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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 10/2022
  • Dirk Ebach

Welthunger-Index 2022: Der Ausblick auf die Ernährungslage ist düster

Verheerende Entwicklungen bei den weltweiten Nahrungsmittelpreisen, wieder steigende extreme Armut, eine Verdoppelung der Kriege und Konflikte und zunehmende Temperaturanomalien bieten kein geeignetes strukturelles Umfeld, um den Hunger zu überwinden.

Im kenianischen Dorf Subo steigern klimafreundliche Anbaumethoden die Erträge bei Mais, Mung- und Augenbohnen. Haushalte können sich drei Mahlzeiten pro Tag leisten. © Lisa Murray/Concern Worldwide

Es ist ungefähr Halbzeit bis zur Bilanz 2030, wenn die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen erreicht werden sollen. Wie steht es also um das Zwischenfazit für SDG2 "Zero Hunger"? In den vergangenen Jahren entfernte sich der Trend immer weiter von der Zielgerade – was zunächst verwunderte, da es bis etwa 2016 jedes Jahr Fortschritte zu verzeichnen gab. Doch offenbar ist von dem ursprünglichen Motivationsschub bei der Verabschiedung der Agenda 2030 im Jahr 2015 nicht viel geblieben – oder doch?  

Am 13. Oktober haben die Welthungerhilfe, Concern Worldwide und die Entwicklungsbank KfW den Welthunger-Index 2022 vorgestellt. Der Index 2022, zeichnet in seiner aktuellen Zwischenbilanz düstere Perspektiven:  Das globale Hungerniveau (Indexwert 18,2) ist annährend wieder dort, wo es sich vor der Verabschiedung der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung befand (Indexwert 2014=19,1). Bis zu 828 Millionen Menschen sind unterernährt. Eine Zahl, die sich in Bereichen bewegt, die bereits mehr als zehn Jahre zurückliegen – sowohl als absolute Zahl, als auch in Prozent der Weltbevölkerung. 

Ist die Trendumkehr noch möglich? 

Die Weltgemeinschaft ist also, um das Bild eines Marathonlaufs zu bemühen, bereits etwa die Hälfte der Zeit gelaufen, befindet sich auf der Wegstrecke aber wieder an der Startlinie. Gibt es Aussichten, das Ziel noch, in der Hälfte der Zeit, zu erreichen? Was lief falsch in den letzten Jahren, dass es zumindest den Anschein hat, auf der Stelle zu treten? Die Antworten, die der Welthunger-Index auf diese Fragen gibt, werden hier zusammengefasst. 

Was misst der Welthunger-Index? 

Zunächst bedarf es der Erläuterung, was mit dem Welthunger-Index gemessen wird. Anders als die Nennung einer Zahl von Menschen, die unter einer bestimmten Art des Hungers leiden, wie die erwähnten bis zu 828 Millionen Menschen, die unterernährt sind, ist der Welthunger-Index (WHI) ein Instrument zur mehrdimensionalen Messung von Hunger. Dabei bezieht er Unterernährung als einen der Indikatoren in die Berechnung mit ein.  

Vier Indikatoren liegen der WHI-Berechnung insgesamt zugrunde, die zusammen ein umfassendes Bild der globalen Hungersituation zeichnen:  

a) Die bereits angesprochene Unterernährung: der Anteil der Bevölkerung, dessen Kalorienbedarf nicht gedeckt ist.  

b) Wachstumsverzögerung bei Kindern: der Anteil von Kindern unter fünf Jahren mit einer zu geringen Größe in Bezug auf das jeweilige Alter, ein Beleg für chronische Unterernährung. 

c) Auszehrung bei Kindern: der Anteil von Kindern unter fünf Jahren, mit einem zu niedrigen Gewicht in Bezug auf die jeweilige Größe, ein Beleg für akute Unterernährung. 

d) Kindersterblichkeit: der Anteil der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, was zum Teil das fatale Zusammenwirken von mangelnder Nährstoffversorgung und einem ungesunden Umfeld widerspiegelt.  

