Humanitäre Hilfe: Aufbruch in eine neue Reformrunde
Der Grand Bargain sollte die überlastete weltweite Nothilfe flexibler, lokaler und unbürokratischer machen. In der Praxis blieb der große Wurf aus. Wie kann ein GB 2.0 es richten?
“So viele multilaterale und internationale Prozesse enden in der Sackgasse. Dieser hier tut das nicht.” Mit diesen Worten hat Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegian Refugee Council (NRC), den Grand Bargain (GB) beschrieben und begründet, warum er im Juni dieses Jahres bereit war, als „Eminent Person“ künftig den Grand Bargain 2.0 zu leiten. Seine Aussage fasst treffend zusammen, dass der GB das ambitionierteste und inklusivste humanitäre Reformprojekt seit Jahrzehnten ist, das weiter umfassende Aufmerksamkeit der humanitären Akteur*innen verdient – und sie leugnet nicht, dass die entscheidenden Wegmarken noch bevorstehen.
Mit dem GB 2.0 ging vor wenigen Monaten ein Reformprojekt der humanitären Hilfe in seine zweite Runde, das seit seinem Beschluss beim World Humanitarian Summit 2016 mit heute 63 Unterzeichnern – von Regierungen über UN Agenturen zu zivilen Hilfsorganisationen – erstmalig diese drei Sektoren dauerhaft an einen Tisch gebracht hat. Es unterscheidet sich damit klar von verwandten Foren wie dem Inter-Agency Standing Committee (IASC) und der Good Humanitarian Donorship Initiative.
Den GB-Akteur*innen gelang es auch, eine Serie von relevanten Reforminitiativen zu starten, zum Teil auch dank der deutschen Regierung. In insgesamt zehn Workstreams zu Themen wie Effizienz, Effektivität, Lokalisierung und Bargeldprogrammen brachten sie zahlreiche Reformideen und -initiativen auf den Weg, die sich an der Grundidee des „Bargain“ orientierten: eines „Handels“, in dem im Kern Geberregierungen versprachen, mehr Flexibilität und Vorhersehbarkeit in ihrer Finanzierung gegen höhere Transparenz und nachweisbare Effizienz ihrer Verwendung durch Hilfsorganisationen einzutauschen.
Trotz beeindruckender Fortschritte in den meisten Workstreams beklagten viele Expert*innen aber die ausbleibende Wirkung des GB, und setzen nun auf das neue Format GB 2.0. Wie passt das eine zum anderen? Und was sind die Hoffnungen und Herausforderungen für den vor bald sechs Monaten begonnenen GB 2.0 in einer krisengeschüttelten Welt, in der laut dem Anfang Dezember veröffentlichten Global Humanitarian Overview 2022 im kommenden Jahr ein neuer Rekord von 274 Millionen Menschen in Not erreicht wird?
Wegweisende Erfolge
Die Erfolge des GB in seiner ersten Phase bis Juni 2021 sind gut dokumentiert (HPG, CHA): Wichtige Ziele wie eine Entbürokratisierung der Hilfe, eine effektivere Hilfe durch flexiblere Finanzierung, eine Stärkung bislang weitgehend vernachlässigter lokaler Akteur*innen bis hin zu Instrumenten wie ausgebauten Bargeldprogrammen als flexible und würdevolle Hilfe konnten durch zahlreiche Projekte und detailliert ausgearbeitete Vorschläge unterfüttert und konzeptionell vorangebracht werden.
Wie etwa eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen internationalen Akteur*innen und lokalen Akteur*innen künftig aussehen könnte, hat der GB-Workstream zur Lokalisierung detailliert ausgearbeitet. Wie eine flexiblere, mehrjährige Finanzierung humanitärer Hilfe durch innovative Instrumente umzusetzen ist, haben z.B. NRC und IRC in den Workstreams 7&8 auf den Weg gebracht. Wie die Entbürokratisierung der humanitären Hilfe im Lichte zahlloser, sehr diverser, komplexer Reporting-Anforderungen der Geber zu überwunden ist, kann das im Workstream 9 mit Unterstützung der Bundesregierung entwickelte hoch gelobte „8+3“ Reporting-Format verdeutlichen.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. „Der Grand Bargain hat sich in ein Schlüsselforum multilateraler Politik mit vorzeigbaren Ergebnissen entwickelt”, schlussfolgerte das Overseas Development Institute (ODI) in seiner Endevaluation zur GB-Umsetzung. Und doch kam nicht nur das CHA zu der Analyse, der GB bleibe „mit Blick auf viele seiner Initiativen bislang überwiegend Output-orientiert und erzielte selten umfassende Wirkungen (Outcomes)“.
Umsetzung mangelhaft
Tatsächlich startete der GB viele interessante Projekte und Initiativen – doch konnte er wenige Prozesse substanziell verändern, wie einige Zahlen beispielhaft untermauern: Was die Finanzierung lokaler Akteur*innen betrifft, denen gemäß GB künftig 25 Prozent der Hilfe so direkt wie möglich zukommen sollten, verfehlten selbst nach jeweils eigener Berechnungsmethode die große Mehrheit der Regierungen wie auch internationaler NGOs und UN Agenturen diese Vorgabe. Gleiches gilt für ein Minimum von 30 Prozent flexiblem Funding; vorhandene flexible Mittel geben nur wenige internationale NGOs (INGOs) an lokale Akteur*innen weiter. Auch das Beispiel des unbürokratischeren 8+3-Berichtsformats bestätigt die Lücke zwischen Konzeption und Implementierung der beachtlichen Reforminitiativen: 2021 hatten es nur wenige der betroffenen GB-Unterzeichner als Standard übernommen.
Wie sehr zahlreiche, tendenziell isolierte Projekte auf der Mikroebene nur begrenzte Wirkungen auf der Makroebene von prozess- und systemrelevanten Fragen entfalten, wird umso deutlicher, wenn auch Querschnittsthemen des GB näher beleuchtet werden – darunter eine geschlechtersensible humanitäre Hilfe, eine praxisgerechte Verknüpfung bislang isolierter Ansätze im Humanitarian-Development-Peace-Nexus oder Fragen einer bislang nur propagierten „Partizipationsrevolution“.
Woran liegt diese Diskrepanz zwischen viel beachteten Ergebnissen und Initiativen auf der Arbeitsebene und ihren beklagten mangelnden Wirkungen? Die Ursachen sind naturgemäß vielfältig, doch es herrscht breiter Konsens, dass ein Kernproblem in der fehlenden politischen Dynamik des GB und für humanitäre Reformanliegen insgesamt besteht. Zum Vergleich: Noch zum WHS 2016 waren zahlreiche Staats- und Regierungschefs angereist, darunter die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese Unterstützung ermöglichte weitreichende Beschlüsse. Die politische Priorisierung humanitärer Herausforderungen war – getrieben durch Kriege und Konflikte vor den Toren Europas, gepaart mit globalen sicherheits-, migrationspolitischen und menschenrechtlichen Herausforderungen – noch vor wenigen Jahren eine deutlich andere als heute.
Klare Prioritäten für mehr Wirkung
Im Lichte eines seit 2000 um mehr als den Faktor 20 gestiegenen weltweiten humanitären Hilfsbedarfs von über 40 Mrd. € in 2022 hat sich der GB 2.0 daher insbesondere zum Ziel gesetzt, dieses politische Momentum wiederherzustellen. Außerdem sollen klare Prioritäten seine Wirkung in Form von entscheidenden humanitären Reformen bis 2023 substanziell voranbringen. „Die Phase des Redens ist vorbai, eine Million Seiten erklären, was zu tun ist (...) Wir müssen jetzt vorankommen," hat Jan Egeland gefordert. Wie kann dies gelingen? Und gibt es bereits Fortschritte?
Im Kern sollen im Rahmen des GB 2.0 seit Juli 2021 vier Dinge anders gemacht werden:
- ein Fokus auf Implementierung und Integration der Ergebnisse der zehn GB Workstreams
- die Definition von nur zwei künftigen „grundlegenden Prioritäten“: Lokalisierung und hochwertige Finanzierung (quality funding)
- die Etablierung eines strategischeren, politischeren Formats zu den priorisierten Themen durch thematische Political Caucuses (Ausschüsse) mit klarem Zeitrahmen und Zielen
- die Formierung von National Reference Groups auf lokaler Ebene, um ein partizipatives Monitoring der Fortschritte zu ermöglichen.
Insbesondere mit Blick auf das neue Format der politischen Ausschüsse können auf praktischer Ebene bereits sehr konkrete Fortschritte beobachtet werden. Die ersten drei definierten Themen der Ausschüsse lauten:
1) Cash Coordination
2) The role of intermediaries in support of locally led action
3) Concrete steps on quality funding.
Was auf den ersten Blick erneut sehr technisch klingen mag, sind real hochpolitische und sehr reformrelevante Themen, bei denen politische und organisationsinterne Interessen eine entscheidende und meist blockierende Rolle spielen:
So stellt die seit Jahren schwelende und zahlreiche Hilfseinsätze behindernde Debatte um die Koordination von Bargeldprogrammen, die heute rund ein Fünftel der globalen humanitären Hilfe ausmachen, die klassischen Silos und Mandate von Organisationen fundamental in Frage – insbesondere unter großen Hilfsorganisationen wie UNHCR, WFP, RCRC und INGOs. Überdies betrifft sie Kernfragen von humanitärer Koordination auf Seiten von sehr widersprüchlich agierenden Geberregierungen, welche zugleich den Wettbewerb zwischen Organisationen massiv verschärfen.
Der hieraus folgende Mangel an Koordination ist nicht ohne Berücksichtigung der politischen und organisationsspezifischen Interessen aller Akteur*innen zu beheben, bleibt aber ein Kernproblem weit über die Programmebene von Bargeldtransfers hinaus. Umso beachtlicher ist, dass der GB 2.0 Caucus hierzu konkrete Schritte auf höchster Ebene der beteiligten Akteur*innen (USA, ECHO; WFP, OCHA, UNHCR, UNICEF; IFRC; ICVA, A4EP, CCD) eingeleitet und mit der Frist Februar 2022 ein zeitliches Ziel definiert hat, zu konkreten Vereinbarungen zu kommen.
Ebenfalls konkret wurde es bereits mit dem Ausschuss zur künftigen Rolle von intermediären Organisationen: insbesondere INGOs und UN-Agenturen, die vielfach zwischen öffentlichen Gebern und lokalen Implementierern zwischengeschaltet sind. Dieser kann auf die ausführlichen Vorarbeiten des Workstreams aufbauen und hat sich bis März 2022 vorgenommen, drei Prioritäten für konkrete Veränderungen zu definieren – aus Themenfeldern wie Risikotransfer zu lokalen Partnern, Sichtbarkeit lokaler Akteur*innen oder auch Qualitätssicherung.
Zugleich wird der dritte Caucus zu „hochwertigem Funding“ von Gebern zeigen, vor welch großen Herausforderungen auch der GB 2.0 steht, wenn er im Zuge eines politischeren Ansatzes entsprechend auch mit harten politischen Zielkonflikten konfrontiert wird. Die anerkannt sinnvollen Reformen der Geberfinanzierung können hier als warnendes Beispiel dienen: Einerseits haben alle Regierungen zugestimmt, schon heute mindestens 30 Prozent ihrer Mittel flexibel ohne Zweckbindung zur Verfügung zu stellen. Andererseits machen nur wenige Geber Fortschritte – oder sie setzen gar auf neue Doktrine, wie z.B. eine deutliche Interessensorientierung der britischen Hilfe und damit ihre Steuerung durch explizite Konditionierung. Nicht zufällig ist es daher im dritten Caucus bislang noch zu keinerlei messbaren Resultaten oder vereinbarten Meilensteinen gekommen.
Wird Lokalisierung vernachlässigt?
Jenseits der aktuellen politischen Ausschüsse stellen sich weitere Herausforderungen: Zum einen sehen nicht nur Vertreter*innen des Globalen Südens mit Skepsis, dass keines der priorisierten politischen Themen sich direkt der Rolle lokaler Akteur*innen widmet. Der Fokus auf intermediäre Organisationen nährt hier Kritik auch an der Ernennung von Jan Egeland zur Eminent Person, da er in seiner Hauptfunktion NRC leitet – eine große eben solche Organisation, die selbst GB-Lokalisierungsziele wie die 25 Prozent-Förderung lokaler Akteure deutlich verfehlt. Das Netzwerk NEAR und die Charter for Change haben gegenüber Egeland Befürchtungen geäußert, dass der Fokus auf eine neue „Qualität“ der Beziehungen mit INGOs diese quantitativen Ziele zurückdrängen könnten – zugunsten der Organisationsinteressen im Globalen Norden.
Passend zu dieser Skepsis scheint auch die Entwicklung der National Reference Groups, den Foren für das Monitoring durch und Accountabilty für lokale Akteure, noch sehr vage. Es ist unklar, wie sie aussehen, wo sie pilotiert und wie sie mit der GB 2.0-Struktur integriert werden sollen. Der konkreteste Fortschritt bei der Einbindung von Perspektiven aus dem Global Süden gibt einen Eindruck, wie weit der Weg auch kulturell für einen inklusiveren Ansatz unter den GB-Akteuren noch ist: Mit NEAR wurde erst nach fünf Jahren GB eine Südorganisation in die einflussreiche Steuerungsgruppe (Facilitation Group) eingeladen.
An dem Lokalisierungs-Thema kristallisiert sich auch eine weitere strukturelle Hürde des GB 2.0: Den bisherigen Workstreams steht es frei, weiter zu arbeiten. Dies wird von den bisherigen Teilnehmenden zu Lokalisierungsfragen begrüßt, zumal die neuen politischen Ausschüsse bewusst auf eine andere Balance aus Inklusivität durch Partizipation und Entscheidungsfähigkeit setzen, um im kleineren Rahmen konkrete Fortschritte erzielen zu können. Insbesondere bei Themen, die bislang in den Caucus nicht abgebildet sind, stellt sich aber die Frage, wie die Arbeit der Workstreams in die des GB 2.0 einfließen und ebenfalls politisch relevant werden kann.
Impulsgeber Deutschland
Eine gewichtige Rolle in all diesen Herausforderungen kommt künftig der neuen Bundesregierung zu: Diese ergibt sich zum einen aus ihrer Rolle als weltweit zweitgrößter Geber humanitärer Hilfe, die im Lichte der Zusagen im Koalitionsvertrag finanziell noch weiter ausgebaut werden soll. Zum anderen hat die Bundesregierung das Angebot angenommen, künftig in der GB-Facilitation Group festes Mitglied zu sein als einer der wenigen Gebervertreter.
Ihr Engagement im GB hat in der Vergangenheit viele Initiativen angestoßen. Andererseits ist es auch Deutschland bislang nicht gelungen, seine Reformanstöße mit Blick auf breitenwirksame Prozesse und Systemfragen der humanitären Hilfe in politische Wirksamkeit umzusetzen. Der Koalitionsvertrag benennt den Grand Bargain und seine Ziele nun explizit als eine der humanitären Prioritäten der neuen Koalition. Wird dies konsequent verfolgt, könnte Deutschland unter seiner ersten Außenministerin dazu beitragen, dem GB und dem humanitären Reformprojekt das zu verleihen, was zuletzt am meisten fehlte: politisches Momentum.