Milanovic: Das Wachstum der Einkommen hat sich nach Asien verschoben
Der Ökonom und Ungleichheitsforscher hat neu gerechnet. Bis zur Pandemie nutzte die Globalisierung vor allem den Ärmsten in Asien – während die Einkommen im Westen stagnieren. Und jetzt?
Eine starke Ungleichheit in oder zwischen Gesellschaften hat erwiesenermaßen negative Auswirkungen auf langfristiges Wirtschaftswachstum, sozialen Zusammenhalt und politische Stabilität. Nicht zufällig fand deshalb das Thema Ungleichheit auch seinen Niederschlag in den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Ziel 10 ist überschrieben: „Ungleichheit in und zwischen Ländern reduzieren“.
Zu den weltweit führenden Ungleichheitsforschern und Einkommensverteilung zählt ohne Zweifel der Ökonom Branko Milanovic. Milanovic, lange Jahre in der Forschungsabteilung der Weltbank und heute Gastprofessor an der City University of New York sowie Forscher am Stone Center on Socio-economic Inequality, hat Anfang Dezember eine neue Studie vorgelegt, die wir wegen seiner bemerkenswerten Ergebnisse im Folgenden (und mit freundlicher Genehmigung des Autors) in Teilen zusammenfassen: The Three Eras of Global Inequality, 1820-2020, with the Focus on the Past Thirty Years.
In dem Papier geht es um eine Schätzung der globalen Ungleichheit in drei Zeitabschnitten: zwischen 1820 und 1980, Ergebnisse bis 2013 mit einer Neubewertung, und neue Schätzungen bis 2018. Darüber hinaus wagt Milanovic nur eine vorsichtige Prognose. Globale Ungleichheit definiert Milanovic als die Ungleichheit der Realeinkommen zwischen den Bürgern der Welt. Sie hat danach zwei Komponenten: a) die Ungleichheit zwischen den Ländern, die die Ungleichheit zwischen den (nach Bevölkerung gewichteten) mittleren Ländereinkommen darstellt, und b) die Ungleichheit innerhalb eines Landes, also der bevölkerungsgewichteten Summe aller nationalen Ungleichheiten.
Ungleichheit wird häufig mit dem Gini-Index (1) gemessen, so auch von Milanovic bei einer ersten Betrachtung der drei Epochen der globalen Ungleichheit.
Abbildung: Geschätzte globale Einkommensungleichheit 1820-2018
Quelle: Milanovic, S.3
Die erste Epoche von 1820 bis 1950 war gekennzeichnet durch eine stetig wachsende Ungleichheit; Ausnahme war die Zwischenkriegszeit. Die Ungleichheit zwischen den Ländern stieg während des gesamten 19.Jahrhunderts und begann erst am Ende des 20. Jahrhunderts zu sinken. Diese Unterschiede sind die wichtigste Ursache für die Veränderungen bei der globalen Ungleichheit. Aber auch die zweite Komponente, die innerstaatliche Ungleichheit, stieg während des 19.Jahrhunderts.
Die zweite Epoche in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts war eine Zeit sehr hoher Ungleichheit auf einem relativ konstanten Niveau. Es war die „Phase der drei Welten“ – die Erste Welt der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, die Zweite Welt der weniger reichen sozialistischen Länder und die Dritte Welt der ärmeren Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika. In einigen Ländern wie z.B. den USA, Japan und Deutschland ging die innerstaatliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert durch gezielte Steuer- und Sozialpolitik zurück, in anderen durch kommunistische Revolutionen (Russland, China).
Schneller Aufstieg Chinas
Epoche 3 beginnt um die Jahrhundertwende und reicht bis 2018. In dieser Phase nimmt die Ungleichheit sehr stark ab bei steigendem Durchschnittseinkommen in Asien. Am Anfang stand der wirtschaftliche Aufstieg Chinas, der sehr schnell erfolgte und eine große Zahl von Menschen umfasste. Außerdem war die Ausgangsbasis, also das durchschnittliche Einkommen in China, sehr niedrig. Diese Entwicklung trug zu einer schnellen Verringerung der Ungleichheit zwischen den Ländern bei („Konvergenz der Einkommen“). Auf China folgten weitere asiatische Länder. Die Aufholjagd bei den Einkommen führte zum Aufstieg Asiens und der Verringerung der globalen Ungleichheit.
