UN-Gipfel zu Ernährungssystemen: kein Systemwandel in Sicht
Ein mit hohen Erwartungen gestarteter Prozess endet in Minimallösungen. Worauf es jetzt ankommt.
Weltweit werden mehr Lebensmittel produziert als je zuvor. Trotzdem steigen die Hungerzahlen seit sechs Jahren wieder und drohen sich bis 2030 sogar der Milliardengrenze zu nähern. Der UN-Gipfel zu Ernährungssystemen, der am 23. September in New York stattfand, sollte diesen Widerspruch angehen – er endet mit nur mäßigem Erfolg. Eine Bilanz.
Hunderte Akteure haben sich in den vergangenen 18 Monaten in unzähligen Online-Treffen beraten, Arbeitsgruppen gegründet und Vorschläge zu Papier gebracht. Nahezu tausend Dialogveranstaltungen wurden abgehalten. Einen dreitägigen Vorgipfel in Rom Ende Juli verfolgten fast 22.000 Interessierte. Ende September schließlich folgten die 157 Delegierten der UN-Mitgliedsstaaten der Einladung von UN-Generalsekretär António Guterres und trafen sich virtuell im Rahmen der Generalversammlung zum ersten UN-Gipfel zu Ernährungssystemen.
Der Zeitpunkt des Gipfels hätte nicht besser gewählt sein können: Der Klimawandel und bewaffnete Konflikte machen die Erfolge in der Hungerbekämpfung zunichte, die Corona-Pandemie wirkt zusätzlich als Brandbeschleuniger und hat schon Millionen von Menschen ihrer Ernährungssicherheit beraubt. Bereits vor der Pandemie war die Zahl der an chronischem Hunger leidenden Menschen aber wieder stark gestiegen. Und während 811 Millionen Menschen hungern, ist jeder dritte Mensch mittlerweile übergewichtig oder fettleibig (FAO 2021). Es ist also höchste Zeit, unser Ernährungssystem – die Art, wie wir Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, handeln und konsumieren – grundlegend zu transformieren.
Hunger: ein komplexes Problem
Eine Analyse dieses Systems zeigt, dass es ungerecht und nicht nachhaltig ist: Es werden weltweit – basierend auf Kilokalorien – zwar ausreichend Lebensmittel produziert, jedoch nicht genügend gesunde Lebensmittel. Hunger ist meist kein Problem der Verfügbarkeit, sondern des Zugangs. 40 Prozent der Weltbevölkerung fehlen ausreichend finanzielle Mittel, um sich eine gesunde Ernährung zu leisten (FAO 2021). Darunter ebenfalls Kleinbauern oder Landarbeiter_innen im Globalen Süden, die auch unsere Nahrungsmittel produzieren. Bewaffnete Konflikte, wie zum Beispiel in Syrien oder dem Jemen, wie auch die eskalierende Klimakrise verschärfen die Situation zusätzlich. Die Betroffenen haben keine Reserven (mehr) und rutschen in akute Hungerkrisen ab.
Unser Ernährungssystem leidet unter dem Klimawandel, befeuert ihn aber auch weiter: Es ist für etwa ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich (The Lancet 2019). Die Landwirtschaft ist zugleich ein Haupttreiber für den Verlust der weltweiten Biodiversität. Veränderte Landnutzungen, intensive Anbaumethoden, Massentierhaltung und andere Praktiken führen zu massiven ökologischen Schäden (Ebda.)
Das zweite UN-Nachhaltigkeitsziel (SDG 2), den Hunger bis zum Jahr 2030 zu überwinden, ist kaum noch zu erreichen. Seit Jahren drängen zahlreiche Akteure darauf, das globale Ernährungssystem so aufzustellen, dass es gerecht, nachhaltig und krisenfest wird, was auch die Verwirklichung des Menschenrechts auf angemessene Ernährung einschließt.
Folglich hatte António Guterres für den UN-Ernährungsgipfel ambitionierte Ziele definiert: Es sollte ein historischer Moment werden, ein Gipfel, der mutige neue Maßnahmen einleitet, um den Negativtrend bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele umzukehren. Ein Gipfel, der konkrete Lösungen ausformuliert und weitgehende Verpflichtungen hervorbringt. Und er sollte integrativ sein – ein People’s Summit. Leider konnte der Gipfel diese selbst gestellten Erwartungen nicht erfüllen, sie waren wohl zu hoch gegriffen.
