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  • Krisen & Humanitäre Hilfe
  • 02/2024
  • Jessica Kühnle

Vor der Welle: Was bewirkt vorausschauende humanitäre Hilfe?

Handeln vor der Katastrophe – das steht im Zentrum. Doch um das Zeitfenster zwischen einer Frühwarnung und einem Ereignis zu nutzen, braucht es mehr Investitionen und Zusammenarbeit.

Eine Schule als Evakuierungszentrum: Auf den Philippinen hat die verbesserte Vorhersage von Taifunen viele Menschenleben gerettet. © UNICEF/UN0709968/Cayco via Flickr

Immer häufiger entwickeln sich Extremwetterereignisse und vom Menschen verursachte Gefahren zu Katastrophen mit schwerwiegenden Auswirkungen. Gleichzeitig verbessern wir uns darin, Vorhersagen über deren Auftreten und Verlauf zu machen – ein Grund dafür, warum vorausschauende Ansätze weltweit an Aufmerksamkeit gewinnen. Doch es bleiben Herausforderungen, insbesondere um ausreichende Finanzierung und institutionelle Unterstützung sicherzustellen. Angesichts steigender Risiken und Vulnerabilität für den Einzelnen und die Gesellschaft ist es nicht nur notwendig, sondern auch unsere moralische Pflicht, vorausschauend zu handeln, um Schäden abzuwenden.

Extreme Wetterereignisse manifestieren sich immer häufiger und heftiger. Ihre Folgen für die Bevölkerung sind katastrophal. Überschwemmungen, Dürren und Stürme machen bis zu 90 Prozent der weltweiten Gefahren aus. Allein im Jahr 2022 gab es weltweit mehr als 380 durch Naturereignisse ausgelöste Katastrophen (1), die 185 Millionen Menschen in Mitleidenschaft zogen. Die wirtschaftlichen Schäden beliefen sich auf rund 223,8 Mrd. Dollar. Die Nachfrage nach humanitärer Hilfe steigt, und zugleich lassen sich humanitäre Krisen immer schwieriger bewältigen, weil die Folgen des Klimawandels immer spürbarer werden, weil Konflikte eskalieren, Zugang zu Menschen in Not erschwert wird und Mittel gekürzt werden.

Antizipieren: den Krisen zuvorkommen

Um ihren reaktiven und kostspieligen Kreislauf zu durchbrechen, benötigt das humanitäre System Innovationen. Noch wird die meiste humanitäre Hilfe erst als Reaktion auf erhebliche Verluste und Schäden geleistet. Dabei können heute dank Technologien zur Frühwarnung viele Gefahren immer zuverlässiger vorhergesagt werden, insbesondere wetter- und klimabezogene Extremereignisse. Um humanitäre Bedarfe zu decken oder sogar zu senken, reichen rein reaktive Maßnahmen nicht aus, sondern sollten durch einen vorausschauenden Ansatz ergänzt werden. Seit einigen Jahren gibt es dazu zahlreiche Projekte, die deutlich machen, was dieser Ansatz (s. Kasten 1) bewirken kann: Wenn das Zeitfenster zwischen einer konkreten Warnung und dem Eintreffen eines gefährlichen Ereignis besser genutzt wird, können Leben gerettet, Kosten und Leid verringert, und betroffene Bevölkerungsgruppen besser und schneller auf Katastrophen vorbereiten werden.

Kasten 1:

Was sind vorausschauende humanitäre Maßnahmen (AHA) und wo ist ihr Platz im System des Katastrophenrisikomanagements (DRM)?

