Agrarökologie: Ist sie die Zukunft für nachhaltige Nahrungssysteme?
Eine an natürliche Gegebenheiten angepasste Landwirtschaft erscheint zunehmend als richtungsweisend? Der Welternährungsausschuss erklärt Prinzipien, Praktiken und gibt Empfehlungen. Eine Analyse
Es wird der globalen Landwirtschaft große Anstrengungen abverlangen, für die zu erwartenden 9,1 Milliarden Menschen im Jahr 2050 genügend Nahrungsmittel zu produzieren. Zwei Milliarden mehr Menschen – das bedeutet, dass 30-50 Prozent mehr Nahrungsmittel erforderlich sind. Theoretisch gäbe es schon heute genug, aber es wird je nach regionalen Konsumverhalten an einer Stelle überproduziert und verschwendet, an anderer Stelle schlecht verteilt. Die große Frage ist somit, wie die Weltlandwirtschaft die zusätzlichen Mengen verfügbar machen kann? Deutlich zu sagen ist hierzu, dass es mit der konventionellen Landwirtschaft und den Rahmenbedingungen von heute nicht funktioniert – und erwartbar auch in der Zukunft nicht funktionieren wird.
Neben einer steigenden Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln, werden daher zunehmend Forderungen laut, die Entwicklung in Richtung einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft voranzutreiben – basierend auf einer umweltfreundlichen Produktion, ökonomisch rentabel und sozial gerecht. Auf allen Kontinenten sollen Ackerbau und Viehzucht zugleich den Klimawandel nicht länger befeuern, sich an dessen Folgen anpassen und den bedrohlichen Verlust an Biodiversität von Tieren, Pflanzen und Habitaten in Agrargebieten stoppen. Auch die Wertschöpfung für die Landwirte innerhalb der Vermarktungsketten gilt es gerechter zu verteilen.
Die Agrarökologie kann für alle diese Herausforderungen eine bedeutende Rolle spielen. Denn sie versucht, Lösungsansätze für alle Arten von Landwirtschaft zu bieten, seien sie konventionell, integriert oder biologisch, Wege für die Umstrukturierung von Vermarktungsketten, die für alle Akteure fair sind, und für die Gestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme.
Erster fundierter Expertenbericht
Das Komitee für Welternährungssicherheit (CFS) hat Experten mit einem Bericht beauftragt, wie Agrarökologie und andere innovative Ansätze für nachhaltige Landwirtschaft und Nahrungssysteme die Ernährung und Ernährungssicherheit verbessern können, um daraus Empfehlungen an Politik und Regierungen abzuleiten.
Der Bericht basiert auf einer umfassenden Recherche der heutigen Situation der Landwirtschaft und der Systeme, in denen Nahrungsmittel den Weg vom Acker zum Teller finden. Er fragt, inwieweit agrarökologische Ansätze richtungsweisend für die Zukunft sein können oder sollen. Und er stellt dies anderen Ansätzen wie der nachhaltigen Intensivierung oder einer klima-smarten Landwirtschaft gegenüber. Auch kontroverse Debatten über das Erreichen der Ernährungssicherheit werden nicht ausgespart, darunter über die Bio- und Digitaltechnologie, den Einsatz synthetischer Pflanzendünger, die Erhaltung von Biodiversität in Agrarlandschaften, über kleine oder große Betriebe, und darüber, ob die Agrarökologie die Welt ernähren kann. Von der großen Zahl an Resultaten und Schlussfolgerungen seien hier einige verkürzt vorgestellt.
Viele Landwirte und andere Akteure in Nahrungssystemen praktizieren und fördern Agrarökologie heute weltweit in verschiedenen lokal angepassten Formen. Ihre Praktiken nutzen, erhalten und steigern biologische und ökologische Prozesse in der landwirtschaftlichen Produktion, um weniger gekaufte Produktionsmittel einzusetzen, die auf fossilen Brennstoffen und Agrochemikalien basieren, und um Agrarökosysteme zu entwickeln, die diversifizierter, anpassungsfähiger und produktiver sind. (siehe Extra-Artikel).
Von Praktiken, Prinzipien und Ansätzen
Eine erschöpfende Anzahl oder Liste von Praktiken gibt es nicht, sie beruhen aber sämtlich in unterschiedlichem Ausmaß auf agrarökologischen Prinzipien: Diese beinhalten, inwieweit sie
- auf natürliche Prozesse im Gegensatz zu gekauften Produktionsmitteln wie Dünger oder Pflanzenschutz setzen
- fair und gerecht, umweltfreundlich, ihrem Standort angepasst sind, und
- einen Systemansatz beinhalten, also das Zusammenwirken von Komponenten wie etwa die Pflanzen- und Tierproduktion berücksichtigen, statt nur auf spezielle Techniken abzuzielen.