Beliebigkeit statt Verbindlichkeit
Das Ergebnis setzt maßgeblich auf freiwillige Verpflichtungen seitens ganz unterschiedlicher Akteure. Von NGOs bis zu multinationalen Konzernen wurden alle Interessierten aufgefordert darzulegen, wie ihr Beitrag zur Verbesserung des Ernährungssystems aussehen wird. Wie diese Selbstverpflichtungen allerdings nachgehalten werden, bleibt völlig unklar.
Durch die Ansprache unterschiedlicher Akteursgruppen ohne Berücksichtigung ihrer jeweiligen Rollen besteht die Gefahr, dass sich Regierungen aus der Verantwortung stehlen und die Ergebnisse des Gipfels hinter bereits eingegangene Verpflichtungen und Abkommen, wie die UN-Nachhaltigkeitsziele und die Vereinbarungen des Pariser Klimaabkommens zurückfallen. Es sind jedoch die Regierungen, die sich völkerrechtlich verpflichtet haben, alles zu tun, damit alle Menschen Zugang zu ausreichender und gesunder Ernährung haben. Sie müssen auch die Rahmenbedingungen definieren, innerhalb derer sich z.B. Unternehmen an der Umgestaltung von Ernährungssystemen beteiligen sollen.
Es hat sich gezeigt, dass dieser globale Multi-Stakeholder-Prozess nicht zu verbindlichen Vereinbarungen führen konnte. Umso wichtiger ist es nun, dass sich auf nationaler und lokaler Ebene transparente und partizipative Prozesse zur Politikgestaltung und Entscheidungsfindung anschließen. Ein ausuferndes Ankündigungspotpourri nach dem Motto „alles kann, nichts muss“ mag ein gutes Aushängeschild für die Veranstalter sein, aber es wird nicht den Weg aus unseren multiplen Krisen ebnen.
Minimallösungen statt Systemwechsel
Im Vorbereitungsprozess des Gipfels wurden eine Fülle von Lösungsansätzen vor allem für die Überwindung von Hunger und Fehlernährung sowie für die nachhaltige Nutzung unserer natürlichen Ressourcen erdacht und erarbeitet. Auf dem Vorgipfel Ende Juli wurde aber klar: Die Probleme sollen jeweils in den Ländern gelöst werden. Alle Staaten wurden aufgefordert, Nationale Aktionspläne dafür zu erarbeiten, wie sie die in ihrem Land identifizierten Schwachstellen im Ernährungssystem angehen wollen.
Zwar ist es wichtig und richtig, kontextspezifische Lösungen zu entwickeln, der einseitige Fokus auf Nationalstaaten negiert jedoch globale Zusammenhänge. Diese übergeordneten Aspekte wurden beim Gipfel dann auch weitestgehend ausgeblendet: So wurde zum Beispiel die Frage, wie die bestehenden und sich vergrößernden Machtungleichgewichte im globalen Handels- und Finanzsystem abgebaut werden können, weitestgehend ausgeblendet. . Diese begrenzen jedoch die Handlungsspielräume von Ländern mit niedrigeren Einkommen bei der Umgestaltung ihrer Ernährungssysteme.
Diese komplexen Themen müssen aber auf multilateraler Ebene zentral adressiert werden – dafür wurden die Vereinten Nationen einstmals gegründet. Was wir sehen ist der Versuch, das existierende System effizienter auszugestalten – dies wird aber nicht reichen, um allen Menschen auch der kommenden Generationen eine angemessene Ernährung zu ermöglichen.
Worauf es jetzt ankommt
Der Gipfel war ein wichtiger Auftakt. Allein schon die Tatsache, dass sich eine Vielzahl von Akteuren erstmalig auf höchster Ebene mit „Ernährungssystemen“ beschäftigte, ist ein Erfolg – wenn auch ein den großen Ankündigungen unangemessener. Er kann aber nur der Beginn eines wirklichen Systemwechsels sein. Die Nationalen Aktionspläne müssen sich daran messen lassen, ob sie die Situation der Menschen verbessern, die von den ökologischen und sozialen Folgekosten des globalen Ernährungssystems am stärksten betroffen sind: nämlich Kleinbauern und Kleinbäuerinnen sowie indigene und andere sozial benachteiligte Gruppen. (Siehe auch das Interview zum Engagement in Kenia). Repräsentantinnen und Repräsentanten dieser Gruppen müssen an der Ausgestaltung der Aktionspläne angemessen beteiligt werden und in der Lage sein, ihre Regierungen beim Wort zu nehmen.