Vorausschauende humanitäre Hilfe (AHA) (2) basiert auf wirkungsorientieren Vorhersagen (3), die eine mögliche Gefahr, Exposition und Vulnerabilität sowie Auswirkungen prognostizieren. AHA wird ausgelöst, sobald ein vorher festgelegter Schwellenwert erreicht wird, d.h. ein Punkt, an dem die Wahrscheinlichkeit, dass die beobachtete Gefahr eintritt und zu schwerwiegenden Folgen führt, so hoch ist, dass frühzeitiges Handeln notwendig ist. Dann wird ein so genanntes Early Action Protocol (EAP) in Gang gesetzt, das festlegt, wer was wann tut. Dieser Ansatz ist mit einer vorab vereinbarten Finanzierung verbunden, die eine rechtzeitige Bereitstellung finanzieller Mittel und damit die Durchführung der "Early Action"-Maßnahmen ermöglicht. AHA findet also in dem Zeitfenster zwischen einer Frühwarnung und dem Eintreten einer bestimmten Gefahr oder ihrer höchsten Schadenswirkung statt (s. Grafik unten). Wichtig: AHA-Maßnahmen unterscheiden sich von traditioneller Katastrophenvorsorge und „Preparedness“, da sie immer auf eine konkrete, unmittelbare Gefahr bezogen sind.

Wenig Veränderung trotz sektorübergreifenden Rampenlichts

Initiativen und Projekte für vorausschauende humanitäre Hilfe (AHA) gibt es heute in mehr als 70 Ländern. Darüber hinaus wird in verschiedenen internationalen Abkommen und Verpflichtungen direkt und indirekt auf AHA verwiesen, auch über den humanitären Sektor hinaus. Dass sich auch insbesondere Entwicklungs- und Klimawandel-Akteure mit dem Ansatz beschäftigen, unterstreicht sein Potenzial, um das Schadensausmaß von Gefahren zu verringern, Widerstandskraft aufzubauen und sich ganzheitlich auf Krisen vorzubereiten – zumindest auf dem Papier. 2022 bekräftigten die Außenminister:innen der G7-Staaten in einer Erklärung zur Stärkung vorausschauender humanitärer Hilfe ein gemeinsames Verständnis von AHA und verpflichteten sich, den Ansatz auszubauen und im humanitären System zu verankern. Was darin jedoch fehlt, sind konkrete Schritte zur Umsetzung, beispielsweise ein gemeinsames System, um über Handlungen und Fortschritte im Rahmen der Verpflichtungen zu berichten.

Es gibt zahlreiche weitere Initiativen, die AHA direkt oder indirekt stärken oder unterstützen:

Globale Initiativen:

Regionale Initiativen:

In der aktuellsten Überarbeitung der Grand Bargain Committments(GB 3.0) einigten sich 66 Geber und Organisationen darauf, ein gemeinsames konzeptionelles Verständnis von AHA zu schaffen und Finanzierungsmechanismen flexibler zu gestalten, um effektiver und effizienter auf humanitäre Bedürfnisse zu reagieren.

Obwohl die Aufmerksamkeit um AHA somit regional und international zunimmt, hat dies noch nicht die notwendige Systemveränderung bei den Finanzierungsströmen eingeleitet. Laut einer REAP-Studie sind nur 1-3 Prozent von allen Geldern für Krisen vorher vereinbart  (s. Abb. 2). Zwar sind sich alle Akteure einig, dass AHA schneller, effektiver und effizienter ist. Aber ihre bislang unzureichende und ineffektive Finanzierung erklärt sich aus mangelnder Abstimmung und Kohärenz zwischen Geberinstitutionen, Regierungen und Hilfsorganisationen. Bisher waren ad-hoc- und unkoordinierte Pilotprogramme die Norm.

Abbildung 2: Finanzierung für Early Action

Investitionen in AHA: ein kosteneffizienterer Ansatz für menschenwürdigere Unterstützung

Die Appelle über die Vereinten Nationen zur Krisenbewältigung 2024 summieren sich auf 46 Mrd. Dollar – ein noch nie dagewesener Rückgang. Bei dem deutlich kleineren Budget und zugleich wachsenden Risiken aus extremen Wetterereignissen ist AHA ein entscheidender zusätzlicher Ansatz, um diesen Risiken besser zu begegnen – besonders auch aus finanzieller Sicht.

