Kompass 2023: Bericht "zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik"
Warum die Steigerung der Entwicklungsfinanzierung die aktuelle Krise überdauern und die Entwicklungspolitik ihre Aufstellung zur SDG-Halbzeit überprüfen muss.
Der Kompass 2023 ist eine Jubiläumsausgabe. Als gemeinsame Publikation der Welthungerhilfe und terre des hommes stellt der Bericht die Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik im Jahr 2023 dar – numehr zum 30 Mal.
Die Herausforderungen, mit denen sich die Entwicklungspolitik konfrontiert sieht, wachsen von Jahr zu Jahr. Alles weist zudem darauf hin, dass die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen der nachhaltigen Entwicklung (SDG), die 2015 immerhin einstimmig von allen 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen – und nicht von besonders drängenden NROs – verabschiedet wurde, kaum noch zu verwirklichen ist.
Der Kompass behandelt in zwei umfangreichen Kapiteln zum einen die Frage, ob die Steigerung der Entwicklungsfinanzierung die aktuelle Krise überdauert, und zum anderen, ob die Entwicklungspolitik zur SDG-Halbzeit, angesichts der so genannten Zeitenwende, noch richtig aufgestellt ist.
Im Kapitel zur Entwicklungsfinanzierung fällt zunächst ein Rekordwert auf: 33,3 Mrd. Euro hat Deutschland 2022 für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben – so viel wie nie zuvor. Hinter den USA hatte Deutschland damit die zweithöchsten Entwicklungsausgaben aller Staaten im OECD-Entwicklungsausschuss (DAC). Hier beginnen jedoch bereits die Einschränkungen der positiven Nachricht, denn die Gründe für diesen Anstieg sind vor allem in den Folgen der Covid-19-Pandemie und den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu sehen.
Eben diese Krisenfolgen haben den prozentualen Anteil der Entwicklungsausgaben am Bruttonationaleinkommen (BNE) zum dritten Mal in Folge über die wichtige Mindestzielmarke von 0,7 Prozent steigen lassen. Die Zielmarke besteht seit 1970 und wurde, außer in den vergangenen drei Jahren, nur 2016 erreicht – also in 53 Jahren nur viermal. Trotz des Anstiegs deutscher Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit auf Rekordhöhe bewegen sich die anteiligen Ausgaben für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) auf einem Niveau wie vor etwa zehn Jahren. 0,2 Prozent des BNE lautet hier das Ziel – und wird regelmäßig mit Werten um 0,13 deutlich unterschritten.
Wachsende Herausforderungen
Dabei liegen gerade in diesen Ländern die größten Herausforderungen, wenn es z.B. um Hunger und Armut geht. Und die Herausforderungen wachsen stetig: Die Folgen des Klimawandels nehmen immer erschreckendere Ausmaße an. Die Zahl gewaltsamer Konflikte hat sich global seit 2010 mehr als verdoppelt. Einschränkungen, sowohl der Menschenrechte als auch Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft schwächen zunehmend die Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung.
Eine der Konsequenzen ist an der aktuell vom UNHCR berichteten Zahl von weltweit 108 Millionen gewaltsam vertriebenen Menschen abzulesen, und an den bis zu 828 Millionen Menschen, die laut UN-Angaben Hunger leiden müssen. Erweitert wird die nüchterne Bilanz um über acht Millionen Menschen, die aufgrund von hauptsächlich klimabedingten Naturkatastrophen Ende 2022 nicht an ihrem Heimatort leben konnten. Wobei bei den so genannten Klimaflüchtlingen die Zahl weit höher sein könnte, da die strukturierte statistische Erfassung noch relativ am Anfang steht.
Auch wenn ODA-Mittel weder Allheilmittel noch der alleinige Schlüssel zur Erreichung der SDGs sind, so bleiben sie ein unerlässlicher Baustein – und auch monetärer Gradmesser –, wie ernst Regierungen es mit der Verwirklichung der Agenda 2030 meinen.
So beeindruckend und lobenswert der Anstieg der deutschen Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit 2022 war, so groß sind auch die Zweifel, dass diese Erhöhung von Dauer sein wird. Es konkretisieren sich aktuell die Anzeichen, dass nach der Ankündigung des Finanzministers alle Ressorts außer dem der Verteidigung sparen müssen, so dass Einschnitte erfolgen, die auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Koppelung von Verteidigungs- und Entwicklungsausgaben obsolet machen wird.
Ein Absenken der Entwicklungsausgaben, gerade im Angesicht er fortdauernden Krisen und der desaströsen Zwischenbilanz vieler SDGs, wäre nicht nur finanziell die falsche Entscheidung – nämlich gegen ein Investment in Nachhaltigkeit –, sondern es wäre auch ein Negativsignal an alle anderen Staaten, die sich ohnehin zum Teil sehr stark mit Entwicklungsfinanzierung und der Erreichung des SGDs zurückhalten.
Neuausrichtungen
Hier muss Deutschland die Vorreiterrolle, die sie sich zum Beispiel bei der Klimafinanzierung mit nur wenigen anderen Ländern teilt, weiter ausbauen und, so die Kompass-Empfehlung, die jährliche Klimafinanzierung auf mindestens 8 Mrd. Euro erhöhen, um dem steigenden Bedarf gerecht zu werden. In diesem Bereich hat die Bundesregierung die Notwendigkeit erkannt, besonders die Klimaanpassung stärker zu fördern: Sie hat den Anteil an geförderten Projekten mit entsprechendem Schwerpunkt erhöht.
Diese Neuausrichtung in einem Bereich der Entwicklungspolitik ist in der Sozialen Sicherung noch nicht vollzogen. Wie der Kompass feststellt, entstehen soziale Sicherungssysteme nicht automatisch durch Wirtschaftswachstum, auch wenn dies die Prognose vieler Wirtschaftswissenschaftler in den vergangenen Jahren war. Die Realität ist eine andere. Zwei Milliarden Menschen arbeiten weltweit in der informellen Wirtschaft – das sind 61 Prozent aller Erwerbstätigen. In Niedrigeinkommensländern liegt der Anteil bei 90 Prozent. Das übersetzt sich in 4,1 Milliarden Menschen oder 53 Prozent der Weltbevölkerung, die keinerlei soziale Schutzleistung haben.
Der im Kompass grafisch dargestellte Aufwuchs von ODA für soziale Sicherung in den Jahren 2020 und 2021 ist größtenteils auf die Linderung von Covid-19-Auswirkungen auf Haushalte zurückzuführen – und hat somit wenig mit der nachhaltigen Stärkung von sozialen Sicherungssystemen zu tun. Zudem bestehen die Mittel mit Covid-19-Fokus in beiden Jahren jeweils zur Hälfte aus Krediten an die indische Regierung, um schwere Folgen der Pandemie abmildern zu können.
Fokus auf die Schwächsten
Die Stärkung der sozialen Sicherung muss – anders als aktuell die meist staatlichen Programme – weniger auf die breite Masse abzielen als auf vulnerable Gruppen, wie etwa Kinder, Menschen mit Behinderung und mit Migrations- oder Fluchterfahrung.
Denn die Potenziale sozialer Sicherung, so führt der Kompass aus, sind groß: Schutz vor Klimakrisen bzw. eine bessere Ausgangslage bei ihrer Bewältigung, Linderung chronischer Armut, vorübergehende Unterstützung in wirtschaftlichen Krisen und letztlich Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen Schocks sowie Stärkung der Anpassungsfähigkeit an wachsende Erschwernisse.
Es sind auch diese, die im Zusammenhang mit der Umsetzung der neuen Afrikastratgie des BMZ, thematisiert werden. Die Strategie setzt in ihrem Kapitel „Nachhaltige Entwicklung, Beschäftigung und Wohlstand“ stark auf Förderprogramme und Zukunftsthemen für urbane Räume. Dies ist vordergründig eine verständliche Priorisierung, da zwischen 2020 und 2050 mit der Verdreifachung der urbanen Bevölkerung in Sub-Sahara Afrika gerechnet wird und die Zunahme der Landbevölkerung mit nur 40 Prozent weit dahinter liegt.
Landwirtschaft als Zukunftssektor in Afrika
Doch verkennt diese Priorisierung, dass gerade bei einer nachhaltigen Transformation der Ernährungssysteme – hin zu einer geringeren Lebensmittelimportabhängigkeit und höherer Resilienz gegenüber Klima- und Preisschocks – der ländliche Raum besonders gestärkt werden muss. Wie bereits angesprochen, ist dort die informelle Beschäftigung besonders hoch und der afrikanische Agrarsektor in der Pro-Kopf-Produktion das weltweit deutliche Schlusslicht.
Wird ein solches System von zunehmenden Klimawandelfolgen getroffen und muss im Verhältnis zur urbanen Bevölkerung mit immer weniger Menschen immer mehr Nahrungsmittel produzieren, dann ist der Kollaps eines solchen Systems die logische Folge. Der Kompass drängt daher nachdrücklich darauf, in der Entwicklungspolitik auch die Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung gerade in Subsahara-Afrika als Zunkunftssektor zu verstehen und zu behandeln.
Feministische Entwicklungspolitik
Ein in der Öffentlichkeit offenbar als neu empfundenes Zukunftsthema ist die feministische Entwicklungspolitik. Dabei ist die Gleichstellung von Frauen als Motor für nachhaltige Entwicklung in der Entwicklungspolitik hinlänglich bekannt, ebenso wie die davon zu erwartenden positiven Effekte etwa für Ernährungssicherung und das globale Bruttoinlandsprodukt. Dass das Thema nun stärker im entwicklungspolitischen Fokus steht, ist zwar eine positive Entwicklung. Dennoch – und davor warnt der Kompass – darf eine kontextsensible Umsetzung nicht zugunsten von vermeintlich schnellen Erfolgen mit One-Fits-All-Konzepten den Kürzeren ziehen. Schlimmstenfalls würde dies zu einer Abwehrhaltung in den jeweiligen Kontexten führen, mit negativen Folgen für Frauen, Mädchen und LSBTIQ+.
Insbesondere staatliche Abwehrhaltung thematisiert der Kompass auch zu Shrinking Spaces – also dem schwindenden Handlungsspielraum der Zivilgesellschaften. Laut der sogenannten CIVICUS-Einstufung haben nur 14,5 Prozent aller Menschen den Freiraum, zumindest weitgehend ungehindert ihre Meinung zu sagen, sich zu versammeln und gegen Missstände anzukämpfen. Dies ist eine denkbar schlechte Voraussetzung, Menschenrechte und – wie im Kompass traditionell hervorgehoben – die Kinderrechte und das Recht auf angemessene Nahrung zu verwirklichen.
Ein wesentlicher Schlüssel ist hierbei, wie bei allen im Kompass angesprochenen Schwerpunkthemen, dass die Zivilgesellschaft und besonders die benachteiligten und am stärksten betroffenen Gruppen auf Augenhöhe in die Planungen und die Erarbeitung von Lösungen eingebunden werden.
Neben einer verlässlichen kontinuierlichen Finanzierung fordert der Kompass daher von der Bundesregierung den vehementen Einsatz für menschenrechtliche Prinzipien, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine starke Zivilgesellschaft, als ihren Beitrag für nachhaltige Entwicklung und die Verwirklichung der Menschenrechte.