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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 06/2023
  • Martin Häusling

Nur eine konsequente EU-Agrarwende sichert Ernährungssouveränität

Flex-Crops als Spielball der Geldanlage und energetische Biomasse aus „Non-Food-Land“ sind nur zwei Schwachstellen im Ernährungssystem, mit denen Europa sich schwer tut.

Der grüne Abgeordnete Martin Häusling bei einer Agrardebatte im Europaparlament. © European Union 2023

Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, wie anfällig das globale Ernährungssystem ist. Durch den weitgehenden Ausfall der ukrainischen Getreidelieferungen und darauffolgende Preisspekulationen hat sich die globale Hungerkrise nochmals verschärft. Die Klimakatastrophen durch Dürren und andere Wetterextreme sind in großen Teilen der Welt ein zweiter massiver Treiber der Ernährungskrise.

Nicht nur der Mangel an ausreichendem Getreide sorgt für Hunger, sondern vor allem hohe Preise machen aus Armut Hunger, denn die Spekulationen auf den Agrarmärkten sind für einen Teil der extremen Preisanstiege verantwortlich. So geht auch der Berner Ökonom Gunter Stefan davon aus, dass Ukraine-Krieg und Knappheit nicht allein die Preise für Agrarrohstoffe ab März 2022 auf Rekordniveau getrieben haben. „Man nimmt an, dass die Spekulanten bis zu 30 Prozent am Markt beteiligt sind und die Preise entsprechend hochtreiben.“

Der Sonderbericht "Another Perfect Storm? von IPES Food, einem Zusammenschluss von Experten der Nahrungsmittelkette mit Sitz in Brüssel, befasste sich im Mai 2022 mit den kritischen Faktoren, die den Hunger in der Welt anheizen – und was dagegen getan werden kann. Die Weltmarktpreise für Lebensmittel erreichten von Februar bis Mai 2022 Rekordhöhen, was Länder und Bevölkerungen mit unsicherer Ernährungslage hart traf. Der Bericht macht grundlegende Mängel in den globalen Lebensmittelsystemen – wie die starke Abhängigkeit von Lebensmittelimporten und übermäßige Rohstoffspekulationen – für die durch die Invasion in der Ukraine ausgelöste Eskalation der Ernährungsunsicherheit verantwortlich. Diese Schwachstellen seien nach der vorangegangenen Lebensmittelpreiskrise in den Jahren 2007-8 aufgedeckt, aber nicht behoben worden, so die Experten. Sie nennen die Getreidemärkte „undurchsichtig, dysfunktional und spekulationsanfällig“.

Black Box Getreidebestände

Bedeutende Getreidereserven befänden sich im Besitz privater Unternehmen, von den "ABCD" der Getreidehandelsriesen – Archer-Daniels Midland, Bunge, Cargill, Dreyfus – bis hin zu den Betreibern lokaler Silos und sogar einzelnen Landwirten, geben die IPES-Experten weiter zu bedenken. Obwohl es den Getreidehandelsriesen möglich wäre, riesige Mengen an Marktdaten zu sammeln, sind diese Firmen nicht verpflichtet, ihr Wissen über die globalen Märkte, einschließlich ihrer eigenen Getreidebestände, offenzulegen. Da auf die ABCD 70-90 Prozent des weltweiten Getreidehandels entfallen, dürften ihre Reserven beträchtlich sein.

Mit zunehmenden Rohstoffspekulationen hätten sie einen klaren Anreiz, ihre Bestände zurückzuhalten, bis die Preise ihren Höhepunkt erreicht haben, so der IPES-Bericht. In ihrem Bericht „Profiting from Pain“ weist die Organisation Oxfam darauf hin, dass die Gewinne der Agrarhändler in den vergangenen Jahren extrem gestiegen sind: Cargill etwa fuhr 2021 mit 5 Mrd. Dollar den größten Nettogewinn der Firmengeschichte ein.