Seit etwa 2018 trägt Chinas Wachstum nicht mehr so stark zum Wachstum der Einkommen und damit zur Verringerung der globalen Ungleichheit bei. Ja, es könnte sogar sein, dass China angesichts des hohen Einkommensniveaus bald zur Steigerung der zwischenstaatlichen Ungleichheit beiträgt.
Die Ungleichheit in den Ländern nahm in der dritten Epoche in einer Reihe großer Staaten zu, z.B. in Russland, China, den USA, Indien und auch in einigen westeuropäischen Staaten. So war diese Phase eine Periode des Aufstiegs Asiens, aber auch eine Periode wachsender innerstaatlicher Spaltungen. Allerdings wirkt erstere Entwicklung viel stärker; deshalb ergibt sich insgesamt eine Abnahme der globalen Ungleichheit.
Nach 2018 nimmt die Ungleichheit zwischen den Ländern nicht weiter ab, sondern nimmt sogar leicht zu. Ursache dafür sind vor allem die negativen wirtschaftlichen Folgen von Covid-19, etwa in Indien oder in den meisten Ländern Afrikas.(2) Milanovic schließt nicht aus, dass sich der Trend zu weniger Ungleichheit in Zukunft wieder umkehren wird.
Globale Mittelklasse
Gleichwohl ist zu beobachten, dass sich in den letzten 30 Jahren eine globale Mittelklasse gebildet hat; die Unterschiede zwischen den Nationen sind geringer geworden, und die größte Umverteilung der Einkommenspositionen zwischen dem Westen und China seit der industriellen Revolution hat stattgefunden – mit Folgen auch für den Westen. Er verliert an Boden, einfach weil Asien wirtschaftlich schneller wächst. Die Armen in westlichen Ländern rutschen im internationalen Ranking der Einkommen tiefer. Man muss dabei jedoch im Hinterkopf haben, dass das, was als „globale Mittelschicht“ bezeichnet werden kann, viel ärmer ist als die Mittelschichten in den westlichen Volkswirtschaften.
Die Mitte der globalen Einkommensverteilung war also im Jahr 2018 eine andere als 1988. Zu den Aufsteigern gehören z.B. Teile der ländlichen Bevölkerung Chinas, die aus dem unteren Fünftel in das nächsthöhere Fünftel rückten. Sie wurden vor allem durch Inder ersetzt, die in das untere Fünftel „abstiegen“. Sie besetzen 40 Prozent der Plätze im untersten Fünftel.
Aber auch die Einkommen des unteren Fünftels haben sich in der dritten Phase verändert; sie stiegen nämlich stark an. Verursacht wurde das durch den generellen Anstieg der Einkommen auf dem Land in China, durch den Abstieg in das untere Fünftel von Menschen, die vorher darüber lagen und durch das schnelle Wachstum der Einkommen vieler armer Bevölkerungsgruppen in armen Ländern, das aber nicht hoch genug war, um aus dem untersten Fünftel aufzusteigen.
Im Gegensatz zum untersten Fünftel war das Wachstum in der globalen Einkommens-Spitzengruppe niedrig, weil auch das Wachstum der oberen Teile der innerstaatlichen Einkommensverteilung in den reichen Ländern niedrig war. Und die Bewohner dieser Länder bilden noch immer einen großen Teil der global Reichsten; die Zusammensetzung dieser Gruppe ist relativ stabil geblieben. Etwa 40 Prozent sind US-Bürger, gefolgt von Großbritannien, Japan und Deutschland, die jeweils rund 8 Prozent der Spitzengruppe bilden. Aufgestiegen in diese Gruppe sind die chinesischen Städter und Spanien, abgestiegen sind Russland und Taiwan.
Ein Blick in die Zukunft
Drei große externe Schocks kennzeichnen laut Milanovic gegenwärtig die Weltlage: Covid-19, die Verschlechterung der Beziehungen zwischen China und den USA sowie der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Alle drei haben negative wirtschaftliche Auswirkungen, und sie werden zumindest kurzfristig auch die globale Ungleichheit negativ beeinflussen. Welche langfristigen Folgen diese Schocks haben werden, ist völlig unklar. Milanovic hätte hier auch andere kriegerische Auseinandersetzungen und den Klimawandel hinzufügen können, die mit großer Sicherheit zu einer Verarmung von ganzen Bevölkerungsgruppen und damit zu Veränderungen in der Ungleichheit beitragen.
