelt produziert und konsumiert werden.

Das globale Lebensmittelsystem birgt eine Reihe von Widersprüchen und Herausforderungen, zu denen auch die Ungleichheit in der Lebensmittelproduktion und -verteilung gehört. Große Agrarkonzerne kontrollieren gewaltige Landflächen und beherrschen die Wertschöpfungsketten sowie die Fähigkeit der Menschen, einen gerechten Zugang zu ausreichenden und nahrhaften Lebensmitteln zu erhalten.

Dieser Artikel versucht zu beleuchten, wie wichtig es für NRO ist, mit solchen Formen der Macht und der sozialen und ökologischen Gewalt in einem kolonialen kapitalistischen System zu brechen, insbesondere bei ihrer Arbeit im Nahrungsmittelbereich.

NRO tragen wesentlich dazu bei, die mit dem globalen Ernährungssystem verbundenen Probleme einzudämmen, z.B. durch humanitäre Beiträge, Unterstützung von Gemeinschaften oder Projektfinanzierungen. Die Interessen, an denen sich diese Organisationen orientieren, sind jedoch oft problematisch: Viele von ihnen erhalten Gelder von großen Konzernen und von Regierungen, die sich nicht immer für den Erhalt der Umwelt einsetzen. Dies kann sie in ihrer Fähigkeit beeinträchtigen, sich mit den systemischen und strukturellen Wurzeln des globalen Ernährungssystems auseinanderzusetzen, oder gar den Blick auf sie verstellen.

Die Tatsache, dass die NRO zu einem historischen Zeitpunkt gegründet wurden, als ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit von den Kolonialmächten erlangten, verleiht ihnen eine wichtige Verantwortung, die kolonialen Prozesse nicht zu begünstigen oder fortzusetzen, welche an der Wurzel vieler aktueller Formen von Übergriffen liegen, sowohl im Ernährungssystem als auch in den sozialen Beziehungen auf allen Ebenen.

Kolonialismus lässt sich als ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis verstehen, das sich von den kapitalistischen Zentren zu den Gebieten entwickelte, die gezwungen wurden, kapitalistische Peripherien zu werden. Doch trotz der Annahme, dass der Kolonialismus in peripheren Regionen wie Lateinamerika oder Afrika beendet ist, bestehen innere Mechanismen kolonialer Strukturen fort. Sie halten die koloniale Vormachtstellung über die Gesellschaft, die Natur oder die Ernährung aufrecht. Ein Beispiel hierfür ist "das internationale System der geistigen Eigentumsrechte auf der Grundlage von Patenten und Sortenschutz, das indigenen Bauern die genetische Vielfalt entzieht, die ihre Gemeinschaften über Jahrtausende geschaffen und kostenlos geteilt haben" (Agricultural Justice Project, 2023).

Weitere Beispiele liefern die Ausbeutung von Wanderarbeitern oder Landlosen in der Landwirtschaft, die unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen arbeiten müssen. In den USA sind sieben der zehn am schlechtesten bezahlten Tätigkeiten im Lebensmittelsektor anzutreffen (Patel 2020). Darüber hinaus – und das ist charakteristisch für ein kapitalistisches System, das auf Überproduktion basiert – wird Landwirtschaft hochindustrialisiert in Monokulturen betrieben, deren Pestizide, Herbizide und Chemiedünger der menschlichen Gesundheit und den Ökosystemen Schaden zufügen.

Gleichzeitig schlägt UN-Generalsekretär Antonio Guterres Alarm, dass "die Ära der globalen Erwärmung vorbei ist und die Ära des globalen Überhitzens begonnen hat". Warnend ergänzt der ehemalige Minister für Wasser und Wälder der Côte d'Ivoire und Präsident der Vertragsstaatenkonferenz COP15 des UN-Übereinkommens zur Bekämpfung der Wüstenbildung, Alain-Richard Donwahi: "Die Welt wird wahrscheinlich mit großen Störungen bei der Nahrungsmittelversorgung konfrontiert sein, lange bevor die Temperaturen die Schwelle von 1,5°C erreichen. Wir befinden uns vermutlich an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, an einem Kipppunkt in den sozio-ökologischen Verhältnissen auf unserem Planeten".

