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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 12/2023
  • Dr. Marlene Ohlau, Alexander Müller

Versteckte Kosten der Ernährung: Nachhaltiger Wandel braucht nachhaltige Wirtschaftssysteme

Ein FAO-Bericht lässt erahnen, welchen Preis die Nebenwirkungen unserer Lebensmittelproduktion sozial, ökologisch und gesundheitlich wirklich haben. Aber wie kann die Wende beginnen?

Wahre Kosten: Unangemessener Einsatz von Pflanzenschutzmittel kann Umwelt und Gesundheit schädigen. © Tamina Miller via Flickr CC BY-NC 2.0 DEED

Lebensmittel sichern unser aller physiologisches Überleben. Ihre Produktion, Verteilung und Konsum haben zugleich weitreichende ökonomische Bedeutung. Die stellt sich je nach Perspektive sehr unterschiedlich dar: So wird der Agrarindustrie zugeschrieben, dass sie im Anbau, der Verarbeitung von agrarischen Produkten zu Lebensmitteln und ihrem Vertrieb die Arbeitsplätze von mehr als einer Milliarde Menschen sichert. Von anderer Seite wird die unverzichtbare Bedeutung von kleinbäuerlicher Landwirtschaft für den Lebensunterhalt von 2,5 Milliarden Menschen hochgehalten – für die eigene Versorgung und die der Stadtbewohner:innen durch lokale Märkte.

So wird auf unterschiedliche Weise die Bedeutung des Sektors für das Wohlergehen, für soziale Beziehungen, für das Einkommen und für den Umgang mit natürlichen Ressourcen dargestellt und mit der Relevanz für das Bruttosozialprodukt untermauert. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzte die globale Wertschöpfung der Lebensmittelbranche im Jahr 2020 auf 9 Billionen US-Dollar und damit auf etwa neun Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.

Diese klassische ökonomische Betrachtung vernachlässigt jedoch in systematischer Art und Weise die versteckten Kosten unseres Wirtschaftens. Die Gesamtheit der ökonomischen Tätigkeit – und damit auch das globale Ernährungssystem – verursachen ökologische oder gesundheitliche Folgekosten, die in unserer standardisierten Rechnungslegung nicht erfasst werden. All diese Nebenwirkungen wie Umweltverschmutzung, Biodiversitätsverlust, globale Erwärmung oder ernährungsbedingte Krankheiten samt Behandlungskosten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes Typ 2 werden als versteckte Kosten bezeichnet. Aber auch Sozialleistungen aufgrund von zu niedrigen Löhnen werden in der herkömmlichen Betrachtung externalisiert.

Nur die Spitze des Eisbergs

Die Kosten werden der Gesellschaft aufgebürdet. Im Alltag sind sich Menschen, Unternehmen und Regierungen oft nicht bewusst, welche Auswirkungen insbesondere Ernährungsentscheidungen darauf haben können, wie nachhaltig Agrar- und Ernährungssystemen sind, oder nicht. Die gewöhnlich sichtbaren Kosten an der Supermarktkasse sind nur die Spitze des Eisbergs.

Der kürzlich erschienene FAO-Bericht "The State of Food and Agriculture" 2023, kurz SOFA, hat diese „wahren Kosten“ genauer betrachtet. Unter dem Titel "Revealing the true cost of food to transform agrifood systems" befasst sich der SOFA-Bericht mit dem so genannten True Cost Accounting (TCA), also der Berechnung der versteckten Auswirkungen von Agrar- und Ernährungssystemen – ob positiv oder negativ. Es handelt sich dabei um reale Kosten, die früher oder später bezahlt werden müssen, die aber nicht in das vorherrschende System der Erfassung der ökonomischen Folgen unseres Wirtschaftens einfließen.

