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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 02/2022

Die Schlacht der Zitronen gegen Kartoffelchips

In Mexiko sind drei Viertel der Bevölkerung zu dick. Nahrungsmittelkonzerne diktierten die Regeln der Ernährung – bis eine Bürgerallianz Steuern und Kennzeichnungspflicht erkämpfte.

Schulkinder beim Kauf von Süßigkeiten. Fast jeder dritte Mexikaner ist übergewichtig – eine der höchsten Raten der Welt. © Sandra Weiss

Zum letzten Allerheiligen ließ sich Mexikos Allianz für gesunde Ernährung etwas Pfiffiges einfallen: Vor dem Revolutionsdenkmal in Mexiko-Stadt installierte die Bürgerorganisation einen Totenaltar. Das ist zu der Zeit an sich nichts Besonderes: Ende Oktober stellen Behörden, Schulen und Unternehmen im ganzen Land solche Gedenkstätten auf. Aber der Altar der Allianz war ungewöhnlich dekoriert: mit Fastfood und Softdrinks, statt mit Kerzen und Totenbrot. Flankiert wurde er von Aktivisten, die als Skelette geschminkt waren und Kleider mit den Logos der großen Nahrungsmittelkonzerne trugen.

„Wir wollen die Passanten darauf aufmerksam machen, dass falsche Ernährung der Hauptgrund ist für Übergewicht und Diabetes“, sagte Alejandra Contreras, Sprecherin der Organisation. Nach den USA ist Mexiko das Land mit den meisten Übergewichtigen und Diabetikern weltweit. 75 Prozent der 126 Millionen Mexikaner haben Übergewicht. Schon jedes dritte Kind ist zu dick. 2020 starben offiziellen Statistiken zufolge über 150.000 Mexikaner an Diabetes, dreimal so viel wie noch vor 20 Jahren. 80 Prozent der Todesfälle sind auf Übergewicht zurückzuführen, schlägt die Allianz Alarm. Besonders bemerkbar machte sich dies während der Pandemie. Die Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufs war bei Diabetikern um 87 Prozent erhöht.

Das schreckte auch die Regierung auf. Präsident Andrés Manuel López Obrador, ein erklärter Fan mexikanischer Hausmannskost, legte seinen Landsleuten ans Herz, „so natürlich wie möglich“ zu essen und auf Fastfood und Fertiggerichte möglichst zu verzichten. Die Behörde für Verbraucherschutz drehte ein Video mit Schauspielern, die als Zitronen, Pfirsiche und Mais verkleidet eine epische Schlacht gegen Covid-Viren, Süßgetränke und Tüten von Kartoffelchips  gewinnen. 

Nafta krempelt Landwirtschaft um

Die Schlacht kommt aus Sicht von Ernährungsexperten allerdings ein Vierteljahrhundert zu spät. 1994 schloss Mexiko mit Kanada und den USA das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta). Die Eingliederung in die größte Freihandelszone der Welt brachte Fertigungsstätten, Luftfahrt- und Autokonzerne ins Land und krempelte die Landwirtschaft um. Bis zu diesem Zeitpunkt prägten kleinbäuerliche Höfe die Agrarlandschaft Mexikos. Sie stellten vor allem die lokale und regionale Selbstversorgung sicher.

Der traditionelle Speiseplan der Mexikaner basierte auf Mais, Bohnen, Tomaten, Chilischoten und frischen Obstsäften. Nach 1994 entstanden bäuerliche Großbetriebe, die sich auf den Export bestimmter Produkte wie Beeren, Paprika oder Avocados in die USA spezialisierten. Sie kauften immer mehr Land, viele Kleinbauern waren nicht mehr wettbewerbsfähig und zogen in die Peripherie der Städte.

Zugleich nutzten US-amerikanische Lebensmittelkonzerne den Wegfall der Importzölle. Mit ausgefeilten Werbekampagnen eroberten sie den neu geöffneten Markt. Erfrischungsgetränke, Kekse und Kartoffelchips bargen nicht nur den Reiz des Neuen, sondern galten als Statussymbole für den gesellschaftlichen Aufstieg. Bald kopierten auch mexikanische Konzerne das erfolgreiche Konzept, einige bekannte davon sind Bimbo (Backwaren) und Lala (Milchprodukte). Flankierend zur Werbung wurden ausgeklügelte dezentrale Strategien der Logistik entwickelt, um die Produkte zu den Menschen zu bringen.

Ende der 1990er Jahre lebten viele Indigene und Kleinbauern noch in Lehmhütten, ohne Strom und Wasseranschluss, erreichbar nur über Schotterpisten. Schneller als der Staat waren die Getränkekonzerne vor Ort. Selbst in den abgelegensten und ärmsten indigenen Dörfern im Bundesstaat Chiapas waren an der Schwelle zum neuen Jahrtausend die Flaschen mit der berühmten braunen Brause zu kaufen. Manche Mütter füllten sie sogar ihren Babies in Fläschchen.