Zahlreiche Kosten-Nutzen-Rechnungen versuchen, die positiven Auswirkungen von AHA nachzuweisen. So zeigt sich beispielsweise, dass im Rahmen eines vorausschauenden Ansatzes die frühe Beschaffung und Bevorratung von humanitären Hilfsgütern (s. Kasten 2) zu erheblichen Kosteneinsparungen führen kann.

Auch im Hinblick auf das Risiko, sich mitunter scheinbar vergeblich auf eine bestimmte Gefahr vorzubereiten, wiegen die Kosten einer "fehlgeleiteten" AHA geringer als die eines aufgeschobenen Eingreifens. Zahlreiche vorausschauende Maßnahmen bringen Vorteile, unabhängig davon, ob die Krise eintritt oder nicht. So sind etwa im Fall einer nicht eintretenden Dürre frühzeitige Impfungen und die Bereitstellung von Futtermitteln nicht umsonst, da sie in jedem Fall die Gesundheit und Produktivität des Viehbestands verbessern. 

Eine-Analyse des Welternährungsprogramms der UN (WFP) zum "Humanitarian Return on Investment" (H-ROI) (6) in Nepal (s. Kasten 2) bestätigt, welchen Mehrwert Frühwarn- und AHA-Systeme bringen. AHA begrenzt die Schäden von Katastrophen an Menschen und ihrem Besitz – und ermöglicht dadurch, dass erhebliche Summen bei der unmittelbaren “reaktiven“ humanitären Hilfe eingespart werden können. Zudem reduziert der Ansatz auch den langfristigen Wiederaufbaubedarf und dessen Kosten.

Kasten 2:

Beispielhafte Belege für die Kosten und Nutzen von "Early Action"

Die Studie Humanitarian Return on Investment (ROI) for Emergency Preparedness (UNICEF/WFP, 2015) hat den Nutzen von Investitionen in Notfallvorsorge bewertet und kam für die Bevorratung von Hilfsgütern auf einen Faktor von 1,6-2,0 sowie auf eine erhebliche Zeitersparnis bei der Verteilung der Hilfsgüter von durchschnittlich 14 bis 21 Tagen.

Die Studie des ehemaligen britischen Entwicklungsministeriums (DFID) Economics of Early Response (Cabot Venton et al., 2013) quantifizierte Einsparungen durch frühzeitige Beschaffung von Hilfsgütern als Reaktion auf humanitäre Krisen in Kenia, Äthiopien und Niger. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Kosten zwischen 11 und 45 Prozent sanken.

Nicht nur eine Frage der Finanzen

Der Nutzen von AHA kann weit über Einsparungen hinausgehen. Verluste und Schäden zu minimieren ist eine Sache. Eine andere ist es, schädlichen Anpassungsstrategien in Gemeinschaften zuvorzukommen. Hier kann AHA sich langfristig positiver auf Unterernährung, Bildung, Gesundheit und Widerstandsfähigkeit auswirken, als reine reaktive humanitäre Hilfe.

Laut einer Analyse der Welternährungsorganisation der UN (FAO) über Katastrophenfolgen in Landwirtschaft und Ernährung kann frühzeitiges Handeln die physische und mentale Resilienz vulnerabler Personen stärken (7). Zum Beispiel, wenn keine Kredite aufgenommen werden müssen, weil das Einkommen plötzlich unsicher wird. Durch eine frühzeitige Bereitstellung von Bargeld vor Einsetzen einer drohenden Dürre wurde z.B. die Ernährungsunsicherheit im Nordosten von Madagaskar verringert. Auch bei plötzlich eintretenden Ereignissen wie Überschwemmungen kann AHA über Leben und Tod entscheiden.

Angesichts der technischen Möglichkeiten, um genaue Daten zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeit und des Ausmaßes drohender Gefahren zu liefern, ist es nicht nur eine kostensparende Notwendigkeit zu handeln, bevor eine bestimmte Katastrophe eintritt, sondern auch unsere moralische Pflicht.