Die FAO schätzt in einer ersten Bewertung auf nationaler Ebene für 154 Länder – für den Folgebericht SOFA 2024 sind vertiefte Berechnungen geplant – die globalen versteckten Kosten auf mindestens 10 Billionen Dollar pro Jahr. Eine gewaltige Zahl, deren Relevanz deutlich wird, wenn man bedenkt, dass der Marktwert aller weltweit konsumierten Lebensmittel auf 9 Billionen Dollar geschätzt wird. Das bedeutet, dass wir die gleiche Summe und mehr aufwenden müssen, um die Nebenwirkungen unserer Lebensmittelproduktion und unseres Konsums zu begleichen. Diese versteckten Kosten entstehen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Lebensmitteln und werden heute nicht von den Verursachern getragen. Sie müssen letztlich von der Gesellschaft, insbesondere von Menschen im Globalen Süden und von zukünftigen Generationen geschultert werden. Die FAO unterstreicht daher in dem SOFA-Bericht die dringende Notwendigkeit, diese versteckten Kosten bei der Gestaltung der Ernährungswende zu berücksichtigen.

Abbildung 1: Wertschöpfung und schädliche Nebenwirkungen

Eigene Darstellung nach Lord (2023) und FAO (2023). Diese Übersetzung wurde nicht von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erstellt. Die FAO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Die englische Originalausgabe ist die maßgebliche Ausgabe. © TMG Think Tank for Sustainability

Versteckte Kosten setzen sich zusammen aus Umwelt-, Gesundheits- und Sozialkosten. Umweltkosten, die durch landwirtschaftliche Lebensmittelsysteme verursacht werden, machen etwa ein Fünftel der versteckten Kosten aus. Doch sind diese Kosten mit einem voraussichtlichen Wert von fast 2,9 Billionen Dollar im Jahr (kaufkraftbereinigt für 2020) laut der FAO wahrscheinlich unterschätzt. Mehr als die Hälfte der versteckten Umweltkosten entfällt auf Stickstoffemissionen, gefolgt von Treibhausgasen, Landnutzungsänderung und Wasserverbrauch. Allein in Deutschland belaufen sich die versteckten Umweltkosten des Ernährungssystems auf rund 30 Milliarden Dollar pro Jahr – das ist fast anderthalbmal so viel wie die Wertschöpfung der deutschen Landwirtschaft (22,2 Milliarden Dollar Brutto in 2020).

Auf Gesundheitskosten entfällt der mit Abstand größte Anteil. Mehr als 70 Prozent, so der Bericht, werden durch ungesunde Ernährungsgewohnheiten verursacht. Diese Kosten variieren stark von Land zu Land und sind in Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen am höchsten. Hierzulande leiden Menschen an Krankheiten, die auf Über- und Fehlernährung zurückzuführen sind. Wir essen zu viel, zu fett, zu süß und nehmen zu viel industriell verarbeitete Lebensmittel und Fleisch zu uns. Ernährungsgewohnheiten stehen in Verbindung mit der Entstehung nicht übertragbarer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ II und Krebserkrankungen. Sie zu behandeln, kostet viel Geld – nicht nur dem Gesundheitssystem. Verluste in der Produktivität aufgrund von ernährungsbedingten Krankheiten schlagen sich negativ in der Wirtschaftsleistung nieder. Sowohl ungesunde Ernährungsmuster als auch Unterernährung führen zu Arbeitsausfällen.

Abbildung 2: Aufteilung der versteckten Kosten

Eigene Darstellung nach FAO (2023). Diese Übersetzung wurde nicht von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erstellt. Die FAO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Die englische Originalausgabe ist die maßgebliche Ausgabe. © TMG Think Tank for Sustainability

Während jedoch die versteckten Kosten ungesunder Ernährungsgewohnheiten der Industriestaaten der Gesundheitsdimension zugeordnet werden, ordnet der Bericht die Kosten von Unterernährung (und Armut) der sozialen Dimension zu. Die sozialen Auswirkungen machen demnach mit insgesamt vier Prozent den kleinsten Anteil der versteckten Kosten aus. Allerdings sind diese sozialen Kosten besonders in Entwicklungsländern aufgrund des Einflusses von Armut und Unterernährung besonders hoch.

