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  • Klima & Ressourcen
  • 08/2023
  • Ulrich Post

Migration: „Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind“

Rainer Tetzlaff über reguläre und irreguläre Zuwanderung aus Afrika und Anforderungen an die deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik.

Migration und Diaspora sind zwei Seiten einer Medaille: ein Wandgemälde im spanischen Salamanca. © 2014 David de la Mano via Flickr

Die Zahl der Migranten aus Afrika wird in Deutschland und Europa weiter steigen, aber nicht in dem Ausmaß, das manche Rechtspopulisten vorhersagen. Inwieweit Flucht und Erwerbsmigration aus Afrika zunehmen, hängt von vielen Faktoren ab, so etwa von der wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort, der Sicherheitslage, den Folgen des Klimawandels, dem Umgang mit dem Bevölkerungswachstum und natürlich auch von der Asyl- und Migrationspolitik der potenziellen Aufnahmeländer. Der Politikwissenschaftler Rainer Tetzlaff mahnt, zuerst einmal zuzuhören, was die Afrikaner*innen über die Gründe ihrer Flucht und über das Ankommen in Deutschland zu sagen haben. Wenn Integration gelingen soll, dann müssten sich beide, Migranten und die Aufnahmegesellschaft, anpassen. 

Welternährung: Herr Tetzlaff, gibt es in Hamburg einen Weihnachtsmarkt oder einen Wintermarkt?

Rainer Tetzlaff: In meinem Stadtteil gibt es nur einen Weihnachtsmarkt. Ich weiß aber nicht, ob das in jedem Stadtteil so ist oder ob es in einzelnen Gebieten mit einem hohen Anteil nicht-christlicher, migrantischer Bevölkerung aus Rücksichtnahme auch Wintermärkte gibt. Der zentrale Markt am Hamburger Rathaus im Dezember heißt jedenfalls auch noch Weihnachtsmarkt, und zur Freude der Kinder gibt es dort auch weiterhin einen Weihnachtsmann mit langem weißem Bart, der fröhlich in seinem Schlitten über den Köpfen des Publikums hin und her fährt.

Zur Person

Prof. Dr. Rainer Tetzlaff lehrte als Politikwissenschaftler und Afrika-Forscher an Universitäten in Berlin, Bremen, Eichstätt und bis zu seiner Emeritierung in Hamburg. Vor kurzem erschien sein Buch „Der afrikanische Blick. Unerwartete Perspektiven der Integration.“ (Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt 2023)

Wenn wir über migrantische Bevölkerung sprechen und uns auf afrikanische Herkunftsländer konzentrieren, wie hoch ist der Anteil an Geflüchteten mit afrikanischen Wurzeln?

In Deutschland leben ungefähr 700.000 amtlich registrierte Staatsangehörige afrikanischer Länder, davon 200.000 bis 300.000 aus den fünf Maghreb-Staaten. Insgesamt sind das weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung unseres Landes und auch nur eine kleine Minderheit unter den ca. 25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund hierzulande. Die Zahl der Afro-Deutschen wird auf eine Million geschätzt. Dazu kommen zehntausende minderjährige Kinder, die unregistriert irgendwo in Deutschland leben. Es gibt natürlich nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Student*nnen oder sehr begehrte Erwerbsmigranten wie z.B. Ärzte, Pflegepersonal, Angestellte in der Gastronomie. Unter den Top Ten der zugangsstärksten Asylantragsstellerländern waren 2022 nur zwei afrikanische Staaten – und die am Ende der Top Ten –, nämlich Eritrea und Somalia mit jeweils rund 4.000 Asylanträgen.

Der US-Journalist und Hochschullehrer Stephen Smith behauptet in seinem viel rezensierten und gut verkauften Buch „Nach Europa“, dass das Bevölkerungswachstum in Afrika eine Migrationswelle nach Europa auslösen werde. In den nächsten 30 Jahren würden Afrikaner ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung in Europa stellen. Afrika sei „Europas Mexiko“. Teilen Sie das?