Dramatische Versäumnisse in Ernährungspolitik

Experten mahnten, doch Politiker schlugen die Warnungen in den Wind. Es änderte sich auch nichts an dieser Haltung, als im Jahr 2000 die 70-jährige Einparteienherrschaft der PRI zu Ende ging. Verwunderlich war das nicht: Der siegreiche, konservative Oppositionskandidat Vicente Fox war ein ehemaliger Coca-Cola-Manager.

Die Bilanz der Versäumnisse in der Ernährungspolitik ist dramatisch. Dem mexikanischen Staat entstehen durch die weite Verbreitung von Übergewicht nach Angaben der World Obesity Federation Einbußen von 2,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Bis zum Jahr 2060 könnten die Kosten dieser Studie zufolge auf 4,6 Prozent steigen – mit einer Bevölkerung, die zu 88 Prozent übergewichtig ist.

Die Politik reagierte zu langsam. Jahrelang debattierte der Kongress. Erst 2014 wurde eine achtprozentige Steuer auf Erfrischungsgetränke, Fastfood und ungesunde Snacks verhängt. Als treibende Kraft dahinter stand die 2012 gegründete Allianz für Gesunde Ernährung, ein Dachverband, dem Verbraucherschützer, Ärzte, Kleinbauern, Indigene, Menschenrechtler und Umweltschützer angehören. „Wir waren frustriert, weil die Regierungen immer nur den Diskurs der Industrie nachbeteten, dass Regulierung Arbeitsplätze kostet und die Ernährung in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt“, sagt Paulina Magaña, Ernährungsexpertin von der Verbraucherschutzorganisation Poder del Consumidor.

Die Steuer war ein wichtiger Schritt. Schon im ersten Jahr ging der Verbrauch von Süßgetränken nach Universitätsstudien um 12 Prozent zurück. Die Industrie behauptete öffentlich, das sei falsch, der Konsum sei im Gegenteil noch gestiegen. Ihre Lobbyarbeit in den Hinterzimmern im Kongress für die Abschaffung der Steuer blieb erfolglos. Dennoch war die Allianz frustriert. Sie hatte – im Einklang mit Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation – für eine Steuer von 20 Prozent plädiert. Doch das konnte sie bislang nicht durchsetzen. Ebensowenig wie eine Anbindung an die Inflation. Ein angestrebtes Verkaufsverbot von Süßigkeiten und Fastfood an Schulen scheiterte ebenfalls im Kongress. Lediglich die Portionen musste der Einzelhandel verkleinern. Deshalb findet man in Mexiko nun Mini-Chipstüten von 18 Gramm Inhalt und Getränkedosen von 120 Milliliter.

Regale voller Süßigkeiten in Mexiko. Eine Sondersteuer gibt es jetzt auch in anderen Ländern. © Sandra Weiss

Um Kennzeichnungspflicht gerungen

Ein ähnlich langes Tauziehen wie um die Steuer folgte um die Kennzeichnungspflicht bei Lebensmitteln. Erst im Oktober 2020, bereits vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie und nach einem Linksruck in der Volksvertretung, wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet, das sich an Standards der Weltgesundheits- und Welternährungsorganisation orientiert. Seither warnen fette, schwarze Sechsecke auf den Packungen von Lebensmitteln, die zu viel Zucker, zu viel Fett oder zu viele Kalorien enthalten – und somit die Gesundheit gefährden. Enthält ein Produkt Kaffein oder Süßstoffe, muss davor ebenfalls gewarnt werden. Werbung mit Comic-Figuren auf Packungen – die vor allem Kinder ansprechen – ist verboten, ebenso generell Werbung für ungesunde Nahrungsmittel für Kinder.

Rund ein Jahr lang besteht die Regelung nun, und Magaña ist mit dem Ergebnis zufrieden: „Unser Hauptziel war es, die Konsumenten über die Lebensmittel zu informieren. Nun haben wir zudem bei Stichproben festgestellt, dass die Konzerne bei 56 Prozent ihrer Produkte die Zusammensetzung geändert haben, um nicht mehr drei fette Warndreiecke zu haben, sondern vielleicht nur noch zwei oder eines.“ Solche Versprechungen hatte die Industrie schon früher immer mal wieder gemacht – umgesetzt wurden sie aber nie. Was die Etikettierung in den Augen von Magaña auszeichnet, sind die strengen Kontrollen durch den Verbraucherschutz und die Gesundheitsbehörde Cofepris, die nicht davor scheuen, heftige Geldstrafen zu verhängen oder Produkte vom Markt zu nehmen, wenn sie gegen die Regeln verstoßen.