Versteckte Kosten treffen besonders arme Länder

Die globale Zusammenfassung der versteckten Kosten der Agrar- und Ernährungssysteme verbirgt erhebliche Einkommensunterschiede zwischen den Ländern, die eine Schlüsselrolle spielen, wenn man diese Kosten reduzieren will (siehe Abbildung 3). Absolut gesehen wird der Großteil dieser Kosten in Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen verursacht. Nichtsdestotrotz stellen die versteckten Kosten relativ gesehen für Länder mit niedrigem Einkommen die größere Belastung dar. Betrachtet man sie als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP), wird ihre Belastung für die Volkswirtschaften deutlich. So entsprechen die quantifizierten versteckten Kosten weltweit im Durchschnitt knapp 10 Prozent des BIP. In einkommensschwachen Ländern ist dieser Anteil mit durchschnittlich 27 Prozent jedoch weitaus höher. Im Vergleich liegt er in Ländern mit mittlerem Einkommen bei etwa 11 Prozent, in Ländern mit hohem Einkommen bei 8 Prozent des BIP.

Zurückzuführen ist dies auf die Produktionsweise von Lebensmitteln, die sich zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern wesentlich unterscheiden. In Industrieländern ist die Wirtschaft – insbesondere auch die Landwirtschaft – kapitalintensiv, in Entwicklungsländern hingegen ist sie arbeitsintensiv. Damit ist in den ärmeren Ländern der Anteil der Arbeit und auch der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt höher. Zugleich sind hungernde und unterernährte Menschen weniger produktiv: Damit ist schlechte Ernährung – hier ausgedrückt als versteckter Kostenfaktor von (Fehl-)Ernährung und Hunger – nicht nur ein individuelles und humanitäres Problem, sondern auch ein Hindernis für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.

Abbildung 3: Versteckte Kosten nach Einkommen der Länder

Eigene Darstellung nach FAO (2023). Diese Übersetzung wurde nicht von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erstellt. Die FAO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Die englische Originalausgabe ist die maßgebliche Ausgabe. © TMG Think Tank for Sustainability

Die FAO-Ergebnisse zeigen, dass primär reiche Länder an einer Umgestaltung ihrer Ernährungsweise arbeiten müssen. Dabei birgt ein geringerer Fleischkonsums das größte Potential, um Treibhausgase und Landnutzungen drastisch zu reduzieren und gleichzeitig positive Gesundheitseffekte zu erzielen. Damit wird auch deutlich, dass das westliche Ernährungssystem keinesfalls als Vorbild oder Ideal in andere Regionen exportiert werden sollte. Für Entwicklungsländer bestätigt sich, dass die Bekämpfung von Armut und Hunger zentrale Pfeiler im Entwicklungsprozess sein müssen, um langfristig die versteckten Kosten zu senken.

Wie können versteckte Lebensmittelkosten gesenkt werden?

Die Methode True Cost Accounting (TCA), oder wahre Kostenrechnung, zielt darauf ab, die Auswirkungen von Produktionsmethoden und Konsumverhalten auf Umwelt und Gesellschaft zu analysieren und zu quantifizieren, um die gesamten Kosten und Nutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung sichtbar zu machen. Als interdisziplinärer Systemansatz analysiert TCA die Ernährungssysteme ganzheitlich und berücksichtigt die Verknüpfung von Wirtschaft-, Umwelt-, Gesundheits- und Sozialsystemen.

Die FAO betont das Potenzial von TCA als Katalysator für den Wandel – ein Instrument, um die versteckten Kosten aufzudecken und damit sowohl politische Entscheidungsträger zu informieren als auch die Wertschöpfung von Agrar- und Ernährungssystemen zu verbessern. Die neuen Schätzungen des SOFA-2023-Berichts auf nationaler Ebene sollen helfen, erste Ansatzpunkte für die Priorisierung von Maßnahmen und Investitionen zu identifizieren, während der folgende SOFA-2024-Bericht detailliertere Fallstudien für Wertschöpfungsketten und Länder – und entsprechende politische Handlungsempfehlungen bereitstellen wird.