Nein, das teile ich so nicht, weil das suggerieren könnte, dass sich politisch nichts bewegen würde. Erstens ist nicht zu vergessen, dass das starke Bevölkerungswachstum in vielen Regionen Afrikas nur eine Ursache für Flucht und Migration ist – neben Krieg, Klimawandel, Perspektivlosigkeit der Jugend, Armut. Und zweitens halte ich das Szenario von Stephen Smith insofern für zu alarmistisch, als darin unterstellt wird, dass die Europäer nicht versuchen würden, sich gegen einen solchen Andrang irregulär zuwandernder Menschen zu wehren. Aber wenn wir uns nicht an Abschirmung orientieren würden, sondern nur an der Frage: Wo und wie können talentierte, aber ressourcenarme Menschen in zehn, zwanzig, dreißig Jahren überleben? dann könnten solche Zahlen durchaus realistische Trends markieren und uns nötigen, intensiver als bisher auf neuen Wegen über die Zukunft der europäisch-afrikanischen Beziehungen nachzudenken, um Katastrophen möglichst zu vermeiden.

Zurzeit löst Migration – wie andere prekäre Entwicklungen wie die Klimakrise auch – politische Ohnmachtsgefühle in Europa und anderswo aus. Wir erkennen aktuell sich noch verschärfende Konflikte, ohne aber einvernehmliche Lösungen anbieten zu können. Nicht zu übersehen ist dabei der strukturelle Interessengegensatz zwischen Industrieländern und afrikanischen Ländern: Die einen wollen freien Zugang zu Märkten, versuchen aber gleichzeitig, ihre Grenzen gegen unerwünschte Wirtschaftsmigrant*innen abzudichten, während die anderen ihre Handels- und Zollgrenzen gegen überlegene Auslandskonkurrenz schützen wollen, gleichzeitig aber keinerlei Interesse daran haben können, ihre junge, dynamische, arbeitswillige aber perspektivlose Jugend davon abzuhalten, ins Ausland zu emigrieren und dort verdientes Geld nach Hause zu schicken. Es gibt ein Recht auf Migration, aber kein Recht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land. Das ist für alle Beteiligten ein Dilemma, das nur sehr schwer auflösbar ist.

Gibt es denn Grenzen der Zumutbarkeit für Zuwanderungsgesellschaften, wie es etwa Paul Collier behauptet?

Ja. Ich teile diese Ansicht, die Hannah Arendt übrigens schon vor Jahrzehnten formuliert hatte. Auch der Rechtswissenschaftler und langjähriges Mitglied des Deutschen Ethikrates Reinhard Merkel hatte darauf hingewiesen, um den Frieden in einer multikulturellen Gesellschaft aufrecht erhalten zu können, sollte darauf geachtet werden, nicht nur den Ansprüchen von Minderheiten Rechnung zu tragen, sondern auch die Rechte und Eigentümlichkeiten der Bevölkerungsmehrheit als schützenswertes Gut anzusehen. Was freilich als „schützenswert“ und wertvoll gilt, verändert sich mit der Zeit und den Umständen und muss daher auch immer wieder neu zwischen Mehrheit und Minderheiten ausgehandelt werden.

Es gibt ein Recht auf Migration, aber kein Recht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land. Das ist für alle Beteiligten ein Dilemma, das nur sehr schwer auflösbar ist.

Prof. Dr. Rainer Tetzlaff, Politikwissenschaftler und Afrika-Forscher

Sie haben mit afrikanischen Migrant*innen gesprochen und viele Texte von afrikanischen Wissenschaftlern und Autorinnenn gelesen und zitiert. Was ist aus deren Sicht gelungene Integration?

Kurz gesagt: Arbeit finden, Geld verdienen, um zu kaufen, was fürs Überleben nötig ist und um vielleicht noch ein bisschen Geld nach Hause zu schicken. Die erreichte Sicherheit des Migranten, der Migrantin – Schutz vor Vertreibung, Vernichtung und Verhungern – wird dann bald als Selbstverständlichkeit erlebt. Seit 2015 ist aber in Deutschland der politische Kardinalfehler gemacht worden zu übersehen, dass die Menschen aus Afrika hierherkommen, um sich ein neues Leben durch Eigenarbeit aufbauen zu können. So werden sie verpflegt, erhalten ein Dach über den Kopf und werden in rührender Weise von Menschen der Kirchen und der Zivilgesellschaft begleitet. Was sie aber lange Zeit nicht dürfen, ist Geld zu verdienen. In den ersten Monaten ist stattdessen Warten angesagt, zermürbendes Warten. Dabei weiß man aus der Migrationsforschung, dass es für die Integration auch darauf ankommt, wie sich die Menschen gerade in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft behandelt fühlen.