Basierend auf den Werten dieser vier Indikatoren bildet der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala die jeweilige Hungersituation ab. 0 (kein Hunger) ist der beste und 100 der schlechteste Wert. Der WHI-Wert jedes Landes wird je nach Schweregrad als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. 

Letztlich spiegelt diese Methode den Gedanken der nachhaltigen Ernährungssicherung wider, bei der es darum geht, Hunger und auch Unterernährung im Sinne von Mangelernährung zu beenden und diesen Zustand auch für die kommenden Generationen zu verstetigen. 

Die Situation 

Der Welthunger-Index weist aus, dass die durchschnittlich sinkende Kindersterblichkeit und Wachstumsverzögerungsrate, für sich genommen, zwar als Erfolge verbucht werden können – doch beeinflussen insgesamt stagnierende Auszehrungsraten bei Kindern sowie steigende Unterernährung den Gesamtindex so negativ, dass der Trend „düster“ aussieht, wie es bei der Veröffentlichung Vorstellung formuliert wurde. 

Doch warum fällt – trotz der grundsätzlichen Erfolge in manchen Bereichen und positiven Beispielen von Ländern mit großen Erfolgen bei der Senkung ihres Gesamtwertes – die Zwischenbilanz für Zero Hunger so eindeutig negativ aus? 

Multiple Krisen als Hungertreiber

Multiple Krisen sieht der WHI als primären Grund für den negativen Trend der letzten Jahre. Eine immer weiter steigende Zahl an Kriegen und Konflikten, die im letztjährigen Bericht besonders im Fokus standen, die Zunahme an Wetterextremen aufgrund der Klimakrise (WHI-Fokus 2019), steigende Nahrungsmittelpreise und die Zunahme extremer Armut befeuern sich gegenseitig. 

Extreme Armut hat 2020, vor allem aufgrund der Covid-Pandemie, erstmals in diesem Jahrhundert zugenommen. © Welthungerhilfe

Was sich bislang hauptsächlich mit fatalen Folgen im Globalen Süden abspielt, berührt nun auch den Globalen Norden. Die COVID-19-Pandemie überschritt alle Staatsgrenzen, das Ahrtal erlebte eine Jahrhundertflut, europäische Regionen ächzten unter Wasserknappheit, Lebensmittel- und Energiepreise steigen. Geflüchtete aus der Ukraine lassen den Krieg im Osten Europas spürbar werden. 

Um eine vielfaches härter treffen solche Krisen die besonders fragilen Regionen der Welt, die bereits unter Hunger leiden müssen und keine Reserven haben – in diesen Regionen werden Krisen zu Katastrophen. 

So hat jüngst der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, wieder zur Beendigung des Konfliktes in der Region Tigray im Norden Äthiopiens aufgerufen. Der brutal geführte Konflikt hält nun schon zwei Jahre an. Noch länger, nämlich drei Jahre, dauert die Dürre am Horn von Afrika an. Für Konflikt und Dürre ist kein Ende in Sicht. Vor den Folgen sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht. Millionen verendete Rinder bedeuten für die Viehhirten den Verlust ihrer einzigen Einnahmequelle und machen, nicht nur für sie, Nahrung unerschwinglich.  

Gewalt, die Folgen von COVID-19 und die infolge des Krieges in der Ukraine gestiegenen Nahrungsmittelpreise führen zur Katastrophe. Heuschreckenplagen und Überflutungen in den Jahren davor haben die Resilienz und die Reserven der Menschen aufgezehrt. So darf es nicht überraschen, dass Äthiopien zu den Ländern gehört, in denen die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden, allein zwischen 2020 und 2021 um 20 Prozent gestiegen ist. Betrachtet man die Region Tigray allein, ist die Wachstumsverzögerung bei Kindern (einem Beleg für chronische Unterernährung) mit nahezu 50 Prozent erschreckend hoch. 

