Gelder für humanitäre Hilfe: zu ungleich, zu wenig, zu langsam
So wie das System finanziert wird, kommen einzelne Krisen und Sektoren zu kurz, der Geldfluss ist träge und die Abhängigkeit von wenigen Staaten groß.
Anfang Dezember 2014 richtete das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) einen dramatischen Appell an die Welt. Es sei aus Geldnot gezwungen, die Nahrungsmittelhilfe für 1,7 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern von Syrien einzustellen und benötige dringend zusätzliche Unterstützung. Die damalige Direktorin des Programms, Ertharin Cousin, warnte: Die Hilfe zu stoppen gefährde „Gesundheit und Sicherheit der Flüchtlinge“ und könne „zu weiteren Spannungen, Instabilität und Unsicherheit in den benachbarten Aufnahmeländern führen“.
Die Folgen sollten viel weiter reichen – bis mitten nach Europa, wie wir heute wissen. Antonio Guterres, zu der Zeit UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, hielt die Kürzungen für den „Auslöser“ der Flucht einer rapide gestiegenen Zahl von Menschen nach Europa im Sommer 2015.
Die internationale humanitäre Hilfe leidet schon lange unter großen Schwächen im System ihrer Finanzierung. Einer der Gründe ist die unbefriedigende Finanzierungsstruktur der Vereinten Nationen, die neben lokalen und nationalen Akteuren die Führungsrolle in der Not- und Katastrophenhilfe spielen. Für die UN-Mitglieder gibt es von der Generalversammlung festgelegte Pflichtbeiträge – etwa zum UN-Programmhaushalt und zu Blauhelmmissionen – und es gibt freiwillige Beiträge, die ganz überwiegend die humanitäre Hilfe finanzieren. Daraus folgt eine Unterfinanzierung einzelner Krisen und Sektoren, ein zu träger Geldfluss und Abhängigkeit von wenigen staatlichen Geldgebern.
Dreh- und Angelpunkt der internationalen humanitären Hilfe ist das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) unter der Leitung des UN-Nothilfekoordinators (Emergency Relief Coordinator). OCHA arbeitet eng mit den UN-Hilfsorganisationen, vor allem WFP, UNHCR, UNICEF, WHO, UNRWA, sowie mit der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und unzähligen NRO zusammen. Die Einrichtung verwaltet den UN-Nothilfefonds (Central Emergency Response Fund), dessen Gelder ein frühzeitiges Eingreifen in Krisenlagen ermöglichen oder unterfinanzierte Krisen unterstützen.
Nur fünf Prozent der Ausgaben von OCHA kamen 2020 aus dem regulären UN-Programmhaushalt. Der Rest musste durch freiwillig gewährte Beiträge von Regierungen gedeckt werden. Diese werden immer wieder neu auf Geberkonferenzen ausgehandelt, wie 2021 unter anderem für Syrien, Afghanistan und Libanon. Ideen zu einer eigentlich notwendigen Veränderung dieser Finanzierung gibt es genügend; sie scheitern bisher an unterschiedlichen Interessen der Beteiligten in UN und Geberregierungen.
Hilfsaufrufe nehmen zu
Im Jahr 2020 startete die UN 55 humanitäre Hilfsaufrufe (2019: 36). Obwohl die Zahl zum Vorjahr ebenso anstieg wie die Zahl der Menschen in humanitären Notlagen oder von Binnenvertriebenen, stagnierten die humanitären Hilfszahlungen von Regierungen und EU für nicht COVID-bezogene Programme bei 24,1 Mrd. US-Dollar. Das lag auch daran, dass Großbritannien seine Beiträge um fast ein Drittel und Saudi-Arabien seine um mehr als die Hälfte kürzte. 14 von 20 Gebern steigerten ihre Beiträge, vor allem Deutschland (um 29 Prozent). Diese enthielten allerdings auch COVID-bezogene Zahlungen. Auch die Beiträge von privaten Spendern stagnierten 2020 bei 6,7 Mrd. US-Dollar.