Investieren in den Paradigmenwechsel

Um auf den bisherigen Erfolgen aufzubauen und einen echten Paradigmenwechsel herbeizuführen, müssen humanitäre Akteure noch einige Hürden überwinden:

Das gilt für den weiteren Ausbau der Vorhersage- und Frühwarnkapazitäten, was längerfristige Investitionen im Einklang mit dem Sendai Framework for Disaster Risk Reduction erforderlich machen. Viele Regierungen und Organisationen sind weiter nur begrenzt in der Lage, entsprechende Daten zu sammeln, Prognosen zu erstellen und sie zu interpretieren.

Eine weitere Hürde ist der Mangel an zweckgebundenen Mitteln für die AHA. Zwar verfügen viele Länder über ein gut etabliertes System für Katastrophenrisikomanagement (KRM) mit einer Vielzahl von Finanzierungsmechanismen. Allerdings zeigen Analysen, wie die von der Welthungerhilfe und dem Start Network, dass im Beispiel von Kenia der Löwenanteil der Mittel in "Disaster Preparedness and Resilience" oder "Reactive Emergency Response" und nicht in AHA fließt (8). Die Fallstudie lässt befürchten, dass es noch ein langer Weg ist, bis die Finanzierung für AHA ausgeweitet und gesichert wird. Häufig sind Reformen in der Finanzverwaltung erforderlich, um die Bereitstellung von Mitteln vor einer Krise zu ermöglichen oder eine rasche Auszahlung durch staatliche Systeme zu gewährleisten.

Darüber hinaus zögern Regierungen und Geber, Haushaltsmittel für AHA auf der Grundlage von Prognosen zuzuweisen. Daher müssen die Vorteile der vorausschauenden humanitären Hilfe durch Investitionen in bessere Vorhersage- und Überwachungssysteme sowie durch weitere Analysen zur Kostenwirksamkeit demonstriert werden. Außerdem müssen die Möglichkeiten und Vorteile frühzeitiger Maßnahmen dokumentiert werden, um Sorgen vor vergeblichem Handeln zu überwinden.

Jessica Kühnle Welthungerhilfe, Humanitarian Directorate

Referenzen:

(1) mit Ausnahme biologischer und extraterrestrischer Gefahren und mit Ausnahme technologischer Gefahren.

(2) "Antizipatorisches humanitäres Handeln" (AHA) wird von der Welthungerhilfe als Synonym für "Antizipatorisches Handeln in der humanitären Hilfe" verwendet. Damit wird hervorgehoben, dass Maßnahmen immer darauf abzielen, potenzielle humanitäre Auswirkungen zu verhindern oder abzumildern.

(3) Die Auswirkungsprognose ist ein strukturierter Ansatz für die Kombination von Gefahren-, Expositions- und Anfälligkeitsdaten, um Risiken zu ermitteln und die Entscheidungsfindung zu unterstützen, mit dem letztendlichen Ziel, frühzeitige Maßnahmen zu fördern, die Schäden und den Verlust von Menschenleben durch Naturgefahren verringern.

(4) G7 unter deutschem Vorsitz und die Gruppe der verwundbaren Zwanzig (V20) der Finanzminister

(5) "Den Katastrophen zuvorkommen: Eine Charta zur Finanzierung des Risikomanagements"

(6) Die Methode der Kapitalrendite wird in der Finanzwelt häufig verwendet, um die mit einer Investition erzielten Gewinne (Renditen) mit den Kosten der Investition im Laufe ihrer Lebensdauer zu vergleichen.

(7) Rentabilität der Investitionen in antizipatorische Maßnahmen (fao.org)

(8) Die Lücken aufdecken: Analyse der Finanzströme bei Katastrophenrisiken in Kenia von 2016 bis 2022 - Anticipation Hub

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