Eine Viehhirtin in Kenia. Sie hat aufgrund der Dürre einen Teil ihrer Herde verloren. © Welthungerhilfe

Doch darf die Häufung und Intensität solcher Krisen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie – insbesondere bezogen auf die Hungersituation – die Folgen der strukturellen Ursachen in unserem Ernährungssystem sind: Armut, Ungleichheit, mangelhafte Regierungsführung und Infrastruktur. Krisen legen die strukturellen Probleme schonungslos offen und verstärken sie.  

Ernährungssystem lässt Krisen zu Katastrophen werden 

Nachhaltige und resiliente Ernährungssysteme hätten die Fähigkeit, Krisen abzufangen und nicht zu Katastrophen ausbrechen zu lassen. Doch eben das kann das aktuelle globale Ernährungssystem nicht leisten. Die Gründe hierfür sind bekannt. Denn jede der genannten strukturellen Ursachen lässt sich mindestens einem der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zuordnen, die sie beheben sollen. 

Die unzulängliche Beendigung des Hungers ist also kein unglücklicher Ausreißer auf dem Weg, die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen. Bei zu vielen ist die Weltgemeinschaft ebenfalls nicht auf Kurs und bestätigt damit auf tragische Weise die Hypothese, dass die Nachhaltigkeitsziele nicht isoliert voneinander erreicht werden können. 

Globale Höchststände bei Nahrungsmittelpreisen im Frühjahr 2022, die erstmalige Zunahme extremer Armut in diesem Jahrhundert im Jahr 2020, die Verdoppelung weltweiter Konflikte von 2010 bis 2021 und das ungehinderte Voranschreiten der Klimakrise durch die Zunahme der globalen Erderhitzung im Vergleich zum 20sten Jahrhundert, mit vermehrten Wetterextremen, bieten kein geeignetes strukturelles Umfeld, um den Hunger zu beenden.

Schwere des Hungers nach Regionen im Welthunger-Index. Das Leid ist ungleich verteilt. © Welthungerhilfe

Regionale und lokale Unterschiede 

Auch wenn in allen Regionen der WHI-Wert in den Jahren seit 2000 gesunken ist, mit Ausnahmeder Region Lateinamerika und Karibik, geht die Entwicklung zu langsam voran, als dass Zero Hunger – oder zumindest eine niedriges Hungerniveau – für alle Länder erreichbar scheint. Selbst das niedrige Hungerniveau wird nach der aktuellen Prognose bis 2030 in 46 Ländern unerreichbar bleiben. 

Die Regionen Südasien mit dem Wert 27,4 und Sub-Sahara-Afrika mit 27,0 liegen weiterhin weit von der Schwelle zu niedrigen Hungerwerten von weniger als 10 entfernt. Und auch in den restlichen Regionen mit mäßigen oder niedrigen WHI Werten besteht bei einzelnen Ländern Grund zur Besorgnis, da die Werte stagnieren oder gar steigen.  

So wenig, wie es pauschale regionale Lösungen für die Beendigung des Hungers gibt, so unterschiedlich ist die Hungersituation auch auf subnationaler Ebene bis hin zur kommunalen und Bezirksebene, bei denen der Welthunger-Index von „Hotspots des Hungers“ spricht. Diese beruhen auf einer komplexen Gemengelage, bei der subnational unterschiedliche Gesundheitsversorgung, Konflikte, klimatisch bedingte Unterschiede aber auch die unterschiedliche lokale Governance bei der Transformation der Ernährungssysteme eine wichtige Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Region Tigray. 