Alle 55 Hilfsappelle zusammen, von denen 17 sich ausschließlich auf COVID-Programme bezogen, beliefen sich auf 38,8 Mrd. US-Dollar. Davon wurden nur 52 Prozent finanziert; bei den COVID-Nothilfen sogar nur 40 Prozent.
Wichtigste Geldgeber auf Regierungsseite waren im vergangenen Jahr in dieser Reihenfolge die USA, Deutschland, die EU, Großbritannien, Schweden, Niederlande, Norwegen, Kanada, Saudi Arabien und die Schweiz. In den Tabellen taucht häufig die Türkei als zweitgrößter Geber auf; jedoch beziehen sich die Zahlen im wesentlichen auf die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei und sind mit den Zahlen anderer Geber nicht vergleichbar.
Die zehn größten Empfänger humanitärer Hilfe (Syrien, Jemen, Libanon, Südsudan, DR Kongo, Somalia, Sudan, Äthiopien, Türkei und Irak) erhielten 2020 mehr als die Hälfte (57 Prozent) der gesamten Hilfen. Für humanitären Bedarf jenseits von COVID-Programmen kamen fast zehn Prozent oder 3 Mrd. US-Dollar weniger als 2019 zusammen. Am stärksten war der Jemen von den Kürzungen betroffen.
Wer verteilt die Mittel?
Insgesamt erreichten die internationalen humanitären Leistungen von Regierungen, der EU und privaten Geldgebern im Jahr 2020 30,9 Mrd. US-Dollar. Der Großteil der staatlichen Zuwendungen floss in multilaterale Organisationen wie dem WFP, ein kleinerer, wenn auch substanzieller Teil an NRO. Für Deutschland – mit insgesamt 3,7 Mrd. Dollar längst ein Schwergewicht der humanitären Hilfe – vergibt das Auswärtige Amt fast drei Viertel seiner Mittel an UN-Agenturen, 13 Prozent an NRO und 12 Prozent an Rothalbmond- oder Rotkreuzorganisationen. Innerhalb der Bundesregierung ist das Auswärtige Amt in erster Linie zuständig. Auch das Entwicklungsministerium (BMZ) vergibt mit der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe aber humanitäre Gelder.
Weltweit vergeben private Geldgeber wie Stiftungen, Unternehmen oder Spender fast ihre gesamten Finanzierungen (2020: 6,75 Mrd. US-Dollar) an NRO und nur etwa zehn Prozent an multitilaterale Agenturen.
Multilaterale Entwicklungsbanken spielen eine zunehmend wichtige Rolle im Kontext von Krisen; sie haben spezifisch ausgestattete Finanzmechanismen für Krisenländer ausgebaut, an die sie in wachsendem Ausmaß Kredite vergeben. So drängen weitere Akteure in die humanitäre Arena und verschärfen den Wettbewerb um Ressourcen unter den multilateralen Akteuren weiter. Die Finanzierung der humanitären Hilfe vorausschauender, verlässlicher und unabhängiger von politischem Druck und medialer Präsenz zu machen, bleibt eine große Aufgabe der nächsten Jahre.
Quellen:
Development Initiatives: Global Humanitarian Assistance Report 2021: devinit.org/resources/global-humanitarian-assistance-report-2021/
OCHA: Global Humanitarian Overview 2021: https://www.unocha.org/sites/unocha/files/GHO_Monthly_Update_31MAY2021.pdf
OCHA Financial Tracking Service: https://fts.unocha.org/
Reliefweb: https://reliefweb.int/topics/humanitarian-financing
Dieter Reinhardt: Finanzierung der humanitären UN-Hilfe, Friedrich-Ebert-Stiftung, Mai 2019 https://library.fes.de/pdf-files/iez/15426.pdf