Was folgt daraus? Eine Welt, die aufgrund des Klimawandels und anderer Krisen mit zunehmenden Produktionsunterbrechungen und instabilen Lebensmittelpreisen konfrontiert ist, braucht einen größeren öffentlich zugänglichen Puffer, als sie ihn derzeit hat, schlussfolgert Oxfam. Die Welt sei aktuell schlecht vorbereitet. Das zeige sich bei den Nahrungsmittelhilfen, wo sich die Lücke zwischen erforderlichen und vorhandenen Mitteln laut Oxfam seit 2001 verdreifacht hat. Die globalen Getreidevorräte befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Mit ihnen lassen sich, so die Sorge, plötzliche Preissprünge wegen Ernteausfällen infolge schwerer Dürren nicht mehr ausreichend abfedern.Es muss daher künftig über staatliche Vorratshaltung gesprochen werden. Auch in der EU gibt es in diesem Sinn allerdings keinerlei Initiativen.

Vertane Chance der EU

2017 haben Konservative und Liberale im Europaparlament strengere Regeln gegen Nahrungsmittelspekulationen, die von Sozialdemokraten, Grünen und Linken eingebracht worden waren, verhindert. Aktuell befinden sich eine Verordnung (Mifir) und eine Richtlinie (Mifid), die Passagen zu Spekulation enthalten, in einem Überarbeitungsprozess. Ein zentraler Punkt dabei sind die Positionslimits. Sie beschränken das Volumen, das ein einzelner Akteur auf einem Markt kaufen darf, beispielsweise für Soja, Weizen oder Reis. Damit sollen Preisausschläge verhindert werden.

Die Fraktion der Grünen ist die einzige Fraktion im Europäischen Parlament, die sich zum Thema ‚Einschränkung der Nahrungsmittelspekulation‘ engagiert. Auch von Seiten der EU-Kommission ist nicht zu erwarten, dass sie in nächster Zeit strengere Regeln für Finanzspekulation im Lebensmittelbereich festlegen wird. Sie setzt vielmehr auf Lockerung der Finanzvorschriften – und darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Märkte nicht einschränken zu wollen.

Das Geld sucht neue Anlagen

Derweil treibt der Investitionsdruck der Kapitalbesitzer aus dem Globalen Norden die Investitionsgrenze in immer neue „Frontier Markets“ voran, sowohl geographisch als auch sektoral. Seit der Finanzkrise 2007 sind Investoren verstärkt auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten für in Umlauf befindliches Kapital. Die anhaltende Niedrigzinsphase und hohe Liquidität im Finanzmarkt mchten den Agrarbereich für Investoren immer interessanter. Hohe Renditen bieten mittlerweile auch Agrarfonds, in denen mit Nahrungsmitteln spekuliert wird.

Marktstudien zeigen, dass allein in der ersten Märzwoche 2022, also kurz nach Beginn des Ukrainekriegs, so viel Geld in Agrarfonds geflossen ist, wie sonst in einem ganzen Monat. Getreide, Ölsaaten und Eiweißpflanzen gehören heute zu den sogenannten „Flex-Crops“, die für jeden Bereich der "4 F" – Food, Feed, Fertilser, Fuel (Lebensmittel, Tierfutter, Düngemittel, Treibstoff) – zum Einsatz kommen können. Genau diese Flexibilität macht sie für Investoren so attraktiv.

Zugleich steigt der Anteil der Flächen, die „Non-Food-Land“ sind, also für energetische oder technische Biomasse genutzt werden, seit der Jahrtausendwende an, und dieser Trend setzt sich fort. Auf dem „freien“ globalen Markt entscheidet dann die größere Kaufkraft reicher Schichten und Länder, ob Nahrungsrohstoffe für Plastik, Agrartreibstoffe oder Futtermittel verwendet werden. Welche sozialen Auswirkungen das haben kann, zeigt das Beispiel der „Tortilla-Krise“ von 2007.

Die Tortilla-Krise

Die USA entschied damals, einen Großteil ihrer Maisproduktion nicht mehr nach Mexiko zu exportieren, sondern zur Ethanol-Herstellung zu nutzen. Verstärkt durch spekulatives Verhalten der Großhändler vervierfachte sich der Preis für Tortillas in Mexiko in wenigen Wochen, und viele Mexikaner konnten sich ihr Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Dies verdeutlicht, welche massiven Auswirkungen solche Umnutzungen auf das Ernährungssystem, die Verfügbarkeit von Nahrung in einzelnen Ländern und das Menschenrecht auf Nahrung haben können.