Lokale Lösungen für lokale Herausforderungen 

Einen Teil des Beitrags zur dringend notwendigen Transformation der Ernährungssysteme, sieht der Welthunger-Index in seinem diesjährigen Fokus daher auch in den lokalen Maßnahmen zur Stärkung der Ernährungssysteme. Die Stärkung lokaler Governance wird als ein Teil des Auswegs gesehen, da im globalen Ernährungssystem aufgrund von zunehmendem Nationalismus und geopolitischen Spannungen die multilaterale Zusammenarbeit bedroht ist. Wobei dies selbst durch die fortschreitende Einschränkung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen für die Meinungsfreiheit auf nationaler Ebene gilt. Noch können lokale Initiativen unterhalb dieser Einschränkungen durch die Aufklärung über das Recht auf Nahrung und in der Folge auch durch das Einfordern von Rechenschaft lokaler Entscheidungsträger*innen hinsichtlich der Verwirklichung dieses Rechts Einfluss nehmen. 

Die Essay-Autorin Danielle Resnick hebt hervor: „Ermutigende Beispiele für Empowerment sind in fragilen Kontexten mit einem hohen Grad an gesellschaftlicher Fragmentierung ebenso sichtbar wie in stabileren Kontexten mit längerer Tradition lokaler Demokratien.“ 

Mögliche Blaupausen für eine Vielzahl von Initiativen zur Verbesserung der Ernährungspolitik auf lokaler Ebene also? In einer Panel-Diskussion konkretisiert Resnick (Brookings Institution und International Food Policy Research Institute), dass es nicht zwingend um eine Hochskalierung auf nationale Ebene gehen muss, sondern um eine Übertragbarkeit der Positivbeispiele auf andere lokale Initiativen. 

Doch um dies erfolgreich zu praktizieren, braucht es auch ein Umdenken und die Anpassung der Entwicklungspartner*innen: Denn gerade die am stärksten von Hunger betroffenen lokalen Gemeinschaften benötigen aufgrund der sie einschränkenden Rahmenbedingungen flexiblere und langfristigere Initiativen, um lokale Governance von Ernährungssystemen nachhaltig zu stärken. 

Nicht nur die Verschärfung der weltpolitischen Lage macht es notwendig, noch mehr auf lokale Lösungen zu setzen und die Menschen auch auf dieser Ebene als Akteur*innen statt Hilfeempfänger*innen einzubinden. 

Tendai Saidi vom Civil Society Agricultural Network in Malawi fasste den Themenkomplex um lokale Governance zur Transformation der Ernährungssysteme in der WHI Global Launch-Paneldiskussion treffend zusammen: „Die Macht muss sich auf die Menschen verlagern. Sie müssen wissen, dass Nahrung kein Privileg, sondern ein Recht ist – und sie müssen in der Lage sein, dieses Recht einzufordern." 

Transformation auf allen Ebenen 

Es muss jedoch der Vorstellung widerstanden werden, die Transformation der Ernährungssysteme allein der lokalen Ebene aufzubürden. Veränderungen können nur eingeleitet werden, wenn die Transformation auf allen Ebenen stattfindet. Das große thematische Gewicht der Transformation von Ernährungssystemen zeigt sich aktuell darin, dass es jüngst auch beim G20-Treffen der Schwellenländer behandelt wurde und selbst bei der Klimakonferenz COP27 die Wichtigkeit von Nahrung und Landwirtschaft für das Klima erstmalig auf der Tagesordnung stehen wird. 

Jedoch gilt es, einen Balanceakt zwischen dem Bedarf an humanitärer Hilfe, die weiterhin notwendig ist, und langfristigen Investition in Entwicklung zu vollziehen. Damit dies gelingt, appelliert Danielle Resnik, dass sich Länder durch die Reaktion auf Krisen nicht von ihren politischen Zielsetzungen für eine Transformation des Ernährungssystem abbringen lassen. Sie sollen Krisen als Stresstest der Ernährungssysteme, durch die Aufdeckung der wichtigsten Schwachstellen, begreifen – um in der Folge die Transformationsmaßnahmen anpassen zu können. 

Falls dies gelingt, könnte noch Hoffnung für Zero Hunger bestehen. 

Porträt: Dirk Ebach, Team Policy & External Relations
Dirk Ebach Team Policy & External Relations
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