Prägnant fasst der erste umfassende Bericht 13 Prinzipen der Agrarökologie zusammen, die da sind: Recycling, verminderter Einsatz von Produktionsmitteln, Boden- und Tiergesundheit und Tierwohl, Biodiversität, Synergien erzeugen, ökonomische Diversifizierung, vereintes Erstellen von Wissen, soziale Werte und Ernährungsgewohnheiten, Gerechtigkeit, Verbindung (Connectivity) von Produzenten und Konsumenten sowie nachhaltiges, behütendes und gerechtes Management (Governance) von Land und natürlichen Ressourcen unter Teilnahme und Berücksichtigung der Interessen von Familienbetrieben, Klein- und Kleinstbauern.
Ein agrarökologischer Ansatz für nachhaltige Nahrungssysteme ist somit definiert als einer, der bevorzugt natürliche Abläufe nutzt, externe Inputs äußerst sparsam gebraucht, geschlossene Kreisläufe fördert, um negative externe Auswirkungen zu minimieren, die Bedeutung von gelebten örtlichen Erfahrungen groß schreibt, aber auch wissenschaftliche Methoden einbezieht sowie partizipativ vorgeht – und das gegen soziale Ungleichheiten.
Mit der Agrarökologie verbundene soziale Bewegungen und Bauernorganisationen sind oft als Reaktion auf landwirtschaftliche Krisen entstanden und versuchen mit einer Vielzahl von Initiativen, einen breiten Wandel in der Landwirtschaft und den Ernährungssystemen herbeizuführen. Sie bestehen auf ihren kollektiven Rechten und treten für diversifizierte, lokal angepasste Agrar- und Nahrungssysteme ein. Und sie stellen sowohl die Verbindung zwischen Agrarökologie, dem Recht auf Nahrung und Nahrungssouveränität in den Vordergrund wie auch den notwendigen politischen Kampf, um von den vorherrschenden Machtstrukturen ihrer Gesellschaft zu größerer Gerechtigkeit zu gelangen.
Führt Agrarökologie zur erstrebten Ernährungssicherheit?
In der Debatte über den Beitrag von agrarökologischen Ansätzen zur Entwicklung nachhaltiger Ernährungssysteme und -sicherheit treten drei kritische Fragestellungen in den Vordergrund:
- Wieviel Nahrungsmittel müssen produziert werden, um die Welt sicher zu ernähren? Und ist das Hauptproblem die Menge, oder eher der Zugang zu Nahrungsmitteln sowie ihre Nutzung?
- Können agrarökologische Produktionssysteme genügend Nahrung für den weltweiten Bedarf zur Verfügung stellen?
- Wie kann die Leistungsfähigkeit von Nahrungssystemen gemessen werden, wenn auch negative sozial-ökologische Folgen in die Bewertung einfließen, die bisher nur unzureichend berücksichtigt werden?
Der Bericht zeigt auf, dass schon mit der gegenwärtigen Menge viel mehr Menschen satt werden könnten, dass aber zum einen der Zugang problematisch ist, zum anderen zu viel Nahrungsmittel bei der Lagerung und Verarbeitung verloren gehen. Vor allem mit Blick auf den hohen Fleischkonsum wären Veränderungen in der Tierproduktion und in den Ernährungsgewohnheiten nötig. Zudem dürften Nahrungsmittel nicht in Biotreibstoffen verarbeitet werden. Überdies fehle es an politischer Unterstützung für die Produktionsbedingungen von Kleinbauern, die gegenwärtig bis zu 70 Prozent aller Nahrungsmittel weltweit produzieren.
In vielen Entwicklungsländern stellen kleinbäuerliche Familienbetriebe bis zu 80 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe und bilden das Rückgrat der Ernährung, obwohl sie nicht genug Flächen haben, um wirtschaftlich zu arbeiten, und von dem, was sie produzieren, oft nicht leben können, weil viele Regierungen den ländlichen Raum nicht entwickeln .
Kann das Modell genügend Nahrung produzieren?
Was Punkt zwei und die Leistungsfähigkeit agrarökologischer Produktionssysteme angeht, so beantworten viele Experten die Frage eindeutig mit ja. Gegenteilige Meinungen halten die konventionelle Landwirtschaft mithilfe von Innovationen und Biotechnologie für geeigneter, die Welt zu ernähren. Für beide gilt, dass sie den Erkenntnissen der ersten Fragestellung standhalten müssen. Und hierzu ist festzustellen, dass die konventionelle Landwirtschaft in ihrer gegenwärtigen Form es bis heute nicht schafft, eine ausreichend sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.