Geflüchtete haben mir gesagt, dass sie für diese Gesellschaft einen Beitrag leisten möchten, auch als Gegenleistung für den Schutz, den sie erhalten. Das entspräche afrikanischer Vorstellung von Solidarität und Gastfreundschaft. Doch die Integration über den Arbeitsmarkt ist erst einmal durch die umständliche, überbürokratisierte Asyl- und Integrationspolitik blockiert. Neben der Erlaubnis zur Arbeit und dem geeigneten und hinreichenden Zugang zu Sprachkursen spielt in den Augen der Geflüchteten für eine gelingende Integration eine stabile Bleibeperspektive eine große Rolle. Ist letztere gegeben, steigt – nicht bei allen, aber bei der Mehrheit – die Motivation, unvermeidliche ‚Zumutungen‘ zu akzeptieren und sich in die Zuwanderungsgesellschaft zu integrieren. So profitieren beide Seiten enorm von der Integration der Zugewanderten. Ohne integrierte Migrant*innen könnte unsere Gesellschaft doch gar nicht mehr funktionieren. Und schließlich sollten wir von Einwanderungsgesellschaften wie Kanada, Australien, Israel etc. lernen, dass von Zugewanderten auch Anpassungsleistungen verlangt werden können und müssen.

Wir haben viel darüber gesprochen, was sich bei uns ändern muss. Gibt es auch Dinge, die sich nicht ändern sollten? Die Berliner Integrationsforscherin Naika Foroutan z.B. skizziert ein postmigrantisches Deutschland mit einem schützenswerten Kern einer deutsch-europäischen Identität.

Dem stimme ich zu. Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind, so wie die Norm der pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, einschließlich der Gleichheit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Grundgesetz, Menschenrechte und bewährte Rechtsvorschriften gelten für alle, ebenso der Respekt vor anderen Meinungen. Das Privileg der Religionsfreiheit, das in vielen Herkunftsländern nicht gilt, kann hier nicht dazu missbraucht werden, deutsche Verfassungsnormen außer Kraft zu setzen. Diese und einige weitere gewachsene Identitätskerne müssen wir in gemeinsamer Anstrengung bewahren. Dabei sollte man aber auch darauf achten, was für andere zumutbar ist und was nicht. Das Unterlassen von Koranverbrennungen z.B. gehört für mich zu den Anpassungsleistungen der Mehrheitsgesellschaft: Wir brauchen deshalb nicht die Rechtsordnung zu verändern, aber aus Rücksicht auf Gefühle anderer mit anderer Sozialisation können wir getrost auch einmal auf die Inanspruchnahme des Rechts im Dienste des gemeinsamen friedlichen Zusammenlebens verzichten. Zugewanderten muss auch Platz gemacht werden.

Also ist Anpassung oder Assimilation ein wichtiger Teil von Integration?

Ja. Werte und Spielregeln der Aufnahmegesellschaft sind wichtig, z.B. Frauen die Hand zu geben. Gleichzeitig sollten kulturelle Eigenheiten auch gepflegt werden, Neuankömmlinge müssen sich nicht an alles anpassen. Grenzbereiche müssen immer wieder neu ausgehandelt werden, beide Seiten müssen sich aufeinander zubewegen. Assimilation jedoch ist als Integrationsziel abzulehnen, weil sie als erzwungene Aufgabe eigener kultureller Werte verstanden werden kann.

Nun schreiben Sie in Ihrem Buch auch, dass die Neuankömmlinge alle einen „kulturellen Rucksack“ mitbringen, aber jeder anders gepackt ist. Erleichtern die Rucksack-Inhalte die Integration oder erschweren sie sie?

Zuerst: Identität eines Menschen ergibt sich meiner Ansicht nach nicht allein durch Herkunft, etwa Sprache, Familie, Landschaft, Kultur, Arbeit, sondern kann auch durch neue Erfahrungen in der Fremde und durch kulturelle Aneignung erweitert oder verändert werden. Aber die mitgebrachten Rucksäcke von afrikanischen Zuwanderern sind meiner Meinung nach überwiegend oft ein Hindernis, weil die Migrant*innen viele ihrer erworbenen Stärken und Erfahrungen im Zuwanderungsland nicht anwenden können. Zum Beispiel müssen sie sich als Einzelkämpfer in unserer vibrierenden, natürlicherweise zunächst als fremd und unheimlich empfundenen Gesellschaft behaupten lernen, wozu der Rucksack ein Hindernis sein kann. Aber er ist auch unter Umständen ganz wichtig, wenn er Werte enthält, die Trost spenden und die zu seiner moralischen Orientierung im Leben als Wegweiser dienen. Das Bild von Frauen, von Autoritäten, vom Staat – das alles kollidiert häufig mit den Werten unserer Gesellschaft, berichten die afrikanischen Autoren*innen. Alle verweisen auf ‚gute Gründe‘ für ihre Flucht, aber eine gelingende Integration bedarf auf beiden Seiten großer Anstrengungen – und auch Beratungspersonal, viel Geld, viel Geduld, viel Toleranz etc. Das ist in Deutschland lange nicht ernst genommen worden. Einiges muss raus aus dem Rucksack, anderes muss hinein. Gegenseitiges Lernen ist gefordert, wir müssen mehr über die jeweils anderen kulturellen Hintergründe wissen, um die bestehenden Irritationen zumindest besser  verstehen zu können.