Regierungen im Globalen Norden und Süden müssen Ansätze erarbeiten, die gezielt zur Vermeidung von externalisierten (wahren) Kosten beitragen, für die die Gesellschaft langfristig einen hohen Preis zahlen muss. Hierzu gehören Bodendegradierung, Wasserverschwendung, Menschenrechtsverletzungen oder Fehlernährung, um nur einige zu nennen. So sollten Regierungen beispielsweise steuerliche Anreize, wie Agrarsubventionen, so umwidmen, dass Agrarsysteme bevorzugt werden, die einen Beitrag zu Umwelt- und Klimazielen sowie zur Bereitstellung bezahlbarer und gesunder Lebensmittel leisten.
Aufgaben der neuen Bundesregierung
Auch hierzulande müssen konkrete Veränderungsschritte eingeleitet werden. Die neue Bundesregierung sollte die Initiative für eine institutionalisierte Politikfolgenabschätzung ergreifen, die prüft, inwieweit sich Gesetze oder politische Initiativen auf Ernährungssysteme im Globalen Süden und auf das Recht auf Nahrung benachteiligter Gruppen auswirken. Die Anlage von großen Monokulturen zur Bioenergieproduktion, als Ersatz fossiler Brennstoffe, kann dort beispielsweise zur Zerstörung von natürlichen Wäldern oder der existenzgefährdenden Vertreibung von lokalen Gemeinschaften von ihrem Land führen (von Grebmer et al 2019). Solche Zielkonflikte müssen offen diskutiert und um die bestmögliche Lösung unter Achtung der Menschenrechte gerungen werden.
Auf der anderen Seite muss stärker herausgearbeitet werden, wie verschiedene Ziele, zum Beispiel zu Klimaschutz, Erhaltung der Biodiversität, Gesundheit und Ernährungssicherheit sich gegenseitig verstärken könnten. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung könnte hier als interdisziplinäres Beratungsgremium der Bundesregierung eine stärkere Rolle spielen.
Handlungsbedarf besteht jedoch über die nationalstaatliche Ebene hinaus. Die Erarbeitung eines verbindlichen UN-Vertrags zu Wirtschaft und Menschenrechten wäre ein Meilenstein, um menschenrechtliche Sorgfaltspflichten, Umwelt- und Sozialstandards in globalen Lieferketten der Nahrungsmittelindustrie durchzusetzen. Im Rahmen der Europäischen Union sollte sich die Bundesregierung für ein ambitioniertes europäisches Lieferkettengesetz einsetzen, das Unternehmen zur Einhaltung des Menschenrechts auf Nahrung verpflichtet . So darf sich die Produktion landwirtschaftlicher Güter wie Palmöl, Soja oder Avocados für den Export nach Europa nicht negativ auf die Ernährungssicherheit von Kleinbauernfamilien, Landarbeiter_innen und der umliegenden Gemeinden auswirken.
Auch muss die Umsetzung der nationalen Aktionspläne, die auf Länderebene zur Transformation der Ernährungssysteme erarbeitet werden, finanziert werden. Gerade Länder mit niedrigen Einkommen (LIC) haben hier kaum Spielräume. Infolge der Covid-Pandemie sind sie häufig noch tiefer in die Schuldenkrise gerutscht und haben wenig Möglichkeiten, notwendige Investitionen in die Umgestaltung ihrer Ernährungssysteme zu tätigen. Hier gilt es, Lösungen im Rahmen multilateraler Foren wie den Vereinten Nationen oder der Industrie- und Schwellenländergruppen G20 und G7 zu finden.
Um die Transformation unserer Ernährungssysteme voranzutreiben, braucht es also ambitionierte Schritte auf verschiedenen Ebenen – von der lokalen, über die nationalstaatliche bis zur globalen Ebene. Die Herausforderung besteht in nichts Geringerem, als Rahmenbedingungen zu schaffen, die es zukünftig auch zehn Milliarden Menschen ermöglichen, sich gesund zu ernähren, ohne die Umwelt zu zerstören und die Klimakrise zu verschärfen.
Quellen:
FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO. 2021. The State of Food Security and Nutrition in the World 2021.
Transforming food systems for food security, improved nutrition and affordable healthy diets for all. Rome, FAO. doi.org/10.4060/cb4474en
The Lancet. 2019. The Global Syndemic of Obesity, Undernutrition, and Climate Change: The Lancet Commission Report. https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(16)30054-X.pdf
K. von Grebmer, J. Bernstein, R. Mukerji, F. Patterson, M. Wiemers, R. Ní Chéilleachair, C. Foley, S. Gitter, K. Ekstrom, und H. Fritschel. 2019. Welthunger-Index 2019: Wie der Klimawandel den Hunger verschärft. Bonn: Welthungerhilfe; Dublin: Concern Worldwide.