Lebensmittel in Trog & Tank

Spekulanten allein die Schuld an einer möglichen Hungerkatastrophe in die Schuhe zu schieben, ist jedoch zu kurz gesprungen: Etwa die Hälfte des weltweit produzierten Getreides wird für die Viehzucht oder die Kraftstoffproduktion (vor allem in Nord- und Südamerika) verwendet, was ebenfalls katastrophale Folgen für die Nahrungsmittelverfügbarkeit hat

Eine großer Teil von Nahrungsmitteln findet auch in Europa den Weg in den Tank. Schon 2012 berechnete die NGO Oxfam: Hätte man das Land, das für die EU-Produktion von Agrokraftstoffen allein in dem Jahr verwendet wurde, für den Anbau von Weizen und Mais genutzt, wären 127 Millionen Menschen ein ganzes Jahr davon satt geworden. Heute ist es deutlich mehr. Allein in Europa ist die Anbaufläche für Raps, die am häufigsten angebaute Ölsaat, zwischen 2003 und 2018 um 66 Prozent auf 6,8 Millionen Hektar angewachsen. Die Produktion von Ölsaaten in der EU hat nahezu 30 Millionen Tonnen erreicht. Sie wird hauptsächlich durch die Nachfrage an Agrodiesel angetrieben. Die Haupterzeuger von Raps sind Frankreich, Deutschland und Polen.

Heimischer Anbau Ölsaaten 2020 -2022

Quelle: EU-Kommission

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und andere Experten fordern, angesichts der sich abzeichnenden globalen Nahrungsmittelkrise, das Verbrennen von Lebensmitteln als sogenannter Agrokraftstoff in Motoren (für Sprit angebauten Raps, Getreide etc.) umgehend zu stoppen. Das sei kurzfristig eine der wirksamsten Stellschrauben, um dem erwarteten Ausfall von Getreide und Ölpflanzen aus der Ukraine und Russland und dem drohenden globalen Preisschock bei Grundnahrungsmitteln entgegenzuwirken.

Leider wurde eine entscheidende Möglichkeit, Agrotreibstoffe in der Europäischen Union einzuschränken, bei der Überarbeitung der Erneuerbaren Energien-Richtlinie nicht genutzt: Der Ministerrat und die EU-Kommission entschieden sich gegen ein schnelles Auslaufen von Agrotreibstoffen auf der Basis von Soja oder Palmöl. Das Europäische Parlament hatte sich dafür ausgesprochen, Agrotreibstoffe mit hohen indirekten Auswirkungen auf die Landnutzung (high ILUC) mit Inkrafttreten der neuen Verordnung zu Erneuerbaren Energien auslaufen zu lassen.

Doch viele wissenschaftliche Studien belegen inzwischen, dass Agrokraftstoffe das Klima insgesamt sogar mehr belasten können als fossile Kraftstoffe. 168 Wissenschaftler hatten schon 2011 in einem gemeinsamen Schreiben an die EU vor „Biosprit“ gewarnt.  Pflanzenenergie vom Acker ist keinesfalls klimafreundlich. „Biosprit als klimaneutral zu behandeln wird ganz klar nicht von der Wissenschaft unterstützt“, so die Forscher. Auch Non-Food-Ausgangstoffe sind häufig Reststoffe, wie Stroh oder Holzreste, die bei kompletter energetischer Nutzung beim Humusaufbau der Böden fehlen und daher keine Alternative bieten.

Der Internationale Getreiderat erwartet 2023 eine Ernte von 20 Millionen Tonnen Raps in der EU. © Claas via fb

Nur mehr Agrarökologie und Ökolandbau führt zu Ernährungssouveränität

Die infolge des Ukrainekriegs erhobenen Forderungen nach einem politischen Rollback hin zu einer weiteren Intensivierung der Landwirtschaft geht in die falsche Richtung. Was wir brauchen, ist keine Ausweitung der Produktion auf Kosten des Klimas und der Biodiversität, sondern eine zukunftsgerichtete bessere Anpassung unserer Agrarsysteme an Klimaextreme. Das bestätigt auch der aktuelle „Global Food Policy Report 2022“ – und das ermöglichen nur mehr Agrarökologie und Ökolandbau.