Hier kommt der Wirtschaftswissenschaftler Raj Patel ins Spiel, der feststellt: "Das Ernährungssystem muss über die Lieferketten hinaus verstanden werden, denn es ist in Wirklichkeit die Gesamtheit aller miteinander verknüpften Elemente, die es überhaupt erst ermöglichen (Patel, 2020). Nach Patel ist es wichtig zu verstehen, dass "Hunger nicht durch Nahrung beseitigt wird, denn Hunger ist immer ein Resultat einer langen Geschichte von Ausbeutung und Verelendung". Daher könne man Armut nicht dadurch lösen, dass man "Brosamen vom Tisch gibt". Es gehe folglich "um das Gesamtpaket, und nicht nur Überlebensprogramme, sondern um das Überleben bis zur Revolution" (Patel, 2020).

Ernährungssouveränität fördern

NRO sollten daher, wenn sie auf eine Dekolonisierung hinarbeiten wollen, die Notwendigkeit der zunehmenden Ernährungssouveränität hochhalten und verfolgen. Das heißt, den Zugang zu Nahrungsmitteln durch lokale Produktion zu gewährleisten und nicht durch den Erwerb von Nahrungsmitteln in kommerziellen Handelsketten, wo sie eine Ware sind.

Dafür sind NRO aber meist nicht gut aufgestellt. So hat das Center for Global Development festgestellt, dass betroffene Bevölkerungsgruppen in NRO nur unzureichend vertreten sind, weil deren Vorstände dem administrativen Management und der Einwerbung von Spenden mehr Bedeutung beimessen als dem Sachverstand im Feld (Rosa und Sáez, 2021). Dies schränkt die Organisationen nicht nur in ihrer Reaktionsfähigkeit und Entscheidungsfindung in Krisen ein, sondern unterbindet auch die Nähe zu den betroffenen Gemeinschaften. Dadurch entfällt auch die Grundlage für eine wirksame Evaluierung der Arbeit, da den Organisationen die Perspektive für eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen, patriarchalischen oder kolonialen Handlungsweisen abgeht.

In diesem Sinne impliziert Dekolonisierung, dass humanitäre Helfer selbst die Position der "Entwicklungsmissionare" aufgeben. Diese zeichnet sich durch einen stark individualistischen Ansatz aus, der darauf basiert, Betroffenen "Wohlfahrt" als eine Form der persönlichen Selbstverwirklichung zu bringen, und nicht aus Gerechtigkeit. Zugleich wird vermieden, die  strukturellen kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen zu kritisieren und zu verändern.

Außerdem sollten NRO sich stärker mit sozialen Bewegungen verbinden als mit großen Unternehmen – nicht nur in Bezug auf die Finanzierung, sondern auch in Bezug auf ihre Mission, ihre Vision und ihre Entscheidungen. Noch besser ist es, wenn NRO direkt aus diesen sozialen Bewegungen hervorgehen, wie etwa das Agricultural Justice Project.

Eine wichtige Initiative von AJP bestand darin, Zertifizierungsstandards für Ernährungsgerechtigkeit in Frage zu stellen. Dafür organisierte AJP internationale Begegnungen zu ökologischer Landwirtschaft und fairem Handel, wie z. B. die IFOAM Organic Trade Conference in Bangkok, Thailand, um die Zusammenarbeit zwischen der Bio- und der Fair-Trade-Bewegung zu fördern und die Stimme und Beteiligung indigener Völker zu stärken.

Es besteht auch ein Bedarf, für die Verbreitung von Informationen zu sorgen, und zwar nicht nur an eine Gruppe, die sich für dieses Thema schon interessiert, sondern an die gesamte Bevölkerung in verschiedenen Zusammenhängen: "Wie kann man die Menschen dazu bringen, sich für die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu interessieren, die vom Acker bis zum Bauernhof, von der Verarbeitung bis zum Vertrieb, vom Einzelhandel bis zu den Konsumenten und Gruppen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, bestehen" (Whose Voice is Missing).

Es sollen gar nicht alle Unternehmen oder Konzerne im Lebensmittelsektor verteufelt werden. Doch es geht darum, dass lokale Unternehmen näher an die Landwirte rücken, um die Zwischenhändler zu umgehen, die die Preise in die Höhe treiben und die Bezahlung der Landwirte schmälern. "Whose Voice Is Missing" ist ein öffentliches Bildungsprojekt, das sich auf bürgernahe Lösungen für Ungleichheit und Ungerechtigkeit konzentriert, wie etwa "eine verzerrte Machtdynamik und eine Kultur der Spaltung sowie die Priorisierung von Profit über Menschen, Tiere und den Planeten" (Whose Voice is Missing).