Gewiss sind auch zwei längerfristige Entwicklungen: die sich verändernde Rolle Chinas und Afrikas in der globalen Einkommensverteilung. Da Chinas Position sich nach oben verschoben hat, kann sein Wachstum die globale Ungleichheit nicht mehr in dem Maße verringern wie in der Vergangenheit, es sei denn, die unteren Teile der städtischen oder der ländlichen Bevölkerung verbessern ihr Los. Derzeit ist China in Bezug auf die Entwicklung der trotz allem immer noch hohen globalen Ungleichheit neutral.
Deshalb kommt in der Zukunft Indien und den bevölkerungsreichen afrikanischen Staaten mit Blick auf die Reduzierung der globalen Ungleichheit eine Schlüsselrolle zu. Sie müssten wirtschaftlich schneller wachsen als die übrige Welt und vor allem als die reichen OECD-Länder. Gerade mit Blick auf afrikanische Länder wie Nigeria, Äthiopien, Kongo, Südafrika und Tansania ist Milanovic wenig optimistisch, dass dies gelingt. Auf klarem Wachstumskurs waren in der Vergangenheit in Afrika fast nur Länder mit niedrigen Einwohnerzahlen und Länder mit nur einem Exportgut. Schwer vorstellbar, wie es den großen Ländern gelingen könnte, in Chinas Rolle zu schlüpfen.
So bleibt die Zukunft der globalen Ungleichheit ungewiss, auch wenn man das – wie Milanovic –bedauern mag, denn es geht hierbei ja nicht nur um Zahlenspiele, sondern um einen Beitrag zu einer gerechteren Welt. Ein hohes wirtschaftliches Wachstum in Indien und den großen afrikanischen Ländern würde zwar die Ungleichheit verringern. Weil Wachstum aber immer auch mit dem Verbrauch (begrenzter) natürlicher Ressourcen und steigenden Emissionen verbunden ist, würde dies den Druck auf die reichen Länder (zu denen auch China zählt) vergrößern, ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung ressourcen- und emissionsärmer umzubauen. Wenig erfreulich ist zudem die Entwicklung der zweiten Komponente, der Ungleichheit in den Ländern, die weiter angestiegen ist und voraussichtlich zunehmen wird.
Und dann gibt es noch andere Formen der Ungleichheit, z.B. die zwischen Frauen und Männern, beim Zugang zu Gesundheitsdiensten oder bei der Vermögensverteilung. Oxfam berichtete Anfang 2022, dass die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen während der Covid-19-Pandemie verdoppeln konnten, auf über 1,5 Billionen Dollar. Gleichzeitig leben 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut. Selbst die Financial Times kommt angesichts der trüben Aussichten zu dem Schluss, dass „die Globalisierung bei der Verringerung der globalen Ungleichheiten in den nächsten Dekaden nicht annähernd so erfolgreich sein wird, wie sie es in den vergangenen zehn Jahren war.
Fußnoten:
(1) Um exakte Daten zu bekommen, müssen Werte gewonnen werden, die Vergleiche zwischen Regionen, Ländern und Bevölkerungsgruppen gestatten. Eine Möglichkeit hierfür bietet der Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß für das Darstellen von Ungleichverteilungen aller Art. Der Gini-Koeffizient kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Gini-Koeffizient 0 bedeutet, dass Einkommen und/oder Vermögen in der untersuchten Population vollständig gleich verteilt sind. Gini-Koeffizient 1 bedeutet hingegen ein Maximum an Ungleichheit, d.h. Einkommen und/oder Vermögen wären vollständig bei einer Person konzentriert. Eine Variante zum Koeffizienten ist der Gini-Index mit der Dimension Prozent (%). Allgemein werden Länder mit einem Gini-Koeffizienten von 0,5 bis 0,7 (Gini-Index: 50-70%) als sehr einkommensungleich und die mit einem Koeffizienten zwischen 0,2, und 0,35 (Index: 20-35%) als relativ einkommensgleich bewertet.
(2) siehe hierzu auch den Beitrag von Michael Dauderstädt: https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/klima-ressourcen/verschaerft-covid-19-die-globale-ungleichheit)