Auch 800 französische Experten für Ernährungssicherheit warnten im März 2022 in einem Artikel in "Le Monde", eine Steigerung der Produktion von Lebensmitteln durch industrielle Landwirtschaft, mit ihrer enormen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und energieintensiven chemischen Inputs, sei eine unlogische Reaktion auf eine Krise, die die schädliche Abhängigkeit Europas von russischem Öl, Gas und Düngemitteln erst offengelegt habe.

Das unter dem Vorwand höherer Ernährungssouveräntität erhobene Ansinnen, sämtliche sowieso rudimentären Nachhaltigkeitsauflagen in der Europäischen Agrarpolitik aufzugeben, gingen sämtlich von Anhängern und Profiteuren des agrarindustriellen Modells oder deren Interessenvertretern aus (IVA, Copa/Cogeca, Grain Club, Futtermittelindustrie, Fleischindustrie, EP-Fraktionen EVP/CDU/CSU oder  Renew/FDP). Mittel- und langfristig wäre jedoch ein Zusammenbruch der Ökosysteme die Folge.

Ebenfalls unter dem Deckmantel einer sehr spezifischen Interpretation der „Ernährungssouveränität“ hat u.a. der französische Bauernverband (FNSEA) in einem Kommuniqué festgestellt, dass die „Logik des Wachstumsrückgangs, wie sie von der europäischen Strategie 'vom Erzeuger zum Verbraucher' angestrebt wird, zutiefst in Frage gestellt werden muss".Zugleich will der Verband die Einrichtung ökologischer Rückzugsräume im Rahmen der Zahlung agrarpolitischer EU-Gelder zurücknehmen.

Die jährliche Großdemonstration "Wir haben es satt!" für eine Agrarwende in Berlin 2017. © BUND / Jörg Farys

Realitätsverweigerung….

Unzählige wissenschaftliche Studien, Sachverständigengutachten und Äußerungen europäischer Institutionen, wie beispielsweise des Europäischen Rechnungshofes belegen, dass nachhaltige, langfristige Ernährungssouveränität und -sicherheit nur mit einer Ökologisierung des Agrarmodells möglich ist.

Dass eine Abkehr vom Green Deal – und der "Farm to Fork"-Strategie – nicht zielführend ist, haben auch 85 NGOs in einem offenen Brief an EU-Kommissare betont. Die drei renommierten Agrarforscher Guy Pe'er, Sebastian Lakner und Jeroen Candel vom UFZ-Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, der Universität Rostock und der Universität Wageningen haben ebenfalls in einem Appell an die EU-Kommission auf den Zusammenhang zwischen dem Ukrainekrieg und der Biodiversitäts- und Klimakrise hingewiesen.

Darin heißt es: "Jede Reaktion auf die schockierenden Auswirkungen der Invasion in der Ukraine muss die größeren Risiken berücksichtigen... Wir plädieren nachdrücklich dafür, falsche Dichotomien zwischen Ernährungssicherheit und ökologischer Nachhaltigkeit zu vermeiden und klug auf den Schock zu reagieren, ohne die größeren Herausforderungen aus den Augen zu verlieren. Wir lehnen auch den produktionistischen Diskurs ab, der Ernährungssicherheit mit einer weiteren Intensivierung der Produktion gleichsetzt.

Eine weitere Intensivierung würde die Probleme für Boden, Wasser, Bestäubung und Schädlingsbekämpfung weiter verschärfen, so das Trio. Vielmehr sollte mehr darüber nachgedacht werden, wie eine optimale Zuteilung von Nahrungsmittelpflanzen zu erreichen ist, um sicherzugehen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen Vorrang vor weniger wichtigen Verwendungen haben. Dabei spiele auch die Nachfrage eine Rolle.

Die EU-Nachfrage nach Futtermitteln wirke sich auf die Weltmärkte aus, betonen sie, während von den eigenen Anbauflächen schon über 70 Prozent auf die Produktion von Futtermitteln und Kraftstoffen verwendet werden. Ein Teil der Anbauflächen könne sinnvoller genutzt werden, so der Appell, um die Nahrungsmittelknappheit in Entwicklungsländern zu bekämpfen. Der UN-Food Systems Summit 2021 hätte das vorantreiben können, ist aber aufgrund der massiven Einflussnahme von Konzernen, die an diesem Wandel gar kein Interesse haben, gescheitert.

Martin Häusling Europäisches Parlament

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