Wo NROs ebenfalls ansetzen können, ist die bessere Sichtbarkeit von Produktion, Verpackung, Transport, Verbrauch und sogar Entsorgung von Lebensmitteln auf internationaler Ebene, damit sich der Fokus von Profitabilität in Richtung Nachhaltigkeit verschiebt. So könnte gezeigt werden, wie "eine Frucht, die unter der argentinischen Sonne wächst und geerntet wird, nach Thailand geschickt wird, wo sie konserviert, verarbeitet und vakuumverpackt wird" (Moyano, 2020). Die Frucht ist also auf die andere Seite der Erdkugel gereist, nur um verpackt zu werden.

Anschließend "reist diese Frucht in die USA, wo sie in einer großen Supermarktkette verkauft wird. Jemand kauft sie und öffnet die Verpackung, noch bevor der Parkplatz verlassen wird, um zweimal in die vier Birnenstücke darin zu beißen. Die leere Verpackung landet in einem Mülleimer, das Auto wird bestiegen und fährt weg" (Moyano, 2020).

Schließlich sollten sich NRO in einer Zeit historischer Höchstpreise für Lebensmittel für die Förderung von Agrarwenden weg von der industriellen Massenproduktion einsetzen. Und hin zu Reformen, die nach den Worten von Jaime Amorim, dem politischen Koordinator von Via Campesina Südamerika, "technische Unterstützung, biologisches Saatgut, und die Produktion von biologischen Betriebsmitteln gewährleisten".

Wohl müssten Nahrungsmittelproduktion und das Welternährungssystem auf die gegenwärtige und künftige Nachfrage reagieren. Doch bisher haben "unzählige staatliche und internationale Maßnahmen insgesamt nur dazu geführt, dass bei den Landwirten weniger ankommt, während die Menschen, die Nahrungsmittel kaufen müssen, mehr bezahlen".

Systemwende

Das wahre Anliegen sollte generationsübergreifend ein System sein, das auf die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Regenerationsfähigkeit des Planeten abgestimmt ist, statt auf die Profitabilität eines industrialisierten Systems des massiven und internationalisierten Lebensmittelkonsums, ohne Rücksicht auf Verschmutzung, Verschwendung, Transportwege und gesundheitliche Folgen dieser Prozesse.

Das bedeutet nicht, den Beitrag von NRO-Projekten der Ernährungssicherheit in den vergangenen Jahrzehnten zu diskreditieren. Es geht vielmehr darum, eine breitere Komplementarität von Sicherheit und Ernährungssouveränität durch die Veränderung ungleicher Machtverhältnisse zu fördern. So gewinnen NRO-Mitarbeiter nicht nur einen größeren Handlungsspielraum bei der Umsetzung von Projekten, sie können sich auch für die Autonomie der Gemeinschaften einsetzen.

Zur Dekolonisierung der NRO-Arbeit gehört auch die Bekämpfung jeglicher Formen von Machtmissbrauch, die das kapitalistische System gegen Bauern, Frauen, die Umwelt und Kinder ausübt – jene Gewalt, die das neoliberale Modell seit Jahrzehnten hervorbringt. Ob in rechtlicher, medialer, bildungspolitischer oder sozialer Hinsicht: für die Mobilisierung oder Aktionen der Solidarität ist es wichtig zu verstehen, dass das Schlachtfeld gegen den agroindustriellen Komplex die ganze Welt umfasst und Verbündete aus allen Bereichen sich zusammentun müssen.

 

Paola Sánchez Méndez BA in International Relations, UNAM

Die Autorin ist mexikanische Aktivistin und Internationalistin mit einem BA in Internationalen Beziehungen von der Fakultät für Politik- und Sozialwissenschaften der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Sie ist Mitglied der Gruppe für Umweltanalyse (GAA) bei Tejiendo Organización Revolucionaria (TOR). Ihre Forschungsinteressen sind sozio-ökologische, Energie- und Sicherheitsfragen in Lateinamerika und der Karibik, in denen sie zwei Artikel veröffentlicht hat.

Literatur:

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