Ein Straßenstand mit Kuchen im Angebot. Gewohnheiten ändern sich schwer. © Sandra Weiss

Inzwischen interessieren sich auch manche Gouverneure für Gesundheitspolitik. In vielen Städten gibt es nun Fitnessgeräte in öffentlichen Parks; in der Hauptstadt findet man sie sogar an Bushaltestellen. Im Bundesstaat Oaxaca beschloss der Kongress soeben, den Verkauf von ungesunden Snacks an Minderjährige und in Schulen zu untersagen. Magaña begrüsst diese Initiative, ist aber angesichts der Umsetzung skeptisch. „Bisher ist unklar, wer das überprüft und sanktioniert. Die meisten Schulen verkaufen einer von uns gemachten Erhebung zufolge weiterhin solche Snacks.“

Das mag daran liegen, dass die Zwischenmahlzeiten gerade bei den geringverdienenden Grundschullehrern auf dem Land eine beliebte Methode sind, ihr Einkommen aufzubessern. Weder das Bildungsministerium noch die Lehrergewerkschaft entwickeln für gesunde Ernährung besonderes Engagement. Der Vorschlag der Allianz, eine verbindliche Einheit über gesunde Ernährung im schulischen Lehrplan zu verankern, verlief bislang im Sande. Als ein „großes Problem“ empfindet Magaña zudem, dass die Nahrungsmittelindustrie die Lehrer mit Material flutet und Ausflüge in ihre Produktionsstätten anbietet.

Epidemie in Lateinamerika

Mexiko ist nicht allein. Ganz Lateinamerika leidet nach Angaben der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS) unter einer Epidemie von Übergewicht. Der Kontinent wurde für die internationalen Lebensmittelkonzerne zu einem wichtigen Absatzmarkt, nachdem in den USA und Europa im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Verkaufszahlen stagnierten. Einer OPS-Studie zufolge stieg in Lateinamerika zwischen 2000 und 2013 der Konsum von Konservierungs- und Farbstoffen, von Zucker, gehärteten Fettsäuren und Zusatzstoffen um 40 Prozent. Während in diesem Zeitraum in den USA der Umsatz von Lebensmitteln mit diesen Inhaltsstoffen nur um 2,3 Prozent zulegte, waren es in Lateinamerika 48 Prozent.

Geringere Lebenserwartung in Jahren, mit und ohne Behinderung. Quelle: The Heavy Burden of Obesity, OECD, Oktober 2019 © OECD

Inzwischen haben viele Regierungen reagiert. Auch in Peru, Uruguay, Chile, Ecuador, Kolumbien und Costa Rica wurden strengere Gesetze für ungesunde Nahrungsmittel verabschiedet. Die Ergebnisse sind größtenteils positiv. In Ecuador beispielsweise, das 2014 als erstes Land des Kontinents eine Lebensmittelampel einführte, sank der Verkauf von Produkten mit hohem Gehalt an Salz, Zucker oder gesättigten Fettsäuren im ersten Jahr um 35 Prozent. In Chile sank einer Studie mehrerer Universitäten zufolge vier Jahre nach Einführung der Etiketten der Konsum von gezuckerten Getränken um 23 Prozent, während der von Wasser und ungesüßten Fruchtsäften um 5 Prozent zulegte.

Auch die Steuer bringt Positives, sagt Anselm Hennis von der OPS. „Sie bringt Geld in die Staatskasse, das dann wiederum für Aufklärungskampagnen eingesetzt werden kann“, erklärte er bei der Vorstellung einer Studie darüber. Inzwischen haben 21 Länder in Lateinamerika und der Karibik zuckerhaltige Getränke mit einer Sondersteuer versehen. In Chile sank daraufhin der Absatz solcher Getränke im ersten Jahr um 3,4 Prozent, in Barbados um 4,3 Prozent. Sollte sich diese Tendenz auch mittelfristig fortsetzen, wird nicht nur die Volksgesundheit davon profitieren, ist Hennis überzeugt, sondern auch die Unternehmer. Auch ihre Arbeiter würden weniger selten krank. Langfristig werde der Staat Geld für die Behandlung von Zivilisationskrankheiten einsparen.

Für Magaña bleibt aber noch viel zu tun. „Übergewicht ist ein komplexes Problem, das mit dem gesamten Umfeld zu tun hat“, sagt sie. „Wir brauchen eine integrierte Strategie.“ Dazu gehören ihr zufolge Aufklärungskampagnen, ein Verbot von ungesunden Lebensmitteln an Schulen sowie das Aufstellen von Trinkwasserspendern. Frische Lebensmittel müssten leichter zu erwerben sein als ungesunde. Und ein bisschen Geduld brauche man auch, appelliert sie: „Denn Gewohnheiten ändern sich nur langsam.“

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