Generell geht es darum, die Kosten unseres unnachhaltigen Ernährungssystems nicht zu sozialisieren und auf die Gesellschaft zu verlagern. Wenn der politische Wille gegeben ist, kann Regierungspolitik auf der Grundlage von TCA-Analysen Änderungen vornehmen, die die versteckten Lebensmittelkosten zurückführen und die Kosten für die Gesellschaft senken: Mögliche Wege sind Regulierung oder Besteuerung von Lebensmitteln, Änderungen bei der Subventionierung, oder im besten Fall ein Maßnahmenmix bestehend aus Verursacherprinzip und Nutznießerprinzip. Zum Beispiel werden nach Schätzungen der Weltbank jährlich bis 600 Milliarden US Dollar für die Subventionierung der Landwirtschaft ausgegeben, deren Umwidmung den Abbau von versteckten Kosten nachhaltig unterstützen könnte.

Zu den notwenigen Maßnahmen gehört auch, dass die Rechnungslegung von Unternehmen die versteckten Kosten nicht ignorieren darf. Stattdessen müssen Risiken in Bezug auf das Natur-, Sozial-, und Humankapital in den Lagebericht aufgenommen werden und sich deren Abbau positiv in der Unternehmensbilanz ausdrücken.

Unternehmen müssen aber nicht zwingend auf politischen Aktionismus warten, sondern können durch Pionierarbeit die Transformation durch TCA anstoßen. TCA bietet der Privatwirtschaft die Basis, über die wahren Kosten von Produkten zu informieren. Sie können zudem die Herstellungsweise von Lebensmitteln so verändern, dass weniger versteckte Kosten entstehen – und damit ihren Nachhaltigkeitswert und die Zukunftsfähigkeit an Investoren kommunizieren. Dies ist heute schon auf freiwilliger Basis möglich. Im Hintergrundpapier "The role of true cost accounting in guiding agrifood businesses and investments towards sustainability", erstellt von TMG Research, werden Unternehmen aufgezeigt, die TCA in unterschiedlicher Anwendung pilotieren.

Gemeinsam für eine nachhaltige Wirtschaftsrevolution

TCA schafft einen Ansatzpunkt für umfassende Neubewertungen von Ernährungssystemen und Businessmodellen. Doch erfordert eine wirksame Implementierung ein hohes Maß an sektorübergreifendem Know-how. Aufgrund der Interdisziplinarität und Neuheit des Ansatzes erfordert die Weiterentwicklung und praktische Umsetzung ein breites Netzwerk von Akteur:innen. Es gilt, Wissen und Lösungsansätze aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Fachgebieten zusammenzubringen, um kollektiv an der Skalierung dieses nachhaltigen Wirtschaftsansatzes zu arbeiten.

Um diesen Anspruch umzusetzen, haben TMG Research mit Partner:innen aus der Wissenschaft (Regionalwert Research, Technische Hochschule Nürnberg) und der Zivilgesellschaft (Misereor) die TCA Alliance ins Leben gerufen. In der Plattform sollen mit finanzieller Unterstützung Interessensgruppen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft TCA weiterentwickeln, pilotieren und in der Praxis allgemein anwendbar machen. Um die Mechanismen der Wirtschaft durch TCA nachhaltiger zu gestalten, spielen standardisierte Methoden und Werkzeuge eine entscheidende Rolle. Vernetzte Stakeholder können zudem gezielt Forschungsschwerpunkte setzen. Die TCA Alliance versteht sich somit als eine Anlaufstelle, um konkrete Zukunftsschritte zu planen.

Dr. Marlene Ohlau TMG Thinktank
Portrait Alexander Müller, TMG
Alexander Müller TMG - Töpfer, Müller, Gaßner GmbH, ThinkTank for Sustainability, Berlin
Olivia Riemer TMG, Thinktank for Sustainability

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