Wenn man Integration vor allem als Teilhabe an zentralen gesellschaftlichen Bereichen des Aufnahmelandes versteht, also als einen Platz am Tisch, haben die afrikanischen Migranten ihrer eigenen Einschätzung nach diesen Platz?

Nein, den haben sie oftmals noch nicht, wobei es zu differenzieren gilt. Es gibt Zugewanderte aus der Türkei, aus Vietnam, China, Polen, Ungarn, Ghana, Äthiopien oder aus dem Senegal, die seit Jahren hier leben, voll integriert sind und hier wichtige Funktionen erfüllen. Bei den nach 2015 aus Afrika Zugewanderten ist die Situation eine andere: Bis Mitte 2023 sind weniger als 50 Prozent in den Arbeitsmarkt integriert worden, und es gibt Defizite überall. Zigtausende müssten in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden, aber die ‚Abschiebung‘ gestaltet sich in moralischer, rechtlicher und politischer Hinsicht als Riesenproblem. Bisher haben die EU-Regierungen noch keine angemessene Lösung gefunden. Die jüngsten Initiativen und Anstrengungen in der EU, die Möglichkeiten zu erweitern, legal in ein europäisches Land zu kommen und den Schleppern ihr Geschäftsmodell zu unterbinden, können vielleicht die Situation etwas entschärfen.

Und natürlich hilft auch eine schnelle Erteilung einer Arbeitserlaubnis dabei, einen Platz am Tisch zu finden. Es ist so absurd: Überall fehlen in Deutschland Arbeitskräfte. Geflüchtete Afrikanerinnen und Afrikaner würden gerne arbeiten, aber ein ‚Spurwechsel‘ vom Status eines Asylbeantragenden zu einem Wirtschaftsmigranten wird immer noch erschwert. Das ist menschlich  und ökonomisch in hohem Maße unvernünftig und führt zu Frustrationen.

Umstritten: Ein Memorandum sichert Tunesien europäische Milliardenhilfen zu, im Gegenzug wird Kooperation in der Eindämmung von irregulärer Migration erwartet. © European Union, 2023

Der Frustration folgt oft die Streitlust. Sind Konflikte etwas, das Integration erschwert oder sind sie, wie das Integrationsparadox unterstellt, ein Indiz für gelingende Integration?

Das kann man so allgemein nicht beantworten, weil es von der Art der Konflikte und ihrer Austragung abhängt. Generell kann man sagen und das ist auch die Auffassung vieler Afrikaner*innen: Streit muss sein. Aber er darf nicht Unterwerfung als Ergebnis haben wollen. Eine friedliche Streitkultur, die Kompromisse akzeptiert und den Ausgleich von Interessen sucht, ist gewiss zielführend für Integration und beispielgebend für eine postmigrantische Gesellschaft. Auf Dorfebene ist Afrikanern die Methode der friedlichen Konfliktbeilegung durch ein Palaver zwischen den Parteien wohlvertraut, durch das die Höhe der Schadensersatzzahlungen festgelegt wird.

Erstmals hat die Weltbank in diesem Jahr das Thema Migration als zentrales Thema im Weltentwicklungsbericht. Ihr Fazit lautet: Migration bietet weltweit Vorteile für Herkunfts- und Zielländer.

Es gibt viele Beispiele dafür, dass das stimmt. Zum Beispiel, wenn man an die polnischen Arbeiter im Ruhrgebiet denkt oder später an die vietnamesischen Boat People in Deutschland. Meiner Meinung nach verändert sich das gerade. Unbegrenzte und irreguläre Migration in kurzer Zeit ist für Zuwanderungsgesellschaften nicht mehr durchgängig ein Gewinn. Die Aufnahmebereitschaft bei uns hat zwischen 2016 und 2023 deutlich nachgelassen, und die politische Instrumentalisierung des Themas Zuwanderung in Wahlkämpfen und Talkshows führt zu einem Anstieg rechtsextremer und nationalistischer Positionen – nicht nur bei uns. Viele sehen ihre eigene Stellung in der Gesellschaft gefährdet, die Kosten sind hoch und die Integration holperig, um es freundlich auszudrücken. Und selbst solche Gemeinden, denen man alles andere als Fremdenfeindlichkeit vorwerfen kann, stöhnen unter den finanziellen Lasten, die ihnen bei Unterbringung, Betreuung usw. von Geflüchteten entstehen. Vielleicht kann man über deutsche Migrationspolitik der letzten zehn Jahre sagen : Deutschland hatte eine Willkommenskultur, aber keine hinreichende Integrationskultur.

Aber alle Prognosen gehen davon aus, dass es mehr afrikanische Flüchtlinge bei uns geben wird. Es kommen ja nicht die Ärmsten der Armen, die können sich eine Flucht nach Europa nicht leisten. Gestiegene Fachkenntnisse, bessere Ernährung und Bildung führen zu einer verbesserten wirtschaftlichen Situation und damit zu mehr Abwanderung aus afrikanischen Ländern.

Es stimmt: Aus Afrika kommen nicht die ärmsten und bedürftigsten Menschen als Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten nach Europa, und auch nicht die Vertriebenen und Verfolgten der 16 afrikanischen Bürgerkriege. Theoretisch hätten Millionen ein Anrecht auf individuelles Asyl. Es kommen mit Vorliebe die besser Verdienenden, die in ihrer Heimat beruflich nicht vorankommen. Ich bin überzeugt, dass gerade aus Afrika auch weiterhin mehr Menschen zu uns kommen werden – auch wenn viele bei den Flucht- und Migrationsversuchen scheitern und die EU-Regierungen in Zukunft größere und härtere Maßnahmen zur Abwehr von Flüchtlingen ergreifen werden. Die Push-Faktoren der Migration sind einfach zu stark. Die europäische Politik der Fluchtursachenbekämpfung konnte nur wenig Linderung bringen. Hauptursachen für Migration aus Afrika sind und bleiben wachsende Armut und Verfolgung in Kriegs- und Terrorgebieten, schlechte Regierungsführung, der Klimawandel, fehlende Jobs, Perspektivlosigkeit auch der gut ausgebildeten Jugend, religiöse Intoleranz, Bevormundung von Frauen durch patriarchalische Familienstrukturen etc. Deshalb wäre es ein wichtiges humanitäres Reformprojekt, legale Einwanderung auch für nicht hochspezialisierte Fachkräfte zu ermöglichen und für europäische Arbeitsmärkte geeignete Ausbildungsprogramme in afrikanischen Ländern zu finanzieren.

Nun bemühte sich die letzte Bundesregierung, insbesondere das BMZ, Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen. Das war nicht von Erfolg gekrönt. Die aktuelle Regierung versucht es nun mit Migrationszentren, etwa in Accra. Hier werden nicht nur Rückkehrer beraten, sondern auch Ausreisewillige. Kann man dadurch irreguläre Migration aus Afrika reduzieren?

Solche Initiativen zusammen mit Afrikaner*innen und gemäß deren Bedürfnissen auf den Weg zu bringen, macht Sinn. Sie können einen kleinen Beitrag leisten, um afrikanischen Gesellschaften produktive Perspektiven aufzuzeigen. Aber Fluchtursachen wirksam bekämpfen zu wollen, ginge über das Portfolio des BMZ hinaus. Aus meiner Sicht wäre eine Reform der Außenwirtschaftspolitik der EU problemadäquater – mit dem Ziel, alles von europäischer Seite zu unterlassen, was Arbeitsplätze und Marktchancen von Afrikanern ruiniert oder blockiert: Africa First statt Europe First! Wenn man afrikanischen Produzenten bessere Möglichkeiten verschaffen könnte, die Produkte, die sie gut selbst herstellen können, auch intensiv für die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu vertreiben und Agrarüberschüsse und Fisch-Kontingente in EU-Länder zu exportieren, könnte eine Wirtschaftsdynamik mit sozialer Breitenwirkung in Gang gesetzt werden. Migrationsdruck könnte so gemindert werden. Ob diese Vision angesichts des bekannten Agrarprotektionismus in der EU realistisch ist, darf bezweifelt werden.

Das Interview führte:

Prträt: Ulrich Post, Leiter Team Grundsatzfragen.
Ulrich Post Mitglied im Redaktionsbeirat

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