Zur Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern zeigt der Expertenbericht zugleich Beispiele auf, wo mit Ansätzen und Praktiken der Agrarökologie etwa die Nahrungsversorgung von Familien in kritischen Jahresphasen mit häufigen Engpässen positiv beeinflusst wird. Gleiches gilt für die Ernährung von Kleinkindern. Ein diversifizierter Anbau steigert die Ernährungsvielfalt, die wiederum die Gesundheit stärkt. Er erhöht auch die Resilienz gegenüber Klimafolgen. In weiteren Beispielen verbessert sich die wirtschaftliche Lage von Haushalten, und Frauen übernehmen stärkere Rollen.
Die dritte Fragestellung nach der Gewichtung sozial-ökologischer Folgen in der Abwägung zielführender Agrarmodelle ist wohl am schwierigsten zu beantworten und noch am wenigsten erforscht. Eine solche Leistungsbewertung muss Faktoren wie den ökologischen Fußabdruck berücksichtigen, aber auch den Faktor „Handlungsmacht“ (Agency) also die Frage, ob Einzelpersonen und Gemeinschaften überhaupt in der Lage sind, das jeweils gewünschte Nahrungsmittelsystem und die für sie erforderliche Ernährung zu definieren, geschweige denn, dafür einzutreten und den Weg dahin zu sichern.
Viele Politiker und landwirtschaftliche Akteure betrachten die Agrarökologie noch mit Skepsis. Doch schon existierende und funktionierende Beispiele zeigen realistische Möglichkeiten auf, eine künftige Landwirtschaft nachhaltig zu gestalten: Von der Kleinbauern genauso leben können wie größere Betriebe, die entscheidende Umweltbelange berücksichtigt, und die eine wachsende Weltbevölkerung mit genügend und qualitativ hochwertigen Produkten versorgt. Ein Beitrag der Politik ist hierfür jedoch unerlässlich, da den Landwirten allein diese Verantwortung nicht übertragen werden kann.
Politik soll Nahrungssysteme neu bewerten und diversifizierte fördern
Regierungen und Politik legt der Expertenbericht daher Empfehlungen nahe. So sollten bei der Leistungsbewertung von Nahrungsmittelsystemen in Zukunft relevante Parameter für Produktion und Konsum berücksichtigt werden, die auch Auswirkungen auf die Umwelt, das soziale Gefüge und die Wirtschaftlichkeit spiegeln. Insbesondere müsse der ökologische Fußabdruck verschiedener Systeme verbessert werden. Regierungen sollten diversifizierte und resiliente Systeme fördern, wie die Integration von Tierhaltung und Pflanzenzucht, aber auch Agroforstsysteme, die Biodiversität erhalten und verbessern und natürliche Ressourcen schonen.
Somit sollten Subventionen, Fördergelder und andere Anreize umgelagert werden, die Praxis von partizipativem und inklusivem Landmanagement und -planung gefördert werden, und schließlich seien internationale und nationale Regeln für genetische Ressourcen und geistiges Eigentum so anzupassen, dass Landwirte leichter Zugang zu traditionellen und lokalen genetischen Ressourcen bekommen und auch der Austausch von Saatgut von Landwirt zu Landwirt verbessert wird. Auch die Regeln und Vorschriften über den Einsatz von Chemikalien und chemischen Produkten, die schädlich für Gesundheit und Umwelt in landwirtschaftlichen und Nahrungssystemen sind, bedürften einer Überarbeitung.
Mittel für Landwirte und Forschung aufstocken
Empfohlen wird zudem die Unterstützung von innovativen Vermarktungsketten und deren Plattformen sowie von Gründerzentren im Agrar- und Nahrungssektor. Besonderes Augenmerk gebühre der Entwicklung von lokalen und regionalen Märkten, Zentren und Infrastrukturen für die Verarbeitung und direkteren Vermarktung von frischen Produkten aus der Ernte agrarökologisch produzierender Kleinbauern und mittelgroßen Betrieben.
Unter Herstellern wie Verbrauchern sollten Vereinigungen, Zusammenschlüsse und Kooperativen gefördert werden, damit diese Kapazität für Wissen und Austausch über die Anwendung agrarökologischer Innovation aufbauen und damit den Übergang zu nachhaltigen Nahrungssystemen fördern. Und schließlich mahnt der Expertenbericht einen weiteren zentralen Punkt an: Dass die Politik im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft nämlich bislang nur äußerst geringe Mittel für agrarökologisch produzierende Landwirte und agrarökologische Forschung zur Verfügung stellt. Dies sollte zumindest ausgeglichen werden, so das Fazit.