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  • Klima & Ressourcen
  • 12/2021
  • Michael Dauderstädt

Covid-19 und die globale Ungleichheit: Übertriebene Ängste?

Die Pandemie hat den rückläufigen Trend in der globalen Einkommensungleichheit gestoppt und andere Schieflagen verschärft – etwa bei Vermögen und Gesundheit.

In Neu Delhi stehen Männer an einer Armenküche Schlange. Aufgrund der Coronapandemie sind viele Menschen ohne Einkünfte und auf Spenden angewiesen. © Florian Lang

Die Pandemie, die zu ihrer Bekämpfung beschlossenen Lockdowns sowie die damit verbundene Wirtschaftskrise haben die Verteilung von Produktion und Einkommen zwischen Menschen, Wirtschaftszweigen und Ländern in unterschiedlichem Maße beeinflusst. Das gilt auch für die gegen die Krise eingesetzten Konjunkturprogramme.

Fangen wir ganz unten an: Viele Menschen verloren Markteinkommen, da ihr eigenes Geschäft oder das ihres Arbeitgebers unter einem Lockdown oder dem Einbruch der Nachfrage litt. Aber dank öffentlicher Ausgabenprogramme hat sich das verfügbare Einkommen zumindest in den reichen Ländern, aber auch in einigen ärmeren Ländern, wie beispielsweise Brasilien, nicht so stark verändert.

Die bereits verfügbaren Daten und Studien zeigen, dass die so gemessene Ungleichheit innerhalb der Länder im Jahr 2020 in vielen Staaten nicht zugenommen hat. In Entwicklungsländern arbeiten die Armen jedoch oft in der informellen Wirtschaft, wo sie nicht von Ausgleichsmaßnahmen, wie etwa beschäftigungssichernde Programme (z.B. Kurzarbeit), profitieren. Zunehmende Armut unter diesen Umständen könnte in ein oder zwei Jahren statistisch sichtbar werden.

Einige Branchen, insbesondere das (Flug-)Reise-, Hotel- und Gaststättengewerbe, Tourismus und Einzelhandel (außer Lebensmittel), waren stärker von Lockdowns oder Verbraucherängsten betroffen als andere (Unternehmen der Kommunikations- und Informationstechnologie boomten). Diese sektorale Ausrichtung führte zu unterschiedlichen nationalen Rezessionen. Volkswirtschaften, die stark vom Tourismus abhängig waren, erlebten tiefere Krisen – in Europa litten die Mittelmeerländer am meisten.

An der EU-weiten Ungleichheit änderte sich jedoch kaum etwas, da die ärmeren östlichen Mitgliedsstaaten relativ gut abgeschnitten haben (siehe Dauderstädt). Die Volkswirtschaften mit dem weltweit stärksten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen 2019 und 2020 waren laut Weltbankdaten Macau (-56,9 Prozent) und die Malediven (-33,2 Prozent) – im Vergleich zu einem weltweiten Durchschnitt von -3,5 Prozent. Reiche Länder, die massive fiskalische und monetäre Impulse setzen konnten, waren gegenüber armen und bereits hoch verschuldeten Ländern im Vorteil.

Die globale Einkommensverteilung

Die Berechnung der internationalen Einkommensverteilung ist schwierig. In seinem 2015 erschienen Buch „Worlds Apart: Measuring International and Global Inequality“ unterschied der führende Analytiker von globaler Ungleichheit, Branko Milanovic, drei Messkonzepte: zwischen Ländern, unabhängig von der Größe; zwischen Ländern, gewichtet nach Bevölkerung, aber noch ohne Berücksichtigung der Verteilung innerhalb der Länder; und zwischen allen Menschen, unabhängig von der Nationalität, unter Berücksichtigung der Verteilung innerhalb von und zwischen Ländern. Der dritte Ansatz bildet die Realität am besten ab, erfordert jedoch enorme Datenmengen, die für die letzten Jahren auf globaler Ebene noch nicht verfügbar sind.

Wie wirken sich die oben skizzierten Krisenphänomene und Einkommensveränderungen also auf die globale Einkommensverteilung aus? Im Februar 2021 veröffentlichte Angus Deaton eine provokative Analyse, in der er entgegen der verbreiteten Meinung postulierte, dass die globale Ungleichheit während der Pandemie zurückgegangen sei. Das BIP der Länder mit hohem Einkommen sei stärker zurückgegangen als das der ärmeren Länder, hauptsächlich weil die Sterberaten im Jahr 2020 in den reicheren Ländern höher waren. Aber wenn man die Länder nach Bevölkerung gewichtet, verschwand dieser Effekt.

Eine im Juni 2021 in Finance and Development veröffentlichte Studie von Francisco H.G. Ferreira bestätigte diesen Befund: In reichen Ländern war 2020 der Verlust an Lebensjahren pro Kopf höher als in ärmeren Ländern. Aber auch seine Befunde zur Einkommensungleichheit sind nicht eindeutig und hängen von den gewählten Indikatoren ab.

Im Jahr 2021 haben viele ärmere Länder, insbesondere Indien, neue Infektionswellen mit Covid-19 mit einer hohen Zahl von Todesfällen erlebt. Die Prognosen des Internationalen Währungsfonds für dieses Jahr zeigen aber immer noch ein höheres Wachstum für die Schwellen- und Entwicklungsländer als für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften (6,8 Prozent gegenüber 5,1 Prozent), wahrscheinlich aufgrund des überragenden Wachstums in China. Der Anteil dieser Länder am weltweiten BIP (in Kaufkraftparitäten) stieg von 56,5 Prozent im Jahr 2018 auf 57,8 Prozent im Jahr 2021, während der Anteil der Industrieländer von 43,5 Prozent auf 42,2 Prozent zurückging. Doch schon bald könnten Schwellenländer auf weitere Wachstumshindernisse wie höhere Zinsen, sinkende Rohstoffnachfrage aus China, ein schwächeres Wachstum des Welthandels und neue Wellen des Coronavirus stoßen.

Leicht erhöhte globale Ungleichheit

Für eine angemessene Schätzung der Ungleichheit nach dem zweiten Konzept von Milanovic bietet sich die globale S80/S20-Quote (auch Quintil-Verhältnis genannt) an. Sie vergleicht das Einkommen des reichsten Fünftels der Weltbevölkerung mit dem der ärmsten 20 Prozent. Dieses Verhältnis liegt in Deutschland und auch in den EU-Mitgliedsstaaten im Durchschnitt bei etwa fünf, was bedeutet, dass die reichsten 20 Prozent ein fünfmal höheres verfügbares Einkommen haben als die ärmsten 20 Prozent.

Für einzelne Länder liegen die höchsten Werte zwischen 10 und 20, vor allem in Lateinamerika (Spitzenreiter: Brasilien 2019 mit 18,6). Bei Ländergruppen (EU, Welt) liegen die Werte über denen einzelner Länder, da nun auch die hohen Einkommensunterschiede zwischen Ländern ins Spiel kommen. So liegt der Wert für die EU als ganze nach einer Berechnung des Autors bei etwa acht (bei Umrechnung der Einkommen zu Wechselkursen) und bei nur sechs bei Umrechnung mit Kaufkraftparitäten (d.h. unter Berücksichtigung der höheren Kaufkraft und niedrigeren Preise in ärmeren Ländern).

Um den globalen Wert zu berechnen, ordnet man die Länder der Welt nach ihrem Pro-Kopf-Einkommen, auf der Basis der BIP- und Bevölkerungszahlen der Weltbank, die für 98 Prozent der Weltbevölkerung verfügbar sind. Anschließend kumuliert man so viele der ärmsten bzw. reichsten Länder wie nötig, um jeweils ein Fünftel der Weltbevölkerung (ca. 1,5 Milliarden Menschen) zu erhalten. Dabei ergibt sich, dass das kumulierte Einkommen des ärmsten Fünftels 1,7 Bio. Dollar beträgt (aus einem globalen BIP von 80,8 Bio. USD), während das reichste Fünftel 55 Bio. Dollar einnahm. Damit liegt der extrem hohe Wert der globalen S80/S20-Quote bei 32,4.

Abbildung 1 zeigt die jeweiligen Werte der letzten fünf Jahre. Die so gemessene globale Ungleichheit ging bis 2019 zurück, aber die Pandemie kehrte diesen Trend um, wenn auch nur geringfügig (der Wert für 2020 erreichte nicht einmal das Niveau von 2018 mit 32,86).

Abbildung 1: Globale Einkommensungleichheit (Quintilverhältnis) 2016-20

Quelle: Weltbank und Berechnungen des Autors © Dauderstädt

Es bleibt offen, wie die gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf ärmere, kaum geimpfte Länder im Jahr 2021 dieses Bild verändern werden. Weder Deatons Optimismus noch die übertriebenen Befürchtungen vieler Beobachter, dass die Pandemie die Ungleichheit verstärkt hat, erscheinen jedoch angesichts der verfügbaren Daten begründet. Selbst die bekanntesten Kritiker der Ungleichheit, Thomas Piketty und seine Kollegen, schätzen, dass die globale Ungleichheit zwischen 1980 und 2020 zurückgegangen ist.

Wie schon erwähnt, gibt der hier berechnete Indikator die globale Ungleichheit nach Milanovics zweitem Konzept wieder. Die „echte“ Ungleichheit (Konzept drei) ist sicherlich höher, da bei Konzept zwei das Einkommen der reicheren Schichten in den armen Ländern das durchschnittliche dortige Pro-Kopf-Einkommen erhöht. Eine Schätzung der Konzept-Drei-Ungleichheit von Cem Keltek und dem Autor vor zehn Jahren ergab einen Wert von 50 für das globale Quintilverhältnis unter Berücksichtigung der Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern. Für den Gini-Koeffizienten – der Ungleichheitsmetrik, die von 0 für totale Gleichheit bis 1 für totale Ungleichheit reicht – schätzt Milanovic die Werte für sein erstes und zweites Konzept auf ungefähr 0,5 und für sein drittes Konzept für 2013 auf 0,7. Beide Schätzungen zeigen, dass die „wahre“ Konzept-Drei-Ungleichheit – deren Bewertung schwierig und aufgrund schwacher Datenverfügbarkeit erst Jahre später möglich ist – etwa 50 Prozent über der Konzept-Zwei-Ungleichheit liegt.

Berechnet man die Armut auf die gleiche Weise – also unter Berücksichtigung ganzer Länder und Vernachlässigung ihrer internen Einkommensverteilung – dann bestätigen die Ergebnisse den Trend in Abbildung 1. Wenn man die Armutsdefinitionen der Weltbank verwendet (1,90 USD oder 3,20 USD pro Tag), sieht man einen Rückgang der Armut bis 2019. Diese Armutsreduzierung verlief für die Ärmsten (unter 1,90 USD) langsam, aber spürbar für die Gruppe unter 3,20 USD (Rückgang von über 14 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2016 auf 8,26 Prozent im Jahr 2019). Dasselbe gilt, wenn man 60 Prozent des globalen Medianeinkommens (ca. 4.300 USD im Jahr 2020) als Armutsgrenze nimmt (also 2.580 USD oder etwa 7 USD pro Tag). Der Anteil der Weltbevölkerung mit einem verfügbaren Einkommen unter dieser Schwelle ist von 43,7 Prozent im Jahr 2016 auf 40,7 Prozent im Jahr 2019 zurückgegangen.

Bei allen drei Metriken hat die Armut im Jahr 2020 zugenommen, allerdings um weniger als einen Prozentpunkt. So ist der Anteil der Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens von 40,7 auf 41,3 Prozent gestiegen. Dies impliziert jedoch immer noch, dass die Pandemiekrise die weltweite Armutsbevölkerung um viele Millionen Menschen erhöht hat, da jede 0,1 Prozent schon etwa 7,5 Millionen Betroffene sind.

Andere Dimensionen von Ungleichheit

Wahrscheinlich hat die Pandemie zudem andere Dimensionen von Ungleichheit verschlimmert, wie etwa die Ungleichheit von Wohlstand und Gesundheit oder geschlechtsspezifische und ethnische Unterschiede. Die etwa 35 Millionen Menschen, die 2020 zusätzlich unter die niedrigste Armutsschwelle der Weltbank (1,9 USD/Tag = ca. 700 USD/Jahr) gerutscht sind, dürften auch Probleme haben, sich ausreichend mit Nahrung und anderen lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Bis November 2021 waren die Nahrungsmittelpreise auf ein Zehnjahreshoch gestiegen, was laut FAO auch z.T. auf direkte oder indirekte COVID19-Folgen zurückzuführen ist.

Im Department Chiquimula stehen Frauen für Lebensmittelhilfe an. Corona verschärft in den trockenen Landstrichen von Guatemala Armut und Ernährungsunsicherheit. © Guatemalan Red Cross /ICRC

Die Vermögensungleichheit hat aufgrund der Vermögenspreisinflation deutlich zugenommen, die durch die extrem lockere Geldpolitik der wichtigsten Zentralbanken ausgelöst wurde. Trotz der dramatischen Kurseinbrüche im zweiten Quartal 2020 erholten sich die Aktienmärkte schnell und erreichten 2021 neue Höchststände, wobei auch die Immobilienpreise dramatisch anstiegen. Wie Oxfam berichtet, ist das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre der Welt zwischen März und Dezember 2020 um 540 Mrd. Dollar gestiegen. Mittel- bis langfristig dürften diese Entwicklungen die Einkommensungleichheit erhöhen, wenn etwa die Einkommen steigen, die reiche Vermögensbesitzer als Renditen oder durch Mieteinnahmen erzielen.

Die Pandemie hat auch Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter gefährdet, wie Studien für Europa und die USA zeigen. Während der Lockdowns gewannen traditionelle Rollenmodelle wieder neue Macht. Frauen haben sich während der Schließung von Kindergärten und Schulen eher um Kinder und den Haushalt gekümmert als Männer. Sie arbeiteten auch seltener von zu Hause aus, da ein größerer Teil ihrer Jobs (in der Pflege, im Bildungs- und Gesundheitswesen) einen direkten Kontakt mit den Menschen erforderte.

Innerstaatliche Ungleichheit

Nicht zuletzt wirkte sich die Pandemie unterschiedlich auf die Gesundheit der Menschen aus. Aufgrund schon vorher bestehender gesundheitlicher Probleme, niedrigerer Impfquoten, schlechterer Lebensbedingungen und Jobs, die selbst in Ländern mit hohem Einkommen nicht von zu Hause aus verrichtet werden konnten, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich Arme infizieren und an Covid-19 sterben. 2020 waren die Verluste an Lebensjahren in den reicheren Ländern pro Kopf zwar noch höher als in ärmeren Ländern, wie eine Studie von Ferreira u.a. zeigt. Diese Studie scheint sich aber auf die offiziellen Todeszahlen zu stützen, die für ärmere Länder wenig zuverlässig sind.

Arme Länder haben schwächere Gesundheitssysteme und in der Pandemie eine hohe Sterblichkeit, die von den Behörden oft nicht auf die Pandemie zurückgeführt wird, obwohl hohe Übersterblichkeitsraten deutlich darauf hinweisen. Und die Weltbevölkerung ist in extrem ungleichem Maße geimpft, mit sehr niedrigen Impfraten in den meisten armen Ländern. In der Ländergruppe mit niedrigem Einkommen liegt die Impfquote bei 9 Impfdosen für 100 Menschen, im Bereich der unteren mittleren Einkommen bei 71, im Bereich der oberen Mitte bei 142 und in den Ländern mit hohem Einkommen bei 150, wie der Economist regelmäßig berichtet.

Angesichts dieser Schwächen und der begrenzten sozialen Sicherungssysteme in den ärmeren Ländern der Welt ist es wahrscheinlich, dass die Pandemie die innerstaatliche Ungleichheit und Armut in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen verstärken wird.

Michael Dauderstädt bis 2013 Friedrich Ebert-Stiftung, Abteilungsleiter Wirtschafts- und